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Tag 11 (17. August 2013)

Der Jury dieser Ausgabe des Filmfestivals von Locarno darf man gratulieren, hat sie doch wirklich Besonderes vollbracht: es ist ihr gelungen, die seit 25 Jahren dümmsten Preisentscheidungen am Lago Maggiore zu fällen. Das ist nicht nur ein fatales Signal an jene, die in diesem Jahr mit ihren Filmen dabei waren, das dürfte das Festival selbst nachhaltig schädigen. Denn diese Entscheidungen signalisieren, dass auf diesem Festival nicht wirklich das Kino geschätzt wird, das eine kluge Balance von Anspruch und Amüsement, Kunst und Publikum, sucht, sondernd jenes, das um jeden Preis Kunstwillen demonstrieren muss, egal, ob sich viele Zuschauer dafür interessieren oder nicht.

Für den Film, der jetzt den Goldenen Leoparden erhalten hat, haben sich beim Festival schon sehr viele nicht interessiert. Aus kaum einer anderen Gala sind so viele Zuschauer noch während der Vorführung heraus gerannt wie im Falle von „Histoira de la meva mort“ („Die Geschichte meines Todes“), eine spanisch-französische Ko-Produktion des katalanischen Regisseurs Albert Serra. Der lässt in kunstgewerblichen Bildern Casanova als alten Träumer von vergangenem Ruhm wiederaufleben. Der verfallene Typ reist mit seinem Diener durch Europa, pseudophilosophiert und jammert und sabbert. Und schließlich noch einmal ein „romantisches“ Erlebnis, er trifft Dracula. – Die Skizze des Gezeigten lässt vermuten, es handele sich um eine flotte Farce. Dem ist nicht so. Der Film bietet in oft grausam leeren und statischen Bildern nichts als langatmiges Kunstgewerbe. Ein paar Hundert Zuschauer könnte die in Manierismen erstickende Bildfolge in den deutschen Kinos sicherlich finden, falls der Film jemals hier starten sollte. Davon ist allerdings kaum auszugehen.

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Historia de la meva mort (Regie: Albert Serra Spain, France 2013)

Wie beim Goldenen Leoparden, so hat die Jury auch sonst meist fern der Erwartungen von Publikum und Kritik entschieden. Der Spezialpreis geht an den Filmessay „E Agora? Lembra-me“ („Und was nun? Erinnere mich“). Hierin unternimmt der an Aids leidende Portugiese Joaquim Pinto in kitschig-verschwiemelten Bild-Ton-Montagen eine sentimentale Nabelschau nach dem Motto „Niemand geht es so schlecht wie mir“. Überflüssig – der Film und die Auszeichnung. Die Ehrung für die Beste Regie ging nach Asien. Das überrascht nicht. Überraschend ist jedoch die Wahl des Preisträgers. Der Südkoreaner Hong Sangsoo überrascht nämlich „U ri Sunshi“ („Unsere’ Sunhi“) weder mit einer originellen Erzählung, noch mit einem originären Stil. Er hat einen spröden Dialogfilm inszeniert, in dem eine junge Frau von drei Männern nach ihrem Woher und Wohin befragt wird. Auch dies ein Film, der in den Kinos der Welt kaum Furore machen dürfte – das aber nicht, weil der Film aus einer fernen Kinematografie kommt, sondern weil er einfach nicht gut genug ist.

Mit den Auszeichnungen für darstellerische Leistungen hat die Jury sich seltsamerweise dem Publikumsvotum angepasst. Den Preis als Beste Schauspielerin erhält die US-Amerikanerin Brie Larson. Sie spielt in dem Jugendheimdrama „Short Term 12“ eine engagierte Erzieherin. Die Ehrung als Bester Darsteller geht an den Peruaner Fernando Bacilio für seine Interpretation eines Justizbeamten in dem Gesellschaftspanorama „El mudo“ („Der Stumme“), eine Gemeinschaftsproduktion Peru, Frankreich und Mexiko.

Die Jury, die die 6 Beiträge der Sektion „Woche der Kritik“ beurteilt hat, war sich mit der überwältigenden Mehrheit der Besucher einig. Sie gab ihre Auszeichnung an die deutsch-österreichische Ko-Produktion „Master of the Universe“ von Regisseur Marc Bauder. Die Dokumentation ermöglicht mit grusliger Schärfe einen Blick hinter die Kulissen des globalen Bankgeschäfts. Schon das beeindruckt. Dazu kommt, dass Bauder den vor allem die Aussagen eines Ex-Großbankers illustrierenden Film auch formal scharf, nämlich sehr kühl, angelegt hat. Hier dient die Form dem Inhalt. Was dazu dient, die Gesellschaftskritik, um die es geht, fern platter Fingerzeige zu vermitteln. Ein guter Film – und die Auszeichnung dafür ist ein schöner Erfolg für das deutsche Kino!

