Polit-Kino in Locarno

Locarno hat immer das politisch engagierte Kino gepflegt – mitunter auf eine Art, die, gelinde gesagt, überzogen anmutete. Zu Zeiten der künstlerischen Leitung von Irene Bignardi etwa war Politik nahezu alles, Filmhandwerk, gar Filmkunst hingegen Mangelware, allenfalls Draufgabe. Das hat sich schon unter Frederic Maire geändert, und Olivier Père macht damit offenkundig endgültig Schluss. Das politische engagierte Kino aber, so es künstlerisch interessant ist, scheint auch ihm am Herzen zu liegen. Gut so – im Kampf an den Kinokassen braucht das engagierte Kino jede Unterstützung; und die Werbung, die von einem Festivalerfolg ausgeht, sollte nicht unterschätzt werden.

Aufregendster gesellschaftskritisch engagierte Film im Internationalen Wettbewerb in den ersten zwei Festival-Tagen: „Vol spécial“ („Spezialflug“), eine Dokumentation aus der Schweiz. Der Film, der ohne jeden Kommentar auskommt, allein mit Originaldokumentaraufnahmen in Bild und Ton arbeitet, zeigt Alltag im so genannten „Ausschaffungszentrum“ Frambois in Genf. Hier leben Menschen, ähnlich wie in einem Gefängnis, die auf ihre Zwangsausweisung aus der Schweiz warten. Die meisten der fünfundzwanzig stammen aus afrikanischen Staaten, manche aus dem Kosovo. Fast alle sind brave Bürger, sie haben Familien, sie hatten Arbeit, zahlten Steuern, Alters- und Krankenversicherung. Nur eins haben sie nicht: eine zeitlich unbeschränkte Aufenthaltsgenehmigung. Sie haben illegal in der Eidgenossenschaft gelebt. Nun warten sie darauf, rausgeschmissen zu werden. Spektakuläre Szenen gibt es kein. Im „Ausschaffungszentrum“ hat alles seine Ordnung. Nur einmal bricht das Grauen ein: Via TV-Bildern wird davon berichtet, dass ein Mensch, der mit einem „Sonderflug“ außer Landes gebracht werden sollte, unter ungeklärten Umständen starb. Einer aus Frambois musste das miterleben, denn auch er sollte mit demselben Flug verschwinden. Er kommt zurück. Die Fassungslosigkeit, die sich in wenig Worten und Gesten der Hilflosigkeit äußert, sagt mehr als es alle Pamphlete könnten – über eine Gesellschaft, die Menschlichkeit predigt, diese aber in schwierigen Fällen durch Paragraphen ersetzt. Dadurch, dass der Film auf jeden offenkundigen Autorenkommentar verzichtet, erreicht er eine aufwühlende Kraft. Allerdings provoziert er auch Ratlosigkeit. Denn über die Zustandsbeschreibung geht der Film nicht hinaus. Damit verschenkt er sich einiges, auch an Potential zur Provokation.

Im Wettbewerb „Cineasti del presente“ war der bisher politisch spannendste Film aus einem der Wettbewerbs-Programm zu entdecken: „Señorita“ (Philippinen). Der in New York lebende philippinische Regisseur und Schauspieler Vincent Sandoval erzählt vom verzweifelten Kampf einer Transsexuellen, die aus ihrem Leben als Prostituierte herauskommen will. Eine Chance dazu bietet sich dadurch, dass sie für eine Freundin, die ins Ausland zum Arbeiten geht, die Mutterrolle übernimmt und deren zwölfjährigen Sohn in einer abgelegenen Kleinstadt, wie sie glaubt, fern von Manilas kriminellem Milieu, betreut. Doch der Glaube täuscht. Auch hier ziehen die Großgangster die Fäden des Alltags. Doch Sofia, die sich in der Kleinstadt Donna nennt, gibt nicht so ohne weiteres auf…

Psychodrama, Krimi und Sozialstudie. Die handfest konstruierte Geschichte fesselt extrem, die Bilder aus dem Alltag des von Korruption und Verbrechen gebeutelten Landes kommen wie nebenher und sind deshalb besonders wirkungsvoll. Wie so oft: ein Thriller wird als U-Boot genutzt, um Wirklichkeit zu reflektieren. Freilich: Hitchcock hat das besser gekonnt, es gibt auch heutzutage Spielfilme, die exzellenter sind. Doch „ Señorita“ ist ein Debütfilm, die Produktion war nicht mit Millionen ausgestattet. Da ist das Ergebnis sehr viel mehr als beachtlich – und als Entdeckung in Locarno mehr als freundliches Staunen wert. Wir hoffen auf weitere Entdeckungen während des Festivals von ähnlichem Kaliber.

© Peter Claus