Über die dunkle Höhle und ihre Geheimnisse…

Nicht nur bei großen Film-Festivals gibt es zu Beginn jeder Vorführung diesen magischen Moment, wenn die Saallichter ausgehen, der Vorhang sich hebt, das aufgeregte Stimmengewirr aufhört und die zappelnden Gliedmaßen zur Ruhe kommen. Entlastet von jeglicher Verpflichtung folgt der Zuschauer einem festgelegten Ritual, einer Art Licht-Liturgie, und er ist bereit sich für eine festgesetzte Zeit der einzigen Lichtquelle hinzugeben, die das Dunkel durchbricht. Kino garantiert den Raum einer unkontrollierten Haltung – unwillkürlich schiebt man sich tiefer in den Sitz – ohne soziale Beobachtung und schafft so die Voraussetzung für eine veränderte Wahrnehmung. Sobald der Film beginnt setzt ein komplizierter psychischer Prozess ein. Der Zuschauer gibt sich ein Stück weit auf und tritt in eine fremde, unbekannte Welt ein. Der Alltag mit all seinen Malaisen und Verpflichtungen wird für die Zeit der Kino-Session zurückgelassen, vergessen, verdrängt. An seine Stelle treten der Kontakt und die Konfrontation mit Geschichten und Gesichtern, die neu und unbekannt sind. Abgrenzung und Identifikation werden quasi therapeutisch-vergnüglich erlebt.

Was hier passiert hat auf jeden Fall eher etwas mit einem Halluzinationsraum zu tun als mit einem „Dreamland“, wie viele der ersten frühen Kinos genannt wurden. Nein, wir träumen nicht im Kino – ganz einfach weil wir nicht schlafen – sondern wir flottieren frei zwischen eigenen und fremden Vorstellungswelten. Und das geht nur hier so. Denn die Dunkelheit, das Eingeschlossensein und die Ausrichtung des Blicks in eine Richtung sind die Grundlagen für die Konzentration auf das Filmgeschehen. Jenseits religiöser Orte wird das Kino so zu einer Stätte der Auszeit, zu einer Art Arche Noah in der Springflut elektronisch- digitaler Bilderwelten. Statt der permanenten Getriebenheit, statt dauernder Interaktion mit immer kleiner werdenden Bild- und Ton Geräten – die wir herrisch dirigieren indem wir tasten, drücken und wischen – genießen wir die gesicherte Ruhe sich Bildern hinzugeben, die im Erscheinen verschwinden.

Kino ist vielleicht einer der letzte Orte, die Passivität, Entlastung, aber auch Sammlung garantieren. Denn hier findet eine Gruppe zusammen, die Ähnliches sucht und auf Ähnliches hofft. Film affiziert unsere Sinne im Stadium des Kindlichen. Dabei sind die Lust am Schauen und die Fähigkeit zur Hingabe entscheidende Komponenten und die große Verlockung. Auch ein gehöriger Schuss Narzissmus gehört zum Kinovergnügen, denn der Zuschauer kann sich der Illusion hingeben, dass alles, was sich auf der Leinwand abspielt, auf ihn bezogen ist. Kino ist zutiefst intersubjektiv. Der Zuschauer hat den direkten Kontakt zum Film. Nichts lenkt ihn ab. Ohne dass er dabei viel darüber nachdenkt genießt er seine privilegierte Perspektive. Häufig wird im Zusammenhang mit der Schaulust im Kino von Voyeurismus geredet. Doch dieser Vergleich stimmt nur insofern, als dass der Kinozuschauer ein sich außerhalb von ihm stattfindendes Geschehen beobachtet. Hitchcock hat aus diesem Setting in seinem Film  „Das Fenster zum Hof“ eine geniale Geschichte gemacht. Wie James Stewart alias Jefferies so sitzt auch der Zuschauer im Kino, distanziert und doch innerlich beteiligt am Geschehen. „Im Kino gewesen. Geweint“, die viel zitierte Tagebuchnotiz von Franz Kafka, bringt es auf den Punkt. Wir fühlen mit Figuren, die nicht wir sind, wir machen Erfahrungen, die nicht die eigenen sind. Körperlich fast gänzlich immobil sind wir doch unterwegs in den Köpfen und Bildern, in den Gefühlen und Erlebnissen anderer. Das ist nicht nur bequem, es ist vor allen Dingen schön. Es bedeutet Fremderfahrung zu machen, Körpersensationen zu erleben, die sich nur im Kopf abspielen, für die uns im Leben die Courage, die Zeit, oder schlicht die Möglichkeiten fehlen. Dabei sind die Gefühle, die wir erleben ja echt, aber sie sind zustande gekommen über einen Leihkörper. Mit diesen reisen wir in die Fremde und kehren am Ende mit einigen Erfahrungen reicher in unsere vertraute Welt zurück. Wenn das Filmerlebnis glückt fühlen wir uns beschenkt.

Nicht zuletzt sucht der Zuschauer in der Höhle auch die sinnliche Attraktion der übergroßen Bilder, den satten Raumklang und neuerdings mit 3D auch das sogenannte „zum Greifen nah“-Erlebnis. Immer geht es dabei um Zweierlei: den Bruch mit der Wahrnehmung und den Bruch mit dem Alltag. Nur der Leinwand-Film ermöglicht diese besondere Erfahrung in dieser Konzentration. Denn die Zeit im Kino ist die Zeit der erzählten Geschichte, nicht mehr und nicht weniger. Hier haben wir keine Wahl. Und nur im Kino gelingt ein grundlegendes Paradox welches darin besteht vor der Welt geschützt zu sein und sich gleichzeitig ein Bild von ihr zu machen. Dieser Verlockung erliegt der Zuschauer – immer wieder und immer wieder neu.

Daniele Kloock