 

Eine Liste wichtiger Preisträger des 66. Internationalen Filmfestivals Locarno

Concorso Internazionale (Hauptwettbewerb)

– Pardo d’oro (Goldener Leopard) an „Historia de la meva mort“ („Die Geschichte meines Todes“) von Albert Serra (Spanien/ Frankreich)

– Premio speciale della giuria (Spezialpreis der Jury) an „E agora? Lembra-me“ („Und was nun? Erinnere mich“) von Joaquim Pinto (Portugal)

– Pardo per la miglior regia (Leopard für den Besten Regisseur) an Hong Sangsoo (Südkorea) für „U ri Sunshi“ („’Unsere’ Sunshi“)

– Pardo per la miglior interpretazione femminile (Leopard für die Beste Darstellerin) an Brie Larson (USA) für „Short Term 12“ von Regisseur Destin Cretton (USA)

– Pardo per la miglior interpretazione maschile (Leopard für den Besten Darsteller) an Fernando Bacilio (Peru) für „El mudo“ („Der Stumme“) von Daniel und Diego Vega (Peru/ Frankreich/ Mexiko)

– Besondere Erwähnungen für  „Short Term 12“ von Destin Cretton, USA, und für „Tableau Noir“ („Die Schiefertafel“) von Yves Yersin (Schweiz)

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Concorso Cineasti del presente (Wettbewerb der Filmemacher der Gegenwart)

– Pardo d’oro Cineasti del presente (Goldener Leopard des Wettbewerbs der Filmemacher der Gegenwart) an „Manakamana“ von Stephanie Spray und Pacho Velez (Nepal/ USA)

– Premio per il miglior regista emergente (Preis für den Besten Nachwuchsregisseur) an Lois Patiño (Spanien) für „Costa da Morte“

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Publikumspreis für den besten Film außerhalb des Wettbewerbs auf Piazza Grande an „Gabrielle“ von Louise Archambault (Kanada)

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Semaine de la critique (Woche der Kritik)

– „Master of the Universe“ (Deutschland/ Österreich) von Marc Bauder

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Tag 10 (16. August 2013)

Kurz vor Toresschluss noch eine schöne Überraschung: „About Time“ aus Großbritannien auf der Piazza Grande. Inszeniert hat Richard Curtis, der vor Jahren als Autor der Komödie „Notting Hill“ berühmt wurde. Curtis hat ein feines Gespür für Charaktere und Charakterkomik. In nahezu perfekter Balance von Ernst und Witz erzählt er vom Erwachsenwerden eines jungen Mannes, der mit einem sehr besonderen „Fluch“ belegt ist: er kann, wie schon alle Männer vor ihm in der Familie, Reisen in die Vergangenheit unternehmen. Das kling sehr albern, ist es aber nicht. Denn Curtis, der auch das Drehbuch geschrieben hat, macht daraus eine Charme sprühende, geistreiche Reise durch das Universum des Menschseins an sich. Hinreißend!

Am Abend dann ein Ärgernis: in einer Voraufführung, die dem Festival als Bonbon lange vor der offiziellen Auswertung zugestanden wurde, lief die jetzt hergestellte 3D-Version von „The Wizard of Oz“ aus dem Jahr 1939. Alle, die den Film mit Judy Garland lieben, kriegen das Grausen. Das Experiment ist vollkommen überflüssig. Es bringt dem Film nicht nur keine zusätzliche Dimension, es zerstört sogar seinen Zauber.

Einen Tag vor der Preisverleihung schossen natürlich die Spekulationen über die Entscheidungen der Jury ins Kraut. Lassen wir sie schießen. Es ist unmöglich, ernst zu nehmende Voraussagen zu machen. Die Juroren haben mindestens acht Filme, die ernsthaft für eine Auszeichnung mit dem Goldenen Leoparden in Frage kommen. Das ist eine enorme Ausbeute. 20 Filme liefen im Hauptwettbewerb. Mehr als ein Drittel ist diskussionswürdig. Gäb’s das in Cannes, Venedig oder Berlin, es wäre eine Sensation.

Am Abend, vor der Aufführung von „About Time“ und anschließend „Fitzcarraldo“,bekam Werner Herzog den Goldenen Ehrenleoparden für sein Lebenswerk. Er wurde auf der Piazza wie ein Glamourstar gefeiert. „Ich bin glücklich“, so leitete er seine Dankesrede ein, die vor allem ein Lob für seine Kameramänner, „meine Augen“, wie er sagte, wurde. Herzog, sonst eher steif anmutend, wirkte ausgesprochen locker. Locarno mach halt fröhlich.

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Tag 9 (15. August 2013)

Auf der Piazza bleibt’s unterhaltsam.  Die Romanverfilmung „Mr. Morgan’s Last Love“ der deutschen Regisseurin Sandra Nettelbeck („Bella Martha“) zeigt Michael Caine in der Rolle eines betagten Witwers, der in Einsamkeit versinkt. Eine junge Tanzlehererin (Clémence Poésy) weckt noch einmal seine Lebensgeister.

Die Wirkung des Films geht auch in starkem Maße von den Pastellbildnern aus, in denen die Geschichte erzählt wird. Das ist alles sehr sanft, wie auch das Spiel der Hauptakteure. Sandra Nettelbeck hat damit eine schöne Umsetzung des französischen Bestsellers „Die letzte Liebe des Monsieur Armand“ geliefert. Schade nur, dass der Soundtrack oft zu sehr dröhnt und überdeutlich die Gefühle des Publikums manipulieren soll. Das ist überflüssig. Zum Glück versöhnen die Schauspieler.

