Zur Weihnachtszeit wurde deutlich, was sowieso der Fall ist: Die Dinge nehmen überhand. Und wir sind nie postmateriell gewesen.

Es gibt ein Lied, das die „narrischen Kastanien“ besingt, die im Herbst noch einmal rot und weiß austreiben, als sei es Frühling. „Notblüte“ heißt das Phänomen, und es ist weniger ein Wunder, als vielmehr ein schlechtes Zeichen. Denn wenn Pflanzen so bildschön zur Unzeit blühen, stehen sie unter Stress und stellen oft mit letzter Kraft noch mal auf Fortpflanzung um, bevor es endgültig mit ihnen zu Ende geht.

Wer über die Berliner Friedrichstraße, die Düsseldorfer Kö streift, durch die Leipziger Hauptbahnhof-Promenaden oder welche der unzähligen Einkaufszonen der Städte auch immer, der muss an „Notblüte“ denken. Der Wahnsinn einer Warenmasse, oft beschrieben und beklagt, müsste seit langem schon seinen Zenit überschritten haben. Man denkt an die Ruhe vor dem Sturm, den letzten Happen vor dem Platzen, den wohl bekannten „tipping point“, an dem die schiere Quantität des Unsinns in eine neue Qualität umkippt, an eine gigantische Supernova kurz vor dem Erlöschen. Doch hinter dem lauten Trubel – gerade sind tonnenweise beglitzerte Hirsche unterwegs und abstrus dickbäuchige Weihnachtsmannhunde – ist dieser gigantische Zirkus nicht nur nervig, stressig und schlimm, sondern vor allem eines: unheimlich. Es ist, als wisse jeder, dass es so nicht weitergehen kann, und mache schnell noch mit. Das Maximum an Kundenkarten, Bonuspunkten, Superrabatten ist längst erreicht, und die Frage ist: Wer geht hier eigentlich zugrunde, der Mensch oder die Dinge? Die schiere Masse der Güter nämlich hat sich verselbständigt, es ist, als wucherten die Waren über alles hinüber, als kämen sie hinter den Menschen her, als Fratzen und Zerrspiegel ihrer Gier und vielleicht auch als unguter Vorschein einer künftig sehr leeren Welt. Eigentlich bleibt nur noch Flucht.

Kann das so weiter gehen? Die Kritik am schnöden Materialismus ist so alt wie die biblische Geschichte vom Tanz ums goldene Kalb, und auch die meisten Endzeitvisionen sind älteren Datums. Der Ökologie-Klassiker „Die Grenzen des Wachstums“ wurde bereits 1972 geschrieben. In den 1970 und 1980er Jahren entwickelte auch Robert Inglehart seine bekannte These vom „postmateriellen Wertewandel“. Inglehart ging von der – aus heutiger Sicht zu simplen – Annahme aus, dass eine Generation, die in Sicherheit und Wohlstand aufwachse, nun über die Existenzsicherung hinausgehende Bedürfnisse entwickele und entsprechend andere, „postmaterielle Werte“ hochhalte, wie beispielsweise politische Freiheit und Umweltschutz. Der Soziologe sah hier, durchaus skeptisch, den Aufstieg einer ganz „neuen Elite“, sie sich in Opposition zur bestehenden sozialen Ordnung formiere.

In den oft zitierten „Sinus-Milieus“, anschaulichen Grafiken zur angeblichen Milieu-Gliederung der Gesellschaft, waren daher immer neben „Konservativen“, „Bürgerlicher Mitte“ und „Hedonisten“ rund 10 Prozent „Postmaterielle“ verzeichnet. Die Sinus-Studien werden gerne zur Konsumforschung verwendet, und Sinus charakterisiert die Postmateriellen als „Das aufgeklärte Nach-68er-Milieu: Liberale Grundhaltung, postmaterielle Werte und intellektuelle Interessen.”

