Alles Abonnenten

Den Parteien geht es schlecht, was die Mitgliederzahlen angeht, den Verbänden geht es schlechter, und den Kirchen miserabel. Die Angst vor dem vielbeschworenen Zeitungssterben geht zwar vor allem auf den Verlust von Anzeigen zurück, aber die teilweise rapide schrumpfenden Zahlen von Dauerlesern gelten als finale Sargnägel. Als Gründe für diese Massenflucht aus vergleichsweise langlebigen Strukturen werden gerne die „Individualisierung“, „anspruchsvolle Nutzung von Wahlmöglichkeiten“, sowie generell das Leitbild vom triumphierenden, unsteten Connaisseur mit der Fernbedienung, der Maus und dem Handy in der Hand beschworen. Seit den 1970er Jahren wird der moderne Mensch als umtriebiger Genießer gesehen, der morgens vielleicht buddhistisch meditiert, zur Nacht probehalber mal katholisch betet, und dazwischen durch verschiedenste Arbeits- und Erlebnismöglichkeiten switcht. Durch die Verbreitung des Internets hat diese Chimäre noch zusätzliches Futter bekommen, in Texten von, sagen wir Sascha Lobo, surfen wir als fröhliche Nomaden von einem Luftgitarrenwettbewerb auf youtube über pfiffige Seiten voller politischer Diskussionen, um schließlich und endlich zufällig auf irgendeiner ordentlichen Firmenseite mit Feedback und tausend lustigen Einfällen zu landen, von der wir zuvor noch nie gehört haben. Soweit die Utopie, und sie ist eigentümlich genug. Konservativere Geister pflegen das dann zu geißeln und, und man kann es ihnen nicht mal verdenken, die Heimat, die Familie etc.pp. als Schutzräume dagegen zu setzen.

Aber trotzdem gucken sie alle „Tatort“, und für jede abbestellte Zeitung im Briefkasten landet ein unabbestellter Newsletter im Postfach.  Trotzdem nutzen die meisten „google“, trotzdem etabliert sich kein dauerhafter Konkurrent für „World of Warcraft“, trotzdem suchen alle nach vielversprechenden Fernsehserien von mindestens 50 Stunden Laufzeit, und trotzdem lesen viele Leser immer neue Bücher von den immer gleichen Autoren oder mit den immergleichen Klappentexten. Man heißt das dann hier und dort gerne „Kult“, oder „Fanverhalten“, und bei Menschen, die sich jedes Jahr zwei Bob Dylan-Konzerte geben und von der wieder einmal umgeschmissenen Setlist angetan sind, mögen solche Begriffe auch einen Sinn ergeben. Der Großteil der Konsumenten zeigt sich allerdings nicht begeistert. Die Dauernutzer granteln, geben sich gelangweilt, drohen in Permanenz damit, das Spiel nicht länger mitzuspielen, verweigern sich hier und da verbissen der Premiere, um am ersten Samstag danach seufzend und reumütig ihrer Pflicht nachzukommen. Kurz: sie verhalten sich wie klassische Abonnenten. Zumindest, was die Kultur angeht, leben wir in einer Abonnenten-Kultur wie niemals zuvor. Wir haben nur nie etwas unterschrieben.

Serien: immer die gleiche Achterbahn (jetzt auch mit Reißschwenks und Steve Buscemi)

Einmal mehr: nie zuvor verbrachte ein Hollywoodstar so viele Jahre in den Favoritenlisten wie Tom Cruise und Tom Hanks. Selbst Agatha Christie, Konsalik oder Edgar Wallace dominierten nicht über Jahrzehnte die vorderen Plätze der Bestsellerlisten, wie es Stephen King spätestens seit 1980 tut, und in Deutschland seit 1984. Und auch das schnelllebige, herzlose und sterbende Popmusikbusiness hat Phänomene wie U2 und Die Ärzte vorzuweisen.

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Fernsehserien locken mit Neuem, Ungesehenem,

mit Aufwand, Ästhetik und sperrigen Prämissen.