Im Wettbewerb – nun in der Schlussrunde – geht es weniger gefällig zu. Der portugiesische Beitrag „ Educação Sentimental“ erweist sich sogar als ausgesprochen sperrig. Regisseur Júlio Bressane lässt seine Akteure posieren und deklamieren – über Philosophie, Poesie und Pornographie. Im Zentrum stehen eine ältere Frau und ein sehr junger Mann. Immer wieder wird auf das 18. Jahrhundert verwiesen, durch Monologe der Frau, durch Blicke auf alte Gemälde. Der Film mutet an wie ein Trauergesang ob der verlorenen Vergangenheit. Aber auch viele andere Deutungen sind möglich. In den letzten zehn Minuten dann gibt es Momentaufnahmen von den Dreharbeiten. Sie machen den Zugang zum zuvor gesehenen nicht leichter. Das kann man als Arthouse-Kino schon fanatischer Strenge bezeichnen. Es gab bei der Vorführung für die Journalisten mal wieder kontroverse Reaktionen: die einen lachten und gähnten, die anderen applaudierten frenetisch.

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Educação sentimental (Regie: Júlio Bressane, Brazil 2013)

„Shui jia zuo ye“ (Eine Zeit in Quchi) aus Taiwan lief als letzter der Wettbewerbsfilme. Das ist eine liebevoll erzählte Coming-of-age-story: ein Halbwüchsiger aus der Stadt verbringt die Sommerferien auf dem Land bei seinem Großvater und entdeckt neue Seiten des Lebens. Hübsch. Regisseur Tso-chi Chang schielt damit jedoch etwas zu offenkundig auf den internationalen Markt. Bild- und vor allem Musikgestaltung wirken sehr europäisch. Originalität ist nicht auszumachen.

Der Freitag ist Sitzungstag der Jury. Spekulationen sind schwierig. Einige Filme kommen für den Goldenen Leoparden in Frage, mehrere Schauspielerinnen und Schauspieler für Ehrungen. Leicht haben es die Juroren nicht. Kurz: es ist wie auf jedem Filmfestival. Hier steigt jetzt die Spannung, diese und dieser sind sich ganz sicher, wie die Würfel fallen werden. Die Besonnenen lehnen sich zurück und gönnen sich noch mindesten ein, zwei Happen altmodischer Traumfabrik in der Cukor-Retro.

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Tag 8 (14. August 2013)

Japan-Tag beim Filmfestival – jedenfalls im Wettbewerb. Wieder mal wurde klar, dass es – bei aller Neugier, bei aller Offenheit – recht anstrengend und schwierig sein kann, sich dem Fremden zu öffnen. Das Nichtwissen um kulturelle, mythologische und soziologische Hintergründe erschwert den Zugang, macht ihn gelegentlich gar unmöglich.

Kennern des japanischen Kinos gilt der Regisseur Kiyoshi Kurosawa derzeit als einer der führenden seines Fachs in Asien. Sein Hauptthema ist die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Darum geht es auch im surrealistischen und futuristischen „Real“. Die Story: eine junge Frau liegt nach einem Suizidversuch im Koma. Ein junger Mann kann Kraft besonderer Fähigkeiten in ihre Welt eindringen. Er möchte sie ins Leben zurückholen. Doch sie ist scheinbar rettungslos verloren, weil in ihrer ganz eigenen Welt gefangen, einer Welt, die insbesondere von ihrer Liebe zu Mangas geprägt ist, einer geradezu tödlichen Leidenschaft.

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Real (Regie: Kiyoshi Kurosawa, Japan 2013)

Wo die einen die kunstvolle Verschachtelung von Realität und Science-Fiction-Wahn in der Inszenierung bewundern, winken die anderen nur gähnend ab. Wer sich mit Mangas und anderen Standards der japanischen Kultur nicht auskennt, findet kaum Zugang zu dem Film und tut ihn, ich zitiere einen Schweizer Kollegen, als „Zombie-Quatsch“ ab. Zuschauer hingegen, die das Zeichensystem des Films lesen können, sind begeistert und prophezeien gar die Auszeichnung mit dem Goldenen Leoparden.

Derart unterschiedlich waren die Reaktionen auf „Tomogui“ nicht. Die Romanadaption von Regisseur Shinji Aoyama lässt sich auch mit europäischem Blick viel leichter erfassen. Anfangs führt eine männliche Erzählerstimme zurück ins Jahr 1988. „Damals war ich siebzehn… “ Ich, das ist Toma. Der Junge lebt bei seinem Vater und dessen Geliebter, zu denen er scheinbar ein gutes Verhältnis hat, wie auch zu seiner Mutter, die in der Kleinstadt am alten Hafen ein Fischgeschäft betreibt. Seine Liebe gilt einem gleichaltrigen Mädchen, mit dem er auch erste sexuelle Erfahrungen sammelt. Alles mutet zunächst relativ harmonisch an. Doch bald ist klar, dass es unter der Oberfläche des schönen Scheins brodelt. Ausgangspunkt für alles Folgende ist die Lust des Vaters, seine Partnerinnen beim Sex brutal zu schlagen. Das stößt Toma ab – und weckt doch ähnliche Begierden in ihm. Vater und Sohn sind einander möglicherweise ähnlicher, als es dem Jugendlichen lieb ist. Das schürt Ängste beim Junior – und die führen geradewegs in eine Orgie der Gewalt.

