Sin City 680

Sin City, 2005 © The Walt Disney Company (Germany)

 

Im Reich der Schatten

Von Das Kabinett des Dr. Caligari bis Drive

Lieber Benedikt Taschen, bitte machen Sie das nie wieder. Bild- und Druckqualität wie so oft in Ihrem Verlag: absolut exzellent. Aber die Schrift! 668 Seiten Negativsatz auf schwarzem Fond. Ich weiß, das machen Sie öfter in Ihren Büchern. Aber jetzt reicht’s. Das ist zu viel an gestalterischem Niedergang. So machen Sie Ihre Produkte unlesbar.

Bibel mit Sündenfall

Ein Verlag, der wichtige Bücher über Typografie, Illustration und Gestaltung veröffentlicht, tritt gestalterisch auf Volontärsniveau auf. Der alte Grundsatz des Büchermachens heißt nicht umsonst: „Typographie ist Arbeit mit der weißen Fläche.“ Die Ästhetik von Schriftart, Schriftgröße, Satzbreite und Zeilenabstand wird nicht obsolet, wenn die Grundfläche schwarz ist. Im Gegenteil, das steigert den Schwierigkeitsgrad. Sie aber dulden/ machen/ verkaufen – ja, Ihre Preise nehmen wir gerne, das ist wirklich Demokratisierung von Kunst und Kultur –gestalterische Billiglösungen und eine Belanglosschrift auf einem Satzspiegel, dessen einzige Maxime die Platzoptimierung zu sein scheint, so eng stehen die Spalten zusammen, so grotesk spationiert sieht das dann in Teilen des Registers aus. All die redaktionelle Arbeit für 100 Zusatzkästen (unten dazu weiter mehr), und dann Schriftgröße 7 Punkt und seitenbreite Zeilen, man bekommt Sehstörungen als Leser. Vom gestalterischen Magenweh zu schweigen. Klar, es ist ein Filmbuch zu überwiegend Schwarzweißfilmen.

seite aus dem Buch 680

Abbildungen daraus auf Schwarz zu stellen, liegt nahe, wobei Fotobücher aus vielen anderen Verlagen zeigen, dass Fotos und Schrift auf weißem Grund einfach edel stehen. Gewiss macht das die Anforderungen an das Layout-Team höher. Ein Kostenfaktor? Ansonsten macht das Buch ja vieles richtig.

Erstaunliche Bücher zu erschwinglichen Preisen

Dick wie eine Bibel ist diese Huldigung an die Hölle auf Erden, an das Schwarze in der Menschen- und Zivilisationsseele, an den Film noir. „100 All-Time Favorites“ versammelt auf 668 Seiten wichtige Filme vom „Cabinett des Dr. Caligari“ (1920) bis zur James-Sallis-Verfilmung „Drive“ (2011). Mit überschlägig 1500 Fotos illustriert, ist dies eine neue Großtat aus dem Verlag Taschen, wo man mit internationalisierten Großauflagen und „Printed in China“ die erstaunlichsten Bücher zu erschwinglichen Preisen unter die Leute bringt und manche ehrfurchtgebietende Sonderedition stemmt.

Nun also „Film Noir“, längere Zeit angekündigt, immer wieder verschoben, Redaktionsschluss scheint 2012 gewesen zu sein. Der ursprüngliche Herausgeber Paul Duncan, ein britischer Tausendsassa mit ausgewiesenem Crime-Hintergrund, bekam einen zweiten hinzu, nämlich Jürgen Müller, der an der TU Dresden Mittlere und Neuere Kunstgeschichte lehrt und bei Taschen die Dekaden-Filmbuchreihe betreut (zuletzt „Filme der 2000er“). Müller hat sich eine ganze Autorenriege geholt: den Filmpublizisten Robert von Berg, einige Wissenschaftler und ein gutes Dutzend Filmstudenten (?), dazu bewährte Kenner wie Alain Silver und James Ursini, die zusammen die inzwischen auf fünf Bände angewachsene substantielle Reihe „Film Noir Reader“ machen.

film noir cover 680

Drei Kilo auf der Waage, Paul Schrader wiegt mit Gramm

„Film Noir 100 All-Time-Favorites“ oder „100 Klassiker des Film noir“, das Buch ist im Versandbuchhandel nicht überall einfach zu finden, ist nun bei weitem nicht das erste Buch zu diesem Sujet. Gewiss aber das gewichtigste, dies nicht nur wegen der gut drei Kilo, die es auf die Waage bringt. Es ist eine Seh-Erfahrung, und wenn man über die Leseprobleme hinweg sieht, eine Fundgrube.