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Fernsehserien dagegen boten schon immer Verlässlichkeit, und genau deswegen wurden sie zu lange nicht ernst genommen. Sie waren die alten Pantoffeln für den Feierabend. Die ambitionierten Fernsehserien, meistens aus den USA, doch mittlerweile auch aus bspw. Kanda, Dänemark oder Frankreich, werden jedoch weder so gemütlich konzipiert, noch rezipiert. Sie locken mit Neuem, Ungesehenem, mit Aufwand, Ästhetik und sperrigen Prämissen. Ausdrücklich werben sie mit Machern und Darstellern aus dem gemäßigt wilden Kinofilmbereich und, selten, auch aus der Literatur und anderen Künsten. Filme sind Träume, zu kurz und trippig für ausgearbeitete Charakterstudien und elaborierte Modelle, wie die Welt vermutlich funktioniert. Nach dieser Logik müssten wir allerdings einer Flut von ausgefeilten Mehrteilern gegenüberstehen, nicht einigen vor allem von Kritikern geliebten Mehrteilen, aber vor ganzen Abteilungen in Elektronikmärkten, in denen hier „die komplette erste Staffel“, und dort „Season 5, Teil 1“ angeboten wird. Bei aller Ausgefuchstheit und Gedankenschwere arbeiten die in der Nachfolge von HBO konzipierten Serien der letzten Jahre mit weitaus verlässlicheren Bausteinen als den Überraschungen, mit denen einmal „Kottan ermittelt“, „Twin Peaks“ oder „Geister“ aufgewartet haben. Jack Bauer wird niemals Blümchenpflücken, Walter White nie einen Stepptanz aufs Parkett legen, in „Mad Men“ wird es nie eine naturalistisch aufbereitete traurige Szene geben und in „Desperate Housewives“ keine hässlichen Klamotten. Eine Folge „True Blood“ ohne schwüle Erotik ist genauso wenig denkbar wie „Six Feet Under“ ohne die makabre Eröffnungsszene. Es sind unablässig wiederholte immer gleiche Wendepunkte, monoton repetierte Aha-Erlebnisse, die diese Formate so durchexerzieren als wären es die absurden Variationen in den „Road Runner“-Cartoons. Die Vergleiche mit einem Kinofilm (außerhalb einer Reihe), der seinen Punkt nur einmal macht und die Zuschauer anschließend alleine in die Welt schickt, sind beinahe so irreführend wie die zu einem Roman, der entweder seine Charaktere oder uns im Verlauf der Handlung etwas lernen lässt, und eben nicht die Hauptfigur vor den Sommerferien Max und nach den Sommerferien Franz lieben, und im nächsten Sommer andersherum, außer, genau das ist sein Thema. In jedem vergleichbar ernsthaften Roman finden sich stilistische und erzählerische Brüche oder Nebenwege, deren Äquivalente „Boardwalk Empire“ sprengen würden und darum auch nicht einmal in Ansätzen zugelassen werden. Dass die neuen Fernsehformate dennoch allerorten mit Literatur verglichen werden, sagt mehr über den derzeitigen Umgang mit Literatur aus.

Ist der Abo-Leser eine neue Gattung?

Rappelvolle private Bücherschränke bersten vor Werken von Jonathan Kellerman, und der Besitzer ist kein Liebhaber von Krimis, ja nicht einmal von den Romanen Kellermans, er holt sich nur regelmäßig die neueste Fuhre im Buchladen ab, ist milde gefesselt und leise enttäuscht, und die Welt ist in Ordnung. Das ist nun mal sein Autor, da bleibt er am Ball, so wie in früheren Zeiten die „Frankfurter Rundschau“ seine Zeitung gewesen wäre. Kellermans (oder Rankins oder oders) Werke werden dabei durchaus nicht als Wegwerffutter weggeputzt, genau so wenig wie „The Sopranos“-Apologeten offen Soaps folgen würden und auf den entscheidenden Unterschieden beharren. Andere gucken sich ein zweites Mal durch fünf Staffeln „Lost“, weil sie es beim ersten Mal frustriert hat, und beabsichtigen, sich erst einmal nur die erste Staffel „Deadwood“ vorzunehmen, weil es „nicht schlecht“ sein soll. Nicht wenige warten furchtsam auf drei überlange Filme zum „Kleinen Hobbit“ und maulen im Vorfeld darüber, weil sie den „Herrn der Ringe“ doch schon gesehen haben. Mit der gleichen Unlust wären sie früher in der SPD oder der katholischen Kirche verblieben.

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Milde gefesselt und leise enttäuscht,

und die Welt ist in Ordnung.

