Die Kraft des Ungenauen

„Na, und bei ihm hier ist’s noch zu retten. Den kriege ich auf alle Fälle hin, dass er ordentlich wird, ein richtiger Mann.“ Sagt die Hallenser Busschaffnerin Jeanette, selbst noch unerwachsen zart, in Thomas Heises Film „Neustadt. Der Stand der Dinge“ aus dem Jahr 2000. Sie sagt die Sätze, als sie auf eine Fotografie von ihren Söhnen schaut: Tommy ist in der zweiten Klasse und macht Ärger, Paul ist kindlich, niedlich.

Wer den Film gesehen hat, wird diesen Satz nicht vergessen. Wie unbeholfen, ungeschönt, auch brutal da eine Mutter zu kapitulieren scheint vor den Schwierigkeiten, die ihr der respektlose Neunjährige bereitet. Und wie sie ihre Hoffnungen auf den nächsten richtet. Und tatsächlich steht am Anfang von „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ von 2007, Heises drittem Film über Jeanettes Familie, genau diese Szene.

Daraus spricht nicht nur eine spezifische Kontinuität des Arbeitens von Thomas Heise, sondern auch eine eigentümliche Materialerfahrung, die man bei seinen zwischen Konkretion und Abstraktion pendelnden Filmen machen kann. Man bekommt, etwa in dieser Szene, einen Eindruck von der Kostbarkeit des Materials; man meint, dem Film aufs Zelluloid blicken zu können angesichts solch scheinbar hilflos geäußerter Sätze, in denen eine Tragödie wohnt, für die es keine andere Sprache gibt.

Um Materialerfahrung geht es auch der Ausstellung „Handarbeit“, die gerade in der Galerie des Künstlerkollektivs Pony Pedro in der Köpenicker Straße gezeigt wird. Im Erdgeschoss des DDR-Neubaus, in dem früher die Heinrich-Heine-Bibliothek saß, hängen die Plakate, die der Grafiker Mark Thomann beginnend mit dem Heiner-Müller-Film „Der Ausländer“ (1987/2004) für Heises Film gemacht hat.

Die Zahl der Exponate ist, analog zu Heises Werk, überschaubar, aber substanziell. Denn Thomann fertigt Siebdrucke, in einem aufwendigen Verfahren, das in der Galerie, die zugleich Werkstatt und Büro ist, an großen Maschinen und bunten Folien erklärt werden kann. Das „Ausländer“-Plakat mit dem schwarz-grau-weiß reduzierten Müller-Portrait etwa wirkt auf den ersten Blick wie das Produkt eines jener Filter, die heute jedes Bildbearbeitungsprogramm bereithält. Erst bei näherem Hinschauen erkennt man die Handarbeit – die kleinen Ungenauigkeiten, die beim jeweils einzelnen Auftrag der verschiedenen Farben und den per Hand ausgeschnittenen Buchstaben zwangsläufig entstehen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Plakat zu „Sonnensystem“, Heises jüngstem Film über das Verhältnis zur Weltzeit, das eine indigene Kommune im Norden Argentiniens pflegt. Ein wohl und zugleich antagonistisch geordnetes Tetris aus Quadraten in sieben verschiedenen Farben, das an die Google-Buntheit des Digitalen erinnert, weil die diagonal angeordneten Farbflächen wie grobe Pixel erscheinen. Am Computer hätte man das akkurat, also ohne Überlappungen herstellen können. Aber gerade durch die „Schwächen“ des Handgemachten, gewinnt das Plakat seine Tiefe. So wie in Heises Filmen die konkreten Geschichten immer Träger eines größeren, geschichtlichen Zusammenhangs sind, sieht man Thomanns Arbeiten an, dass seine Kunst kein zwei-, sondern eigentlich ein dreidimensionales Verfahren ist: die Motive werden aus einer Folie herausgeschnitten. Weil in dem Raum auch Theaterplakate von Heises Inszenierungen am Berliner Ensemble aus den neunziger Jahren zu sehen sind, wird zudem eine künstlerische Kontinuität von DDR-Grafikern wie Grischa Meyer deutlich, die sich in Thomanns Motiven fortsetzt: ein grobes, vereinfachendes, darin aber ungemein detailgenaues Gestalten.

„Handarbeit“ zeigt also keinen Anhang zu Heises Arbeit, sondern ist integraler Bestandteil dieses Werks. Dazu passt auch, dass in der Galerie Filme von Heise-Schülern am ZKM in Karlsruhe zu sehen sind; ab Einbruch der Dunkelheit werden zudem Kurzfilme von innen auf zwei Schaufenster projiziert. Eine Maßgabe für diese Übungen war die Verwendung und Selbstentwicklung von 16-mm-Filmen. Dass daraus, wie bei den Plakaten, keine nostalgische Technikfeindlichkeit, sondern ein ästhetisch gedachtes Materialbewusstsein spricht, zeigt etwa Serpil Turhans Film „Herr Berner und die Wolokolamsker Chaussee“. Darin liest ein alter Mann mit großer Lupe Heiner Müllers Text, in dem er seine eigenen Erinnerungen an den Krieg wieder erkennt. Das Leben eines durchschnittlichen, von Reue unbeleckten SS-Mannes aktualisiert das schwere Müller-Drama. Und der körnige, fehlerhafte Zelluloidfilm wird zum letzten, kostbaren Zeugnis davon, wie nah eine fern geglaubte Vergangenheit dem Heute ist.

Text: Matthias Dell,

Fotos: Mark Thomann

Text erschienen in taz, 24.05.2011


Grafik und Film – Handarbeit – Ausstellung bis 18. Juni 2011,  Mo. bis Fr. 10-19 Uhr, Sa. 12-17 Uhr

Pony Pedro, Köpenicker Straße 100, 10179 Berlin

Die DVD „Kinder, wie die Zeit vergeht“ ist bei GMfilms erschienen.

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