Eingeleitet wird der Band von Paul Schraders „Notizen zum Film Noir“ aus dem Jahr 1972. Schon immer hat mich darin gestört, warum der Autor von „Taxi Driver“ darin Robert Warshow vorhalten muss, 1949 in seinem Text „Der Gangster als tragischer Held“ seine Aufmerksamkeit einem angeblich niedergehenden Genre gewidmet zu haben anstelle des (damals begrifflich noch gar nicht fassbaren) Film noir. Warshows Text – gerade auch samt seiner gesamtenUnmittelbare Erfahrung“ auf Deutsch erschienen gehört klar zum Kanon der Film-noir-Texte. Schrader ansonsten aber: völlig okay.

Ich hätte mir bei Taschen endlich eine deutsche Übersetzung des Franzosen Raymond Durgnat gewünscht, der 1970 einen Familienstamm des Film Noir entwarf (Paint it Black: The Family Tree of the Film Noir). Mitherausgeber Jürgen Müller stellt in seinem Essay „Verkantungen, Unschärfen und Verunsicherungen in Orson Welles’ ‚The Lady from Shanghai‘“ stattdessen eine mustergültige Filmanalyse vor. Douglas Keesey bietet eine Einführung in den „Neo-Noir“.

100 Kästen Zusatzinformationen – im Kleindruck

Die Filmauswahl spannt sich von Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) bis zu Nicolas Winding Refns „Drive“ (2011). Aus Deutschland kommen ansonsten nur noch Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) und „Es geschah am hellichten Tag“ (1958) von Ladislao Vajda. Peter Lorres „Der Verlorene“ von 1951 zum Beispiel fehlt, ein niederschmetternd düsteres Bild der deutschen Nachkriegszeit, die mit Schuld und Traumata nicht umgehen kann.
Doch ist es letztlich müßig, über Filmauswahl zu streiten. Der Film noir – mehr ein Stil als ein Genre, oder um es mit Paul Schrader zu sagen: „Das Wie ist wichtiger als das Was“ – ist ein weites Feld. „1000 Films Noirs und Neo-Noirs aus der ganzen Welt von 1920 bis 2012“ bietet ein leider schwer lesbares Register am Ende der Taschen-Bibel an.Der Filmhistoriker Hans Helmut Prinzler, ehemals Vorstand der Stiftung Deutsche Kinemathek, hat den Band mit dem von Norbert Grob herausgegeben „Filmgrenres: Film noir“ aus dem Reclam-Verlag verglichen. Von den dort analysierten 71 Filmen finden sich ganze 24 in der Taschen-Bibel.

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Peter Lorre in Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931)

Vier bis acht Seiten hat jeder der 100 ausgewählten Filme. Es gibt das Plakat und Credits, ein Zitat aus dem Film (oft in Englisch) und eine prägnante Pressestimme – oft sehr sexy – einen Text zum Film, einen Kasten mit einem weiterführenden Thema und viele Abbildungen. Von diesen 100 kleine Kästen – diese Information verdanke ich Hans Helmut Prinzler widmen sich 86 Personen (37 Regisseure, 14 Autorinnen und Autoren, 20 Schauspieler, sechs Schauspielerinnen, fünf Kameramänner, ein Komponist, ein Cutter) und 14 weiteren Themen: Boxen im Film Noir, Detektivfilme, Dokumentarischer Noir, Einsamkeit / Melancholie / Entfremdung, Femme fatales, Filme des deutschen Expressionismus, Film-Psychopaten, Japanischer Noir, Journalismus und Film Noir, Liebende auf der Flucht, Neo-Noir, Noir-B-Movies, Polizisten im Noir, Die Schwarze Liste. Leider sind all diese Zusatzinformationen nicht im Inhaltsverzeichnis erschlossen und wie gesagt, in doppelspaltig breiter, beinahe kriminell kleiner Schrift gedruckt.

