Morte a Venzia: Die Mostra Internazionale d’Arte Cinematografic, das älteste Filmfestival der Welt, wird von Beschwerlichkeiten heimgesucht: Das legendäre Luxushotel des Bains wird gerade in Apartments verwandelt, das Hotel Exelsior wird im nächsten Jahr für mindesten zwei Jahre wegen dringender Renovierung geschlossen, und somit gibt es keine Herbergen für die Stars auf dem Lido, der Bau des neuen Festivalpalais’ geht nicht voran, und Marco Müller, der künstlerische Leiter tritt im nächsten Jahr ab. Böse Zungen unken schon, dies seien erste Anzeichen für das „Aus“ für das Festival. Möglich ist es, zumal es Venedig versäumt hat, einen starken Markt, also einen Umschlagplatz für die Handelsware Film, zu etablieren. Das Festival von Toronto, das stets in der zweiten Woche des Venedig-Filmmarathons beginnt, hat diesbezüglich die Nase vorn. – Nur: Schade wär’s. Und sei’s allein wegen der Tradition.

Zudem war der diesjährige Jahrgang ein wirklich starker, die Ausbeute an guten Filmen enorm. Was die Jury in Schwulitäten brachte. Es war garantiert alles andere als leicht, die Preise zu vergeben. Interessant: Durchweg haben sich die Juroren unter US-Regisseur Quentin Tarantino in der Hauptsache für das Anspruchsvolle entschieden, für Filme, die ihre Heimat in den Arthouses, den Kunst-Kinos haben. Das ist auch als filmpolitische Entscheidung zu verstehen: Jene Filme, die durch ihren enormen Werbeetat von vornherein große Aufmerksamkeit bekommen werden, brauchen natürlich nicht auch noch die Unterstützung durch eine Auszeichnung. Andererseits: Sollte eine Jury nicht wirklich versuchen das Beste vom Beste mit den Auszeichnungen hervorzuheben? Das Echo auf die Preisvergabe war jedenfalls sehr geteilt: Während das Gala-Publikum im Palazzo del Cinema brav klatschte, buhten viele der internationalen Journalisten, die den Abend auf einer Video-Leinwand im Konferenzsaal des Festivals verfolgten.

Der Goldene Löwe für Sophia Coppolas „Somewhere“ ist – mindestens – als seltsame Entscheidung zu werten. Der Film ist nett, vor allem das Spielerische, Beiläufige der Gestaltung, gefällt. Aber der Gehalt ist doch arg klein! Die Story vom Fernsehserien-Star, den das unerwartete Auftauchen der jugendlichen Tochter zum leisen Nachdenken über sich selbst bringt, was dann jedoch gerade mal zu einer nicht wirklich nachhaltig anmutenden Katerstimmung und ein bisschen Selbstmitleid führt, nein, diese Story ist nicht gerade herausragend. Ein bisschen drängt sich der Verdacht auf, Tarantino wollte Marco Müller eine kleine symbolische Ohrfeige verpassen: Müller hatte das US-amerikanische Kino ja in erster Linie in die Nebensektionen des Festivals verbannt. Das hat vielleicht beim US-Amerikaner Tarantino zu einem leichten Verschnupft-Sein geführt. Der Preis ist verschenkt: Die Fans von Frau Coppola gehen ohnehin in den Film. Alle anderen dürften sich eher zurückhalten.

Eine Anti-Auszeichnung ist auch die von (noch mal ein Preis übern großen Teich!) Vincent Gallo als bester Schauspieler. In Jerzy Skolimowskis krudem Überlebenskampf-Epos „Essential Killing“ wirkt er sehr sportlich und guckt ansonsten unbewegt. In seinem selbst inszenierten „Promises Written in Water“, der ob seiner kühlen Kargheit durchaus als Kandidat für eine Ehrung des Regisseurs Vincent Gallo in Frage gekommen wäre, bietet er eine permanente Maske eitlen Selbstmitleids. Eine völlig unverständliche Entscheidung!

Überraschend auch die Entscheidung für die Griechin Ariane Labed als beste Schauspielerin in „Attenberg“. Sie spielt eine junge Frau, die ihren todkranken Vater aufopferungsvoll pflegt, und sich nebenbei diversen Vergnügungen sexueller Eroberungslust hingibt. Bedenkend, dass Catherine Deneuve in „Potiche“ schlichtweg grandios ist, mutet dieses Entscheidung mehr als seltsam an. Keine Ahnung, was hier für die Jury ausschlaggebend war!

Die peinlichste Auszeichnung: Der Spezial-Löwe für das Gesamtwerk an Monte Hellman (USA). Sein Wettbewerbsbeitrag „Road to Nowhere“ fiel weitgehend durch, und das zu recht. Traurig für den experimentierfreudigen Regisseur. Besonders traurig aber, dass sich Quentin Tarantino nicht zu schade dafür war, diese Auszeichnung an seinen alten Kumpel zu vergeben: Hellman war der Produzent von Tarantinos erstem Film. Da liegt der Verdacht von Vetternwirtschaft doch arg nah. Unangenehm!

Wirklich jubeln kann mann allein über den Silbernen Löwen für die Beste Regie. Ihn erhielt der Spanier Álex de la Iglesia für seine grotesk-überdrehte, dabei emotionale aufwühlende und politisch aufschlussreiche „Balada triste de trompeta“. Die Geschichte von Javier, dem traurigen Zirkus-Clown, der durch das verbrecherische Franco-Regime selbst zum Verbrecher wird, ist inhaltlich und formal das Originellste, was es seit langem im Kino zu bestaunen gab. Das Großartige an dem Film ist, dass man ihn rein als tollen Thriller gucken kann, aber eben auch als Gesellschaftspanorama, das mit Mut zu Pathos besticht,


Álex de la Iglesia


Tom Rykwers „3“ ging erwartungsgemäß leer aus. Schade fürs deutsche Kino, aber gerecht. – Spannende Frage nun: Wie werden sich die Venedig-Preisträger im Kinoalltag behaupten? Und werden die guten Filme, die von der Jury übersehen wurden, vom Publikum angenommen werden? – Vielen der Venedig-Filme ist es zu wünschen.


Peter Claus