Die brutale Coming-of-age-story hat ihren Reiz durch die geradezu sanft gezeichnete Bildwelt, in der sie abläuft. Eindringlich wird klar, wie das Düstere sich in schönster Umgebung breit machen kann. Reizvoll auch: die Geschichte gibt schließlich den Frauen die notwendige Kraft, um aus der Gewaltspirale herauszukommen. Am Ende wirkt der Film fast wie ein spätfeministisches Statement. Schade nur, dass es einige Szenen gibt, die sich in einem splatter movie gut machen, in einem ansonsten aber eher ernsthaft erzählten Drama arg störend wirken.

Aber es gab auch Sehenswertes aus Europa. Schon vor einigen Tagen lief die schweizerische Dokumentation „Tableau noir“. Kollegen, die den Film bereits kannten, empfahlen dringend, eine der Wiederholungsaufführungen zu besuchen. Zu recht – ein Kleinod. Regisseur Yves Yersin zeigt den Alltag einer Schule in einem Nest in den Bergen. Vom überaus engagierten Lehrer werden Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren unterricht. Man staunt, welchen Effekt das auf die Jüngeren hat. Sie wirken rasch sehr viel reifer als Gleichaltrige andernorts. In der Schweiz wird diese Form des Unterrichts derzeit vielfach propagiert, etwa in Zürich an einigen Schulen gerade eingeführt. Hier in den Bergen ist damit Schluss. Der Film endet mit der per Volksentscheid herbeigeführten Schließung der Schule. Beeindruckend an der Dokumentation ist vor allem die Nähe, die Yves Yersin zu den Kindern und zu dem Lehrer herstellen konnte. Er hat wirklich mitten unter ihnen gearbeitet. Begeisternd dazu ist die Liebe des Lehrers zu seinem Beruf und zu seinen Schützlingen. Das Jahr, das der Film reflektiert, erlebt man als Zuschauer geradezu mit – und erfährt eine schier wunderbare Bildung des Herzens.

Tableau noir (Regie: Yves Yersin, Switzerland 2013)

„Tableau noir“ ist auf jeden Fall preiswürdig. Die große Frage hier für viele Festivalbesucher: Wie soll die Jury gerecht einen Wettbewerb beurteilen, in dem Spiel- und Dokumentarfilme zugleich laufen. Das Festival sollte dringend darüber nachdenken, ob es den Wettbewerb nicht allein den Spielfilmen (die naturgemäß quantitativ stärker angeboten werden) überlässt und hervorragende Dokumentationen wie „Tableau noir“ von vornherein durch Sonderaufführungen ehrt.

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Tag 7 (13. August 2013)

Der Festival-Dienstag stand ganz im Zeichen politischer Diskussionen. Anlass dafür boten zwei Dokumentationen „L’Expérience Blocher“ und „Sangue“.

„L’Expérience Blocher“ ist der Versuch eines Porträts des schweizerischen Rechtspopulisten Christoph Blocher von Regisseur Jean-Stéphane Bron. Der inzwischen 72jährige millionenschwere Industrielle hat es vor etwa zwei Jahrzehnten fast im Alleingang geschafft, die Versuche der damals Regierenden, die Schweiz an Europa anzubinden, zu kippen. Knapp ein Drittel der Schweizer folgt ihm und wählt „seine“ Partei, die SVP, die Schweizerische Volkspartei. Der fanatische Nationalist nimmt, so heißt es, hinter den Kulissen heftig Einfluss auf die Medien und die Wirtschaft des Alpenlandes. Privat tritt er – verheiratet, mehrfacher Vater – als geradezu biederer Familienmensch auf. In der Geschäftswelt hat er den Ruf eines unerbittlichen Profiteurs.

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Dreharbeiten im Haus von Christoph Blocher in Herrliberg. (© Frenetic)

Der seltsame Titel – „Die Erfahrung Blocher“ – bekommt gleich zu Beginn des Films eine Erklärung: Regisseur Jean-Stéphane Bron aus der französischsprachigen Westschweiz sagt im off, dass ihn die Frage umtriebe, wie er einen Film über jemanden machen solle, dessen Ansichten und politischen Ziele er nicht teilt. Die Frage zeigt nicht nur die große Unsicherheit Brons. Sie verweist auch darauf, dass der Filmemacher im Laufe von Dreh und Montage keinen Millimeter an sein Gegenüber herangekommen ist. Bron hat Christoph Blocher zwar über viele Monate mit Kamera und Mikrofon begleitet, aber hinter die Fassade des gewieften Selbstdarstellers hat er nie geblickt. Zudem bezieht Bron keinerlei Position. So nebulös, wie dadurch seine Haltung anmutet, wirkt der Film in Gänze. Dazu kommen Peinlichkeiten, etwa der kurze verbale Verweis darauf, dass der Industrielle Blocher seine Arbeiter schlecht bezahlt. Wen kann das wundern? Der Mann ist Kapitalist und will Geld machen. Da muss er seine Arbeiter logischerweise schlecht bezahlen. Genauso dumm sind die knappen Schlagworte zur Fremdenfeindlichkeit des Politikers Blocher. Denn es bleiben dürre Schlagworte. Wie die Fremdenfeindlichkeit aussieht, was dahinter steckt, wodurch es Blocher gelingt, Volksmassen hinter sich zu bringen, wird nie auch nur angedeutet. Besonders ärgerlich: wabernder Musikeinsatz, kunstgewerbliche Bilder und fades pseudopsychologisches Herumstochern in Blochers persönlichem Wachsen und Werden machen den Film schließlich zu breiigem Kitsch.