Shellshock-Cinema

Um die Kritik an der Ausstattung abzuschließen: Man muss die deutschen Titel kennen, um einen Film im alphabetischen Register zu finden. Dass das Titelbild des Buches, die Frau auf der Wendeltreppe, aus einem Film des deutschstämmigen Robert Siodmak stammt, verschweigt der Bildhinweis, wie insgesamt der Einfluss des deutschen Kinos des Expressionismus und der Filmemigranten auf den Film Noir nur sehr marginal erwähnt wird: im kleinen Kasten auf Seite 53. „Shellshock Cinema“ nennt der Filmhistoriker Anton Kaes die deutschen Filme der Weimarer Republik.

Recht klein gehalten wird auch die „Blacklist“, der Vernichtungskampf der Konservativen gegen die „subversiven Elemente“ des Film Noir in Gestalt von Hexenjagd und HUAC (House Un-American Activities Committee), das faktische Berufsverbot für viele Akteure. Hedda Hopper, die einflussreiche Klatschkolumnistin, forderte damals „Konzentrationslager für die Roten, ehe es zu spät ist“. Abraham Polonskys „Force of Evil“ (Die Macht des Bösen, 1948) wird im Buch vorgestellt, einer der wichtigsten Noirs, das Drehbuch vom Marxisten Ira Wolfert. Die Verbannung dieses Talents, Kommunisten und OSS-Kriegshelden (wie Sterling Hayden) dann im kleingesetzten Kasten mager abgehandelt.

Die Wurzeln des Noir

Insgesamt aber ist dieses Buch Großes Kino. Eine Feier jener Filme, die uns ins Dunkel stürzen, um ein wenig vom Licht ahnen zu lassen. Noir als literarischer wie filmischer Ausdruck entstand in den Wurzeln nach dem Schrecken des Ersten und im Nachhall des Zweiten Weltkriegs, im Zerstieben des amerikanischen Traums, in Desillusionierung und Fatalismus, in einer Welt der traumatisierten Kriegsveteranen und des rücksichtslos gewordenen Überlebens. Film noir, das ist: Ende des Idealismus. Das Realisieren der Banalität des Bösen, das Wissen um Waffen, die unterschiedslos und massenhaft töten können, das Zeitalter einer neuen Angst und unbestimmter Feinde, der zu Tage tretende Betrug einer laut Werbung schönen neuen Welt, eines guten Lebens für alle – subsummieren wir das unter „American dream“ –, der Verfall von Idealen, die Scham von Filmregisseuren und Drehbuchautoren, an zu viel Zuckerwatte mitgewirkt zu haben, und dann die Erfahrung, wie die Linken in der Filmindustrie aussortiert wurden, all das war ein heftiger Packen von Trauer und Reue, der sich da über manche Filme schwang. Film noir macht sogar das Unbehagen am Kinogehen selbst zum Thema, stellt die Gewissheiten des eigenen Mediums in Frage – kein anderes Filmgenre (ich sage einfach: Genre, so wie das auch ein David Thomson tut) fordert die Wahrnehmungs- und Urteilskraft seiner Zuschauer so sehr heraus, sabotiert den einfachen Genuss.

Abraham Polonsky, der „Dangerous Citizen“, sagt in dem schönen Band „The Big Book of Noir” im Interview: „I don’t know what inspired it. They were just melodramas, with perhaps a more intense tone running underneath. If you want an answer, think of what had been gone on. An extraordinary terrible war. Concentrations camps, slaughter, atomic bombs, people killed for nothing. That can make anybody a little pessimistic.“

Film noir ist ein Genre, das zugibt, dass wir Verlierer sind. Hammett und Chandler haben gewiss den „chat“ des Noir bereichert. Hard-boiled-Figuren können noir sein, meist sind sie aber robuster als die Neurotiker des Noir. Otto Penzler, der New Yorker Verleger und Herausgeber zahlreicher Anthologien, u.a. zusammen mit James Ellroy „The Best Noir of the 20th Century“, zieht eine klare Linie zum Privatdetektiv, Noir-Helden suchen den falschen Gral:

„I specifically reject the private eye story as a form of noir because the two subgenres of crime fiction could not be more diametrically opposed from a philosophical point of view. The characters, especially the protagonists, in noir fiction are fatally flawed by their greed, lust, or jealousy. They are so egotistical that they will do anything at all to get the money or the girl or the revenge they seek, eschewing honor, decency and legality in their blind quest for their selfish goal. Of course, they are doomed, because they have chosen the wrong grail and the wrong way to get it.
In the private detective story, the central figure is a hero who will go to extreme lengths to see justice done, to protect his client, or to simply do his job. Characters in noir fiction have no idea what is right and what is wrong. Private eyes always do. Sam Spade noted that when a man’s partner is killed, you’re supposed to do something about it. Raymond Chandler more poetically compared him to a knight who may walk the mean streets but is himself not mean.“

Und wer hat’s erfunden?

Wie viele, die sich schon daran versuchten, hat auch Otto Penzler seine Probleme mit der Definition:
„Like art, love, and pornography, noir is hard to define, but you know it when you see it. Noir stories are bleak, existential, alienated, pessimistic tales about losers-people who are so morally challenged that they cannot help but bring about their own ruin.“ Dennis Lehane nannte das „Die Verweigerung sich in moralischer Zufriedenheit einzurichten.“

Und wer hat’s erfunden? Die Deutschen gaben den Stil, die Franzosen den Namen, aber die Amerikaner hatten die Geschichten. Noch einmal Otto: „I think the Germans invented film noir as a visual style. The French gave it a name. But the Americans created the fiction, mostly finding its roots in the despair and casual or desperate criminality of the lower classes during the Great Depression.“

Das Buch übrigens, das den Begriff prägte, erschien zwar 1955 in Paris, wurde aber erst 2002 ins Amerikanische übersetzt: Raymond Bordes & Etienne Chaumetons „A Panorama of American Film Noir: 1941-1953“. Was sie als „noir“ sahen, das war „oneiric, strange, erotic, ambivalent, cruel“.
Oneiric bedeutet traumähnlich. Nicht nur die Zeit ist aus den Fugen im Film noir, oft auch die Erzählperspektive. Glaubwürdigkeiten werden erschüttert, Erwartungen untergraben. „Nobody ever really escapes“, heißt es im Gefängnisrevolten-Noir „Brute Force“ .
Noir, das ist ein vitales Element des Kinos – wie auch der Literatur. „Film noir ist für das Kino das, was der Blues in der Musik ist – das einzige, das zählt“, meinte einmal Wim Wenders, der trotz seiner Noir-Filme „Der amerikanische Freund“ und „Hammett“ hier fehlt.

Noir für mich akustisch, das ist die Musik Bernhard Herrmanns und das Saxophon in Scorseses „Taxi Driver“.


Der Komponist Bernard Herrmann schrieb Filmscoregeschichte. Hier ein Beispiel aus Hitchcocks PSYCHO.

Vergessen wir die Worte, halten wir es mit Louis Armstrong: „If you have to ask what jazz is, you’ll never know…“

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PS. Eines der Fundstücke aus dem Buch: Kurt Tucholskys Kritik des „Dr. Caligari“ aus der „Weltbühne“: „Und wieder zeigt sich, wie das Geahnte schrecklicher ist als alles Gezeigte. Mit unserer Fantasie kann kein Kino mit.“ Neulich sah ich den digital restaurierten und nun der Originalfassung nahen Film wieder – ein jeden Boden zerfräsender, dunkler Film, der auch die Zuschauer des Juli 2014 verstört aus dem Kino entließ.

PPS. „In einer Welt, in der es nur Gewinner gibt, was sollen da die Verlierer tun?“, lässt Sam Peckinpah Steve McQueen im Rodeo-Film „Junior Bonner“ (1971) sagen.

PPPS. Der in Österreich-Ungarn geborene Johann Altmann war einer der wichtigsten Kameramänner des Film noir, sein Buch „Painting with Light“ eines der ersten, das von einem Kameramann geschrieben wurde. Eine kleine John Alton-Retrospektive gibt es hier und hier.

Alf Mayer, 09. 08 2014

Dieser Text ist zuerst erschienen auf culturmag.de

 

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Paul Duncan, Jürgen Müller: 100 Klassiker des Film noir

(Film Noir, 100 All-Time Favorites)

Verlag Taschen, Köln 2014

688 Seiten. 39,95 Euro

 

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