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Der Unterschied zu den an anderer Stelle beschriebenen Exegesen von wirr wuchernden Meta-Erzählungen liegt darin, dass diese Rezipienten eben nicht nach der großen Geschichte suchen, in ihr leben und denken wollen, sondern ihre kulturelle Diät als ein alltägliches Verputzen kleiner Formen nehmen. Als Routine, nicht als Gottesdienst. Uns fehlen noch immer die Begriffe dafür. „Ich verehre Paul Auster“ ist eine andere Aussage als „Ich lese Paul Auster spätestens  im Taschenbuch, aber denke sonst nie über ihn nach.“ „Ich sehe „Lost“ ganz gerne.“ – meint das wohlwollendes Hineinzappen, einen Ausstieg nach der zweiten Staffel oder das komplette Epos neben dem Bett?  Gab es das nicht schon immer? Wirklich? In dieser Schlagfrequenz bei Veröffentlichungen, mit dieser zufriedenen Resignation auf Konsumentenseite, mit diesem Ausmaß an investierter Zeit und investiertem Geld für etwas, das nicht bitzelt, kickt oder den Tag aus seinem Trott reißt, wie es von der Kultur jenseits des Heftromans üblicherweise gefordert wird? Es wäre auch falsch, hier von einer „Ästhetisierung des Lebens“ oder einer „Aufwertung der Kultur“ zu sprechen, wie es manche Kulturskeptiker formulieren könnten, denn die Haltung des Dauerkonsumenten ist jenseits eines grundsätzlichem Qualitätsverständnis (gediegen soll es sein, Biss soll es haben, Emotionen sollen angesprochen werden) ostentativ anti-künstlerisch. Kein literarischer Kritiker hat die  zumindest in der Phantastik interessanten stilistischen Eigenheiten von J. K. Rowling je so kategorisch abgewatscht wie die vom „plötzlichen Todesfall“ enttäuschten „Harry Potter“-Leser (die, wieder geht es hier nicht um ausgesprochene Fans, durch die Bank alle nicht zufrieden mit dem Gesamtwerk „Harry Potter“ zu sein scheinen, und es trotzdem „genial“ nennen, als wären sie gemäßigte Anhänger ihres regionalen Fußballvereins).

Die Abonnentenkultur ist, zunächst, einmal ein Wunschtraum auf der Produzenten–, genauer: Marketingseite. Der offen herumhopsende Konsument, der sich spontan für einen Film entscheidet, eine möglicherweise interessante Musik antestet und in der Buchhandlung unschlüssig und beglückt in den verschiedensten Bänden herumblättert, diese Idealvorstellung des mündigen Kulturnutzers, ist ihr Schreckgespenst. Viel zu viel Streuverlust bei der Werbung, viel zu viele Unwägbarkeiten. Es ist kein Zufall, dass so viele Abo-Phänomene einerseits aus den 1980er Jahren stammen, in denen zumindest in Amerika die aktuelle Marketingplanung auch und gerade auf die Kultur überschwappte, andererseits und noch einmal verstärkt aus der Zeit um die Jahrtausendwende, als die Zeiten rauer, und Lektoren durch Betriebswirte ersetzt wurden. Heutige Literaturagenturen fordern vom Autor gerne knallhart eine klar definierte Zielgruppe (er soll eindeutig entscheiden, welches Abonnentenpublikum von welchem Theater er möglichst ausschließlich zu bespielen versucht), und „Leser“ sind das nicht, diese Gruppe wurde mundgerecht aufgeteilt, ihrer alten Bedeutung entsprechen noch am ehesten „die gebildeten Frauen über 40, die sich an der SZ-Bestenliste orientieren“, und ein brauchbarer Ersatz kann das kaum sein. Einher geht damit die Einschüchterung der Rezensentenseite. Immer weniger Pressevorführungen bei Filmen unter immer strengeren Auflagen und immer offenere Drohungen mit zurückgezogenen Anzeigen aus dem Verlags- und Labelbereich angesichts irritierender Kritik sollen verhindern, dass die Abonnenten aus ihren halbbewussten Zwangshandlungen aufgeschreckt werden. Die Werbeetats sind ja auch exorbitant genug und sollen nicht für die Katz gewesen sein. Hingekullerte Internet- Bewertungen können angeblich die entstehende Lücke füllen, faktisch sollen sie genau das nicht.

