Asien in Locarno

Zu den Traditionen des Festivals von Locarno, mit denen Olivier Père, der künstlerische Direktor im zweiten Jahr, nicht bricht, zumindest bisher, gehört der Blick nach Asien. In allen Sektionen galt es, reichlich Filme von dort zu entdecken, so in einer der Nebenreihen einige Arbeiten unter dem Motto „Indien fern von Bollywood“. Zwei Tugenden waren auszumachen: erstens dominiert das klassische Erzählkino, zweitens ist die Auseinandersetzung mit der sozialen Realität, wie märchenhaft manche Geschichten auch aufbereitet sein mögen, immer vorhanden.
Klassische Elemente des Genres und modernes Erzählen sind stilvoll miteinander kombiniert. Die Mischung aus Kostümschinken und Krimi und Kampfsport-Oper sorgt für beträchtliche Unterhaltung.
Unterhaltsam ist auch der wichtigste japanische Wettbewerbsbeitrag (es waren zwei): „Saudade“. Regisseur Katsuya Tomita taucht ein in das Leben überwiegend junger Leute in einer Kleinstadt. Es gibt nicht genug Arbeit, Alkohol und Drogen heizen die Missstimmung an, das Miteinander von Einheimischen und Immigranten, vorwiegend aus Brasilien und Thailand, mündet in eine Atmosphäre der Angst. Denn viele Japaner schieben, ungebildet wie sie sind, die ökonomischen Probleme auf die Ausländer. – Der Film lässt sich viel Zeit beim Beobachten des Alltags. Dabei fällt sehr angenehm auf, wie genau die Arbeitswelt beleuchtet wird, wie hier, ganz nebenbei, Spannungen registriert werden, aber auch kleine Momente des glückvollen Miteinanders der verschiedenen Protagonisten. Was lange im Untergrund gärt, ausgesprochen allenfalls bei abendlichen Kneipenbesuchen, wird durch militante, reaktionäre Leute sichtbar und hörbar gemacht. Gewalt schleicht heran. Wird es zu einer Eskalation kommen oder siegt doch noch die Vernunft?
In dem mehr als zwei Stunden dauernden Film, der im Rhythmus immer schneller wird, und der dabei mehr und mehr auf das Konfliktpotential schaut, sorgt die Frage nicht nur für große Spannung, sondern lässt einen auch darüber nachdenken, wie man sich selbst verhalten würde. Beziehungsweise: Wie verhalte ich mich? Schließlich sind die gezeigten Probleme in allen Industrienationen vorhanden. Katsuya Tomita trifft keine Schuldzuweisungen, verweist jedoch deutlich auf Fragwürdiges: ein marodes Bildungssystem, eine fast nur noch materielle Werte anhimmelnde Öffentlichkeit, die Profitgier der Unternehmer. Gekoppelt mit vielfältigen Momentaufnahmen aus dem Dasein verschiedenster Charaktere entstand daraus explosives Kino über eine Gesellschaft, die in einem höchst explosiven Zustand ist. Gut möglich, dass dieser Spielfilm den Goldenen Leoparden bekommt. Randnotiz: Es wäre nicht das erste Mal, dass der letzte Film, der im Wettbewerbprogramm zu sehen war, der große Gewinner in Locarno ist.

© Peter Claus

Bild: Saudade (Japan 2011, Regie: Katsuya Tomita) Festival del film Locarno © 2011. All rights reserved.