Das sind typische Grünen-Wähler und Bioladeneinkäufer, wird man sagen. Nur ist seit Jahren schon sehr eindeutig sichtbar, dass auch in dieser Sparte sich die Dinge wie von selbst vermehren. Aus dem kleinen Laden wurde der gigantische, frisch verpackte Biomaran-Supermarkt, der neben Lebensmitteln auch die Demeter-Schutzengelbox mit Backmischung und Keksausstechern, den Energy-Drink „All I need“, die Tiefkühl-Gefriertasche „Ökoland cool drauf“ und für Kinder das „Monster Money Bio-Esspapier“ im Sortiment führt. Wohl wahr, es gibt einen Überdruss an zu viel Müll, einen Trend weg von Quantität zu Qualität, man möchte weniger und dafür besseres. Doch dieses „less is more“ heißt eben meist: „less is more expensive“. Es ist klar, dass die guten slow-food Menschen vom Bio-Feinkoststand nur die andere Seite der Medaille sind, die obere Seite einer Gesellschaft, deren untere sich durch den Speck des Gesundbrunnen-Centers fressen muss. Alle treibt ein ähnliches Begehren, nur auf verschiedenen Levels, und es ist zwar möglicherweise weniger materialreich, aber nicht weniger absurd, wenn jetzt das hart verdiente Geld in Luxusschokoladen und sparsamst eingerichtete Edelküchen fließt.

Aus den Superlativen kommt man nicht heraus, auch mit „weniger“ bleibt erhalten, was Gerhard Schulze das „Steigerungsspiel der Moderne“ nannte. Dieses Spiel folgt wie gebannt der phantasielosen Logik des „immer mehr desselben“ – auch das „weniger“ muss „mehr“ sein, nur geht es jetzt um Intensität und Luxus. Alles läuft – so Schulze – auf permanente Erweiterung hinaus, auf Perfektionierung, Vermehrung, Intensivierung, und auch die Zyklen des Erlebnis- und Warendurchlaufs werden immer kürzer. Allerdings, so Schulze, geselle sich dieser Entwicklung als „stille Sinnverschiebung“ auch das Absurde hinzu, in dem wir uns wie selbstverständlich einrichten. Sisyphos ist heute Konsument.

Zwei Entwicklungen sind es, die den Begriff „Postmaterialismus“ heute sinnlos machen. Zum einen hat sich das Prinzip des Konsumismus, das früher gleichbedeutend mit dem Begriff „Materialismus“ gebraucht wurde, beharrlich aufs Nicht-Materielle ausgedehnt, ohne allerdings das Gegenständliche außen vor zu lassen. Und es hat, zweitens, alle gesellschaftlichen Milieus und Tätigkeiten ergriffen, selbst die konsumkritischen. Augenwischerei ist es daher, wenn so genannte „Zufriedenheitsforschung“ nachweisen will, dass es glücklicher mache, Geld in Erlebnisse statt in Gegenstände zu investieren. Teure Wellness-, Bildungs- oder Abenteuerurlaube folgen demselben Muster wie der Kauf von unsinnigen Stereoanlagen oder Küchengeräten. In Abwandlung eines bekannten Buchtitels könnte man formulieren: „Wir sind nie postmateriell gewesen.“ Oder, wenn wir es waren, dann waren wir es nur für kurze Zeit. Inglehart hatte das vorausgesehen: „Langfristig wird es eine neue Synthese aus Materialismus und Postmaterialismus geben, weil es sie geben muss“, schrieb er 1989 in seinem Buch „Wertewandel“. Bezeichnenderweise hat nun auch – sehr spät – die Sinus-Studie reagiert und für 2010 die „Postmateriellen“ ersatzlos gestrichen. Jetzt ist die Rede von einem „sozialökologischen“ und einem „liberal-intellektuellen Milieu“. Die Mitglieder der Unterschicht, die früher bei Sinus „Konsum-Materialisten“ hießen, firmieren nun als „Prekäres Milieu“.

Am „Postmateriellen“ ist nur so viel wahr, dass mittlerweile die materielle Beschaffenheit von Produkten viel weniger zählt als ihr ideeller Erlebniswert. „Postmateriell“ mutet auch an, dass die in Masse hergestellten Waren selbst immer billiger werden, während das Nicht-Gegenständliche oft an Wert gewinnt, wie Kommunikation, Erlebnisindustrie, Dienstleistung an Leib und Seele. Auch scheinen sich die Dinge selbst ins Digitale aufzulösen. Was früher in Fotoalben, CD-Ständern und Bücherregalen lagerte, passt heute einfach in die Laptops, die ihrerseits immer winziger, leichter und flacher werden. Andere Gegenstände wiederum mutieren zu Giganten, wie Fernseher, die Kinoleinwand spielen, oder ganz normale PKW, die sich zu mannshohen Privatpanzern aufblähen.