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Wir brauchen die Absicherung, die Wiederholung,

die kurzen Schrecken und den Trost häufiger,

heftiger und anders als in früheren Zeiten.

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Wenn in den 1970er Jahren Konzerte der Grateful Dead und Filme von Woody Allen mit einer frühen Form des Abonnentenverhaltens konsumiert wurden, besetzten sie damit vergleichsweise kleine und ungewohnte Nischen, es war kein Geschäftsmodell für den ganzen Kulturbetrieb.

Markenbisse (nicht nur von Vampiren)

Wer heute auf einen beliebigen Buchhandlungstisch mit Thrillern schaut, stößt auf Reihen. Nicht auf die altmodischen, erkennbaren klassischen Reihen wie die „Bibliothek der Phantastik“, die „Edition Suhrkamp“ oder schwarzgelbe Diogenes-Krimis. Sondern auf die Kreise von „Shades of Grey“, die beinahe weißen Thrillerumschläge mit übergroßen wuchtigen Buchstaben, Stephen Kings Namen in bunter Krakelschrift, die abgedunkelten Idyllen von skandinavischen Krimis, und vor allem auf Klappentexte, die speziell bei Mordserien, Vampiren und Frauen, die endlich Selbstbewusstsein finden, einander gerne Wort für Wort kopieren und auch bei unterschiedlichen Verlagen offensichtlich vom gleichen Algorithmus generiert werden. Ist der Autor, die Autorin groß genug, bildet der Name die Serie (niemand würde heute noch Stephen King mit Titelbildern versehen, die zu Verwechslungen mit Vampirromanen führen könnten, wie es noch in den 1980ern üblich war). Ist eine Einzelserie umfangreich oder erfolgreich genug, wird ihr ein eigenes graphisches Design verpasst (Donna Leons Romane dürfen lieblicher anmuten als die der Konkurrenz, weil hier die Postkartenansichten von Venedig das griffige Konzept bilden). In der Mehrzahl der Fälle aber wird aus verschiedenen kleineren Reihen kleinerer Autoren ein großer, wuchtiger Markt geschaffen, der eben nicht als Marktsegment funktioniert (Fantasyromane waren immer anders gestaltet als Politthriller), sondern über Verlagsgrenzen hinweg Einheit suggeriert. Das Besondere, früher Kernelement jeder Werbung, wird heruntergespielt, das Verbindende betont, „Kunden, die dies kauften, kauften auch.“

Hollywood dagegen produziert mittlerweile offen in Serie, und in der Popmusik wird bald aus jedem Track des Albums von Lana Del Rey eine Single gepresst werden. Das gab es zum ersten Mal bei „Thriller“, ja in den 1980ern, damals bei deutlich höheren Verkaufszahlen.

Wer sollte einen Geheimagenten für das Jahr 2012 lancieren, wenn laut Sony die Marke James Bond eine unvergleichliche Bekanntheit besitzt? Ein neues Phänomen wie die „Bondmania“ bzw. „Bonditis“ der 1960er Jahre wird dabei nicht entstehen, aber es reicht, wenn die Kunden ihr Abo verlängern, und der neue Film wird ja auch als viel besser empfunden als der Letzte. Soweit die Macher, einmal mehr, doch was ist mit den Abonnenten?

Dauerschocks und Dauertrost (und morgen wird immer alles anders)