Schon vor seiner Uraufführung am Dienstagabend in Locarno hat der Film in der Schweiz Proteste ausgelöst. Blocher-Opponenten hatten, schon bevor sie den Film überhaupt sehen konnten, Angst, er könne als Werbung für den Rechtspopulisten missverstanden werden. Die Festivalleitung in Locarno hatte offenbar auch Angst – und zwar vor Ausschreitungen. So viele Sicherheitsmaßnahmen wie rund um die Aufführung von „L’Expérience Blocher“ auf der Piazza Grande gab es hier wohl nie zuvor: Uniformierte allüberall und ungewohnte Absperrungen. Doch das Publikum begnügte sich mit vornehmer Zurückhaltung. Der Schlussapplaus war nicht mal mager.

Noch ein Film schürte die Diskussion: der italienische Wettbewerbsbeitrag „Sangue“. Der auch als Darsteller bekannte italienische Regisseur Pippo Delbono zeigt viele Begegnungen mit dem aus der Haft entlassenen Ex-Terroristen Giovanni Senzani. Der gilt als einer der führenden Köpfe der „Brigate Rosse“, der „Roten Brigaden“, dem italienischen Pendant der deutschen RAF. Diese Dokumentation wird aus ähnlichem Grund wie „L’Expérience Blocher“ heftig diskutiert: auch Delbono zeigt keinen eigenen Standpunkt. Immerhin stellt er einen Mann vor, der für sich spricht, und das verständlich, weil nicht hinter einer Maske versteckt. Da ist es schon spannend, wie er heute, Jahrzehnte etwa nach einer von ihm verübten Ermordung eines Gegners, darüber redet und nicht versucht, sich zu verteidigen oder irgendetwas zu beschönigen. Mehr solcher konkreten Momente hätten dem Film gut getan. Zu oft bleibt er nebulös, wird gar peinlich, wenn Delbono auch noch Opernszenen einfügt. Kontra löst der Film außerdem aus, weil er keine historischen Hintergründe erhellt. Wer nicht weiß, was die „Roten Brigaden“ einst verbrochen haben, sieht das Schnipsel des Porträts eines alten Mannes, der offenbar Furchtbares getan hat. Das ist etwas wenig für einen abendfüllenden Film.

Da darf nun also gestritten werden. Und das ist gut so. Die Gespräche anlässlich der Aufführungen der zwei Dokumentationen machen klar, wie anregend politisches Kino sein kann. Und die öffentliche Diskussion braucht gerade heutzutage Anregungen. Gut also, dass Locarno die Filme, auch wenn sie nicht gelungen sind, eingeladen hat.

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Tag 6 (12. August 2013)

Festivals dienen bekanntlich dem Entdecken – und das bringt manchmal Ernüchterung mit sich. So geht’s vielen hier angesichts der Retro mit Filmen von George Cukor. Eine ganze Reihe seiner legendären Filme, etwa „The Women“ und „Camille“, hält heutigen Sehgewohnheiten nicht mehr stand. Natürlich bedenkt man, dass die Filme vor Jahrzehnten entstanden sind. Doch auch für einstige Verhältnisse sind sie von einer erstaunlich armseligen Bildsprache geprägt, wirken staubig-theatralisch und beziehen ihren Reiz allein aus der Präsenz der berühmten Schauspielerinnen. Zudem geht einem die oft extreme Frauenfeindlichkeit schlichtweg auf die Nerven. Über manches geht die Zeit eben brutal hinweg, Legende hin, Legende her.

Der Wettbewerb hat auch heute wieder mit Ungewöhnlichem auf sich aufmerksam gemacht. Entdeckung des Tages: „Tonnerre“ aus Frankreich. Regisseur Guillaume Brac führt in eine Kleinstadt. Ein Musiker will hier einige Monate im Haus des Vaters leben und arbeiten. Ganz in Ruhe. Mit der Ruhe klappt es natürlich nicht. Die Liebe kommt dazwischen. Und es brechen alte Konflikte zwischen Vater und Sohn auf. – Noch ein Kammerspiel also. Der Ton der Erzählung wandelt sich. Sanft und leicht geht es los, dann wird’s dunkler und schwerer. Auffallend sind die klugen Bilder: Da werden die Innenräume sowie die Stadt- und Landschaftsbilder tatsächlich zu Spiegeln der Seelen. Die Farbe grau dominiert dabei. Auffallend gelungen: Es braucht keine ausufernde Dialoge. Die Gesten der Akteure, ihre Mimik, ihr Eingebundensein in die Szenerien erzählt vor allem. Ein kleiner Film mit großer Wirkung.