Alles was weniger wird, wird an anderer Stelle mehr. Der Wohnideenmarkt Kika liefert in Österreich pro Monat durchschnittlich 41.000 Kubikmeter Ware aus, jeder der 220 deutschen Mediamärkte führt 45.000 verschiedene Artikel, die Flagshipstores bis zu 100.000, H&M braucht, nach eigenen Angaben, ganze drei Wochen, um neue Produkte zu entwerfen, herzustellen und zu vertreiben. Wer kauft das alles und vor allem wo landet das, was nicht verkauft wird? Dazu sind schwer Informationen zu bekommen. „Im Grunde verkaufen wir alle Waren, es bleibt nichts über“, heißt es bei Mediamarkt-Saturn oder auch bei Kika. Wirklich? All die Eisbärchen, Schmucksteine, Weihnachtskugeln, Deko-Hündchen, Glitzerbäumchen, Standherzen, Perlensäulen, Flauschschneebälle, Porzellanengel und Stoffpferden gehen weg? „Wir veranstalten Abverkäufe und Flohmärkte“, sagt eine Kika-Firmensprecherin. Auch wenn zu vermuten ist, dass viele der nicht verkauften Waren – vor allem die Markenartikel – anderweitig verschwinden, bleibt doch viel von dem Überfluss letztlich am Kunden hängen. Der trägt alles freiwillig nach Hause, denn keine Werbung ist so effektiv wie das Versprechen auf Rabatt, und beim Prinzip „kauf fünf, zahl drei “ übernimmt er auch einen Teil der Lager- und der späteren Entsorgungskosten.

Was wäre die Alternative? Wegbleiben! Einfach weniger tun, „less“ wirklich als „less“ begreifen, nicht als „less is more“. Doch eine wirklich post-konsumistische Gesellschaft können sich noch nicht einmal mehr die alten Postmaterialisten vorstellen. Die Konsumreflexe haben sich zu einer Art Autoimmundefekt verselbständigt. Und das Absurde, von dem Gerhard Schulze als Begleiterscheinung des Steigerungsspiels sprach, nimmt stetig zu. Schulze vermutet, dass nicht etwas ganz Anderes an die Stelle des alten Steigerungsspiels treten werde – kein großer wird Crash alles hinwegfegen –, sondern dass einfach etwas „Neues“, eine andere Lebens- und Denkform hinzutrete, was Schulze sehr mystisch als „Ankunft“ bezeichnet. „Das alte Steigerungsspiel bleibt, aber seine Macht geht zurück“, glaubt er und argumentiert weiter, dass sich „nicht die ökologische, sondern die kognitive Ressourcenknappheit“ als ein limitierender Faktor erweisen werde. Irgendwann, vielleicht, wollen und können wir nicht mehr. Irgendwann, vielleicht, ergreifen wir erschöpft die Flucht. Doch das Unheimliche an den Dingen ist, dass sie immer noch da sind, immer noch anziehen, verführen. Und schön ist das ja auch! Vielleicht löst sich der Mensch schließlich in dem ganzen Plunder auf.

Neuere Kulturtheorien jedenfalls gehen dazu über, die Dinge überhaupt nicht mehr als das absolut Andere zum Menschen zu begreifen. Der britische Anthropologe Daniel Miller (s. Freitag, 30.10. 2010) steht für einen solchen Ansatz oder Bruno Latour, der die Gegenstände selbst als „Akteure“ versteht, die zusammen mit den Menschen ein actors-network bilden. Solche Konzepte beleben, was wir als angeblich „irrationalen“ Animismus primitiver Gesellschaften kennen. Aber ist es nicht wirklich so, dass auch Dinge wie beseelt handeln? Vermutlich war der alte Meister Michel Foucault doch sehr hellsichtig, als er 1966 schrieb, der Mensch sei eine bloße Erfindung des 19. Jahrhunderts und werde verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.

Text: Andrea Roedig

Text zuerst erschienen in: Freitag