Beliebig ist die Wahl der Dauerdroge sicher nicht, und natürlich hat sie eine weltanschauliche Dimension. Ob sich jemand Tag für Tag ein bisschen stärker korrumpiert fühlt wie Walter White in „Breaking Bad“ und insgeheim darauf hofft, dabei wenigstens eine genau so coole Figur abzugeben, ist  etwas anderes, als 5 Staffeln lang in der sexy Vergeblichkeit von „Six Feet Under“ zu schwelgen. Doch es kann kein Zufall sein, dass ausgerechnet die umbrausten 1960er Jahre so wenig an fesselnden Langzeitgeschichten zu bieten hatten, und dass die, die sie dann doch für eine allgemeine Öffentlichkeit hervorbrachten, von „Star Trek“ über Bond, von Emma Peel bis zum „Prisoner“ auf unterschiedlichste Art von Aufbruch und Ausbruch erzählten. Nein, wir brauchen die Absicherung, die Wiederholung, die kurzen Schrecken und den Trost häufiger, heftiger und anders als frühere Zeiten. Jeden Tag Erschütterungen, jeden Tag die Versicherung, dass sie sich noch im normalen Rahmen bewegen, und so leben wir wie in einer Warteschleife, halten uns an die halbwegs glaubwürdigen Fürsprecher und Stellvertreter, die wir uns auserkoren haben, und wenn sie uns sagen, was wir schon wissen, wenn sie triumphieren und straucheln wie immer, sind wir angenehm enttäuscht. Und wir durchschauen das Spiel, wir pflegen eine leise Verachtung gegenüber genau den Mustern, die wir erwarten und fordern. Wir erlauben uns eine Ironie ihnen gegenüber wie gegenüber einer robusten und senilen Lieblingtante, die in der Ecke des Wohnzimmers sitzt. Auf der Website phantastik-couch.de finden sich launige Diskussionen des Inhalts, dass die letzten 10 Romane von Stephen King (dem freiwilligen Inbegriff des Abokünstlers) nicht sonderlich doll wären, aber „eine langsame Rückkehr zu alter Form“, und das betrifft geschätzte 6.000 Seiten, die ja erst einmal gelesen werden müssen. In diesem Rahmen wird der „Großmeister des Horrors“ mit seinen literarischen Macken und Eigenplagiaten bespöttelt, doch nirgendwo finden sich Hinweise darauf, dass diese eloquenten Dauerleser sich anderen Autoren zuwenden wollen oder nach dem Meisterwerk des Horrors suchen. Das wäre nicht mehr so gemütlich, da würde auch fundierte Kritik, die bei diesem Verhalten ja nicht nur als Simulation eine Rolle spielt, schwieriger werden. Die im Abo genutzten Künstler und Formate entsprechen vielleicht tatsächlich den früheren Leitartikeln und Lieblingskommentatoren. Dass sich diese Funktion von der Non-fiction in die Fiktion verlagert hat, bedeutet vielleicht einfach, dass wir uns einer großen Erzählung (einer Weltsicht, einem Glauben, oder einfach einigen Grundüberzeugungen wie der, dass bspw. die Schwerkraft so und so wirkt oder dass Ehrlichkeit das Leben verbessert), die uns trägt, nicht mehr sicher sind. Und dass wir unter dem Sperrfeuer von Informationen, die uns unsere quasi-abonnierten Internetdienste und die täglichen Nachrichten liefern (die sind nicht wie eine Zeitung, die sind einfach da, und dafür sorgen wir mit Klicks, die wir erledigen wie das Schuhezubinden), Hinweise brauchen, wie sich denn nun das Individuum mit all seinen Brüchen und Träumen konkret in dem ganzen Schlamassel dieser Welt verhalten könnte, und die kann uns nur die Fiktion mit ihrer Vermittlerrolle zwischen Innen und Außen liefern. Manche sind sicherlich mit Reality-Formaten voll schlichter und verlogener Heldengeschichten zufrieden, andere, vor allem aus einer bildungsbürgerähnlichen Schicht, verlangen ein paar Nuancen mehr, ohne sich gleich einer sperrigen Konfrontation, einem verunsichernden Einzelwerk aussetzen zu wollen. Für das Vertrauen auf Vereine, Kirchen, Parteien, kurz: vergleichsweise rationale soziale Organisationen, ist uns die Welt zu verrückt und verdächtig, und wir sind zu sehr mit unseren Einzelkämpfen beschäftigt. Wir brauchen  eher tiefenpsychologische Rückendeckung zum ganz alltäglichen Weitermachen. Serien, Reihen, zielgruppenoptimierte Ähnlichwerke, berechenbare Lieblingskünstler, sind zugleich große Welt und gute Stube, Abenteuer und Türzu. Sie sind das wohlige „Beinahe“. Beinahe hätten wir uns einen neuen Film angesehen, haben uns dann doch für eine neue Folge entschieden, die uns beinahe ganz merkwürdig erwischt hat (aber vielleicht war auch die Dosensuppe nicht gut), die uns beinahe verärgert und beinahe erfreut hat, aber so ist halt diese Serie, es war beinahe wie eine neue Erfahrung, und beinahe ändern wir unser Leben und die Welt ab morgen. Und über die unscharfen Stellen und die Fragezeichen dabei schlafen wir erst einmal, falls wir nicht einfach doch noch eine weitere Folge ansehen.

 

Florian Schwebel