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Ist Nichtrauchen gefährlich?

In 20 Jahren werden die Flohmärkte überquellen von telefonbuchdicken Schwarten, groß gedruckt, dann bekleckert, verschmiert und mit verbogenem Rücken, Relikte einer vergangenen, fernen Zeit, unappetitlich und von ranziger Nostalgie. Sie werden im Nieselregen auf den Plätzen liegen bleiben, wenn alles abgeräumt ist. Und sie handeln vom Nichtrauchen.

Frühere schnell vergessene Megaseller, die kein Antiquariat annimmt, behandelten Toast Hawaii, den Atomtod, erotische Etikette und die Perestroika oder waren Erzählungen, die zu ihrer Zeit wie Traubenzucker ins Blut schossen, aber schnell unlesbar wurden „Love story“ (eine Zeit lang der erfolgreichste Roman aller Zeiten, dann lange vergriffen), „Das Tal der Puppen“.

Der Streit ums Rauchen ist ein Kulturphänomen. Unabhängig davon, dass Rauchen süchtig macht, Krankheiten verursacht und  Gardinen mit einem ekligen Film überzieht (das wusste man auch schon eine Weile). Ob eine Gesellschaft ihren Mitgliedern verqualmte Arztwartezimmer zumutet, oder ihnen nikotinfreie Luft auf den schmalen Gehsteigen neben dreispurigen Straßen bescheren möchte, ist Abmachungssache. Der Staat spielt in der derzeitigen Debatte eine Doppelrolle, die gerne in Verschwörungstheorien ausgearbeitet wird: er verdient am Verkauf der Zigaretten und kriminalisiert ihren Konsum nach und nach. Für avanciertere Wahnmodelle gibt’s da noch ein Tauziehen zwischen den Ländern und dem Bund, dem Bund und der EU, der EU und Nordamerika, jeweils mit einer eigenen geheimen Agenda.

Aber das wirkliche Spiel findet, wie alle gesellschaftlichen Verhandlungen, im großen allgemeinen Hin und Her das Alltags statt. Und im Zentrum (auch wenn man sicher sein kann, das es nicht der Auslöser des Geschreis war) steht ein Buch im hässlichen Blau von Versicherungs-Broschüren, natürlich „Endlich Nichtraucher!“ von Allen Carr. Allen Carr hat noch weitere Bücher geschrieben (übers Abnehmen und über Alkohol und das allgemeine Glück), und es wurden noch weitere Bestseller über das Nichtrauchen geschrieben, und weitere Bücher in Carrs Manier über andere Themen. Eine neue Form der Literatur ist entstanden (hübsch parodiert in „Endlich Nichtleser“ von Gion M. Cavelty), die in die Schönheit der Welt in abstoßenden Papierklötzen feiert und mit einpeitschenden Slogans den entspannten freien Willen fördern will.

„Endlich Nichtraucher!“ (1992) ist, das geben sogar Carrs Anhänger zu, kein sonderlich brillantes Werk. Dafür ist es „die Wahrheit“. Am Anfang des Buchs wird ein Versprechen gemacht – dass die Leser auf den folgenden Seiten nicht überrumpelt, verführt und zu irgend etwas gezwungen werden. Das hat sich zum üblichen Stilmittel bei vergleichbaren Büchern entwickelt. Diesem ziemlich beunruhigenden Einstieg (keinem Werber am Telefon und keinem Wanderprediger auf der Straße ließe man ihm durchgehen) folgt eine erschütternde Enthüllung, genauer: DIE erschütternde Enthüllung aller Zeiten und Orte: Wir alle wurden belogen und leben in einem Zustand der Mystifikation. Dabei haben uns gleich zwei große Verblendungsgruppen unsere Gedanken systematisch verbogen (und arbeiten möglicherweise insgeheim, ungewollt ohnehin, Hand in Hand zusammen): Die Zigarettenkonzerne samt ihrer Werbeapparate und Anwälte, die uns gesagt haben, Rauchen sei schön und ungefährlich UND die Mahner und Helfer vor Carr, die gesagt haben, das Aufhören sei schwierig und schmerzhaft. Nun enthüllt Carr das Geheimnis: Rauchen ist eine schwache körperliche Sucht, von allen Seiten verbrämt und aufgeblasen. Der Kaiser ist nackt. Der Entzug macht nicht sonderlich viel Spaß, aber danach winkt bald ein erfüllteres Leben. Diese Volte von Carr (lassen wir seine Nachfolger mal freundlich beiseite) verdient Respekt. Sie erinnert an die großen vereinfachenden