Tonnerre (Regie: Guillaume Brac, France 2013)

Langsam aber sicher nehmen die Spekulationen um mögliche Preisträger zu, wiewohl noch einige Wettbewerbsfilme ausstehen. „Short Term 12“ aus den USA liegt bei vielen inzwischen recht weit vorn. Autor und Regisseur Destin Cotton spiegelt den Alltag in einem Heim für gefährdete Jugendliche. Dabei geht es nicht um kitschige Wir-haben-uns-doch-alle-lieb-Momente, wie sie Hollywood so gern bei diesem Thema verkauft. Der Film zeigt behutsam das Beziehungsgeflecht zwischen Schützlingen und Personal, erkundet vorsichtig, wie sich Verletzungen, die die Erzieher einmal selbst als Kinder und Jugendliche hinnehmen mussten, auf ihre Arbeit auswirken. Viele Kritiker und Kritikerinnen sind sehr angetan von diesem Film, erzählen sogar, dass sie sich zu Tränen rühren ließen, was bei Leuten dieser Berufssparte selten passiert, oder was sie zumindest selten zugeben. Mir persönlich lief der Film am Ende ein wenig zu sehr ins Sentimentale. Bis dahin allerdings fand ich ihn als ungeschminkten Report vom Rand der bürgerlichen Gesellschaft überaus spannend. Warten wir’s ab, was die Jury meint.

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Tag 4 und 5 (10. und 11. August 2013)

Das Festival-Wochenende wurde wesentlich von der Adaption des Romans „Feuchtgebiete“ geprägt. Am Samstagvormittag lief der Film in einer ersten Aufführung für die Vertreter der internationalen Presse, am Sonntagabend für das Publikum.

Die Vorstellung, der 2008 mit viel Medienrummel und Skandal-Geschrei erschienene Roman von Charlotte Roche könnte sehenswert verfilmt werden, war vielen fremd. Siehe da: es geht, sehr gut sogar. Die Mehrzahl der Journalisten war positiv überrascht. Mehr als 3500 Zuschauer quittierten den Film am Sonntagabend mit enormem Beifall. Niemand wäre hier überrascht, wenn der Film, der am Donnerstag nächster Woche in den deutschen Kinos anläuft, einen Goldenen Leoparden oder einen der anderen Hauptpreise bekäme.

Feuchtgebiete (Regie: David Wnendt, Germany 2013)

Bekannt wurde David Wnendt vor zwei Jahren durch Anti-Neonazi-Drama „Kriegerin“. erzählt mit viel Feingefühl. Da überzeugte er mit formaler Strenge, dieses Mal mit spielerischer Leichtigkeit. Schockmomente bleiben trotz einiger nackter Tatsachen aus. Die meisten expliziten Szenen sind so gefilmt, dass die Bilder erst durch die Phantasie des einzelnen Zuschauers in dessen Kopf entstehen. Helens scheinbare Besessenheit von diversen Körperausscheidungen und Sexpraktiken fern des Üblichen wird durchaus deutlich gezeigt. Die Lust an kreischenden Effekten aber bedient Wnendt nicht. Ihn interessiert offenkundig das Innere von Helen, er zeigt, dass all ihre Aktionen nichts sind als ein Aufschrei aus Angst, von den Menschen, die ihre nahe stehen, vor allem den Eltern (exzellent: Meret Becker und Axel Milberg) nicht so akzeptiert zu werden, wie sie ist. Stärker als das Buch thematisiert der Film dabei die Furcht vor Alter, Sterben und Tod. Damit entgeht er der Gefahr, zu einer Schmuddel-Show zu werden. Der entgeht er zudem durch die wahrlich rasante Inszenierung, die Helens Persönlichkeit geschickt über Rückblenden erforscht und Musik klug als Spiegel ihrer Seelenpein einsetzt. Hauptdarstellerin Carla Juri gibt der Figur eine starke emotionale Kraft, was dem Zuschauer den Zugang zum Geschehen ungemein erleichtert. Mimisch und körpersprachlich offenbart sie immer wieder sehr genau das, was hinter dem Aktionismus von Helen lauert: der Schmerz im Schatten von Missachtung, die Schwierigkeit, sich selbst zu erkennen und anzuerkennen. Charlotte Roche, die Autorin der Romanvorlage, sagte dann auch in Locarno, wie gelungen sie den Film, an dessen Entstehung sie sich bewusst nicht beteiligt hatte, findet.

Im Gespräch, wenn es um den Wettbewerb geht, behauptete sich neben dem deutschen Beitrag vor allem der französische, „Gare du Nord“ ( wir berichteten bereits am 09. August über den Film). Auch er hat nach Ansicht vieler große Chancen, den Goldenen Leoparden zu gewinnen. „Gare du Nord“ brilliert die inzwischen mehr als Regisseurin denn als Schauspielerin arbeitende Nicole Garcia in der Rolle einer von schwerer Krankheit gezeichneten älteren Frau. Hinreißend! Ganz abgesehen davon, wie sensibel Garcia, einer der Stars des französischen Kinos der 1980er, Jahre agiert, begeisterte die 67jährige in Locarno auch damit, dass sie sich ganz offenkundig nicht von irgendwelchen Chemikalien oder von chirurgischen Eingriffen das Gesicht glätten lässt. Da erzählt jedes Fältchen eine Geschichte, markiert jeder Fleck gelebtes Leben. Eine Wohltat, nachdem Stars wie Victoria Abril und Faye Dunaway, die auf der Piazza Grande unterm Sternenrund mit verdächtig an Skalpell und Botox gemahnenden, maskenhaften Gesichtern Ehrenpreise entgegen nahmen.

Gare du Nord (Regie: Claire Simon, France, Canada 2013)

Der Goldene Leopard und die anderen Preise werden am Samstagabend vergeben. Noch steht die Hälfte des Wettbewerbs aus, Filme aus Südamerika und Asien vor allem. Alles kann sich noch ändern, gut möglich, dass die Filme, die die Preise abräumen, erst noch zu sehen sind.

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Tag 3 (09. August 2013)

FILMFESTIVAL, FESTIVAL INTERNAZIONALE DEL FILM,

Moritz Bleibtreu

Begegnungen mit deutschen Schauspielstars im Stress der großen Festivals, wie Cannes, Venedig und Berlin, die aus jedem kleinen Ereignis einen riesigen Event für die Medien machen, sind gelegentlich alles andere als angenehm. Da wird gezickt und gezockt, dass es eine Last ist. In Locarno, wo eine schöne Gelassenheit den Festivalalltag prägt, ist das ganz anders. Der erfreulich bescheidene kleine Empfang, zu dem die Film- und Medienstiftung NRW geladen hat, bestätigte das aufs Schönste. Da war beispielsweise ein fröhlicher, bodenständiger, gelassener Moritz Bleibtreu zu erleben. Dabei hatte er ein wenig Pech am Lago Maggiore: Am Abend zuvor wurde die Piazza-Grande-Aufführung des Films „Vijay and I“, den der belgische Regisseur Sam Gabarski („Irina Palm“) überwiegend mit deutschen Produktionsgeldern in den USA realisiert hat, erheblich vom Regen gestört. Gerade mal 1500 bis 2000 Zuschauer harrten im prasselnden Nass aus. Doch die amüsierten sich prächtig, wie auch die etwas mehr als 3000, die den Film im Festivalkino FEVI sahen. Bleibtreu war von der Stimmung offenbar begeistert. Nichts da von Traurigkeit. Im persönlichen Gespräch war er ausgesprochen höflich, offen und zuvorkommend, sprach begeistert vom Dreh, vom Zusammenhalt des Teams, davon, wie froh er ist, dass der Humor des Films offenkundig beim großen Publikum gut ankommt.

Dieser Humor provoziert die einen zu leisem Lächeln, die anderen zu lautem Lachen. Erzählt wird von einem aus Deutschland stammenden Schauspieler, der in den USA in einer Kinder-TV-Serie als glückloser Hase Erfolg hat, bis er eines Tages irrtümlich für tot erklärt wird. Statt die Sache aufzuklären, besucht er seine eigene Beerdigung – verkleidet als Inder. Als solcher kommt er auch seiner „Witwe“ und seiner Tochter näher – und erfährt ungemein viel über sich selbst, den Wert von Freundschaft, Möglichkeiten und Grenzen im zwischenmenschlichen Miteinander. Ein Wohlfühl-Film, der von intelligentem Humor geprägt wird.

Nachdenklichkeit prägt vor allem den bisher wohl schönsten Film des Wettbewerbs: „Gare du Nord“ aus Frankreich. Regisseurin Claire Simon erzählt von Zufallsbegegnungen auf dem Pariser Bahnhof. Vor allem der zarten Liebesgeschichte des jungen Studenten Ismaël und der von einer schweren Krankheit gezeichneten Uni-Professorin Mathilde gilt ihr Interesse. In Bildern, die das Flüchtige des Seins verblüffend scharf spiegeln, in kurzen Momentaufnahmen vom Bahnhofstreiben, in kleinen Gesprächen wird das Große des Daseins erforscht. Da bleiben wunderbarer Weise viele Fragen offen, Geheimnisse bewahrt und wird die Phantasie des Zuschauers gefühlvoll, aber ohne Gefühlsduselei, angeregt. Nicole Garcia als Mathilde spielt mit schlafwandlerischer Sicherheit eine Frau, die ahnt, dass sie nicht mehr lange auf dieser Welt ist, die aber bis zum Schluss nicht aufgibt, diese Welt erkunden und mit prägen zu wollen. Großes Schauspiel in einem großen Film! Das erste cineastische Ereignis dieses Festivaljahrgangs von Locarno.

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Gare du Nord (Regie: Claire Simon, France, Canada 2013)

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Tag 2 (08. August 2013)

Der Regen hält die Festivalgemeinde in Schach. Diverse geplante Freiluft-Veranstaltungen, prägend für den Charme des Festivals, müssen in Kinos, Säle, Restaurants verlegt werden. Der guten Laune tut das keinen Abbruch. Anders als auf anderen Festivals, wo all the important events einem strengen schedule, where and when, unterliegen, regiert in Locarno eine schöne Lust am Improvisieren. Da kommt dann auch ein Weltstar wie Christopher Lee eben mal ein paar Minuten später und an einen anderen, als den geplanten Ort…

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George Cukor

Wie immer in Locarno: die Retrospektive ist ein Clou. In diesem Jahr gilt sie Regisseur George Cukur (1899  – 1983). Er gilt nach wie vor als  der  Frauenregisseur der Traumfabrik. Greta Garbo, Ingrid Bergman, Marilyn Monroe, Liz Taylor, Audrey Hepburn und so weiter und so fort… – er hat mit allen großen Glamour-Stars Hollywoods gefilmt. Schon seine frühen Tonfilme aus den 1930er Jahren weisen ihn als Meister hintergründiger Inszenierungen  vieldeutiger Stories aus – und als Mann, der jede Frau ins rechte Licht setzte.

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What Price Hollywood? (Regie: George Cukor USA 1932)

Ein erster Höhepunkt der Reihe brachte das Publikum wirklich zu Begeisterungsstürmen: „What Price Hollywood?“, eine 1932 uraufgeführte Romanverfilmung, die als Vorlage für viele nachfolgende Filme diente, die sich kritisch mit dem Show-Geschäft auseinandersetzen. Constance Bennett spielt eine Kellnerin, die es zu Starruhm als Schauspielerin bringt, und Lowell Sherman jenen Regisseur, der sie groß herausbringt, bevor er in Alkoholsucht und Lebensunlust versinkt. Der Film besticht als effektsichere Mischung von Drama, Romanze, Komödie, Satire und Sozialpanorama. Die Dialoge sind von noch heute brillanter Schärfe, wenn komisch, dann bitter-komisch, wenn von Tragik gezeichnet, dann immer auf das Einzelschicksal auf die Gesellschaft verweisend. Der Film ist nach wie vor ein Ereignis!

Da war es wirklich eigenwillig, ausgerechnet am selben Tag im Wettbewerb den rumänischen Beitrag „Wenn der Abend auf Bukarest fällt oder Metabolismus“ („Când se lasă seara peste Bucureşti sau metabolism“) zu sehen. Regisseur Corneliu Porumboiu wendet sich, wie einst Cukor, dem Alltag in der Welt des schönen Scheins, der Welt jener, die für das Kino arbeiten, zu. Doch was für ein Unterschied: wo sich der Blick bei Cukor aus den Kulissen in die Gesellschaft weitet, bleibt er bei Porumboiu erschreckend klein. Es bleibt bei einer kunstgewerblich inszenierten Selbstbespiegelung. Kein Bild zeigt mehr als das, was auf den ersten Blick zu sehen ist, keiner der endlosen Monologe und Dialoge ist mit auch nur einem Hauch Bedeutung aufgeladen. – Macht nichts, sagt sich das Publikum in Locarno. Jedes Festival braucht schließlich auch Unerhebliches, um das Gute stark zur Geltung bringen zu können.

mehr lesen:  Der „woman’s director“ George Cukor (von Georg Seeßlen)

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Tag 1 (07. August 2013)

Eben waren alle bester Stimmung, der Eröffnungsfilm, „2 Guns“, von Regisseur Baltasar Kormákur aus Island lief auf Hochtouren, da setzten Blitz und Donner und Regen ein. Von den etwa 8.000 Besuchern die anfangs da waren, blieben immerhin so um die 2.000 tapfer sitzen und beklatschten die Action-Komödie mit Denzel Washington und Mark Wahlberg. Der Film gehört in die Kategorie „gehobene Unterhaltung“. Da wird Knall-Bumm-Zisch mit einem satirischen Bild der US-amerikanischen Gesellschaft kombiniert. Eine effektvolle Mischung.

2 Guns  (Regie: Baltasar Kormákur, USA  2013) 

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Bild: SN/APA/EPA/URS Flueeler

Effektvollster Teil des Abends, da war’s zum Glück noch trocken, war die Verleihung eines Ehrenpreises an den 91-jährigen englischen Schauspielstar Christopher Lee. Der Dracula-Darsteller gab seiner Freude in schönstem Italienisch Ausdruck – und das Publikum klatschte heftig. Ein Hauch von Traumfabrik.

Der Wettbewerb – 20 Spiel- und Dokumentarfilme – verspricht vor allem Tiefgang. Der erste Film löste das Versprechen bestens ein. „Der Stumme“, ein Spielfilm aus Peru, erzählt die Geschichte eines Justizbeamten, der durch ein Attentat seine Sprache verliert. Er ist ein Mann mit hohen ethischen Idealen, die er nicht umsetzen kann, ein Mann, der sich im Nichts des Schweigens verliert. – Die Figur ist eindeutig als Metapher auf das Land Peru zu verstehen, auf dessen bürgerliche Mittel- und Oberschicht. Da wird ein Ideal des Humanismus’ nach dem anderen beschworen, gelebt wird es nicht. Doch nicht nur die Gegenwart bleibt unreflektiert, auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bleibt aus.

Die Regisseure Daniel und Diego Vega haben die Form eines Kammerspiels gewählt. Sehr klug. Denn dadurch kommt man als Betrachter sehr nahe an die Figuren – und zu der Frage, wie weit man selbst die Ansprüche, die man vor sich herträgt, erfüllt. Ein Film, den die Jury, die über die Vergabe des Goldenen Leoparden entscheidet, ganz sicher diskutieren dürfte.

El mudo (Regie: Daniel Vega,  Diego Vega, Peru, France, Mexico 2013)

 

Peter Claus für getidan

Bilder: Festival del film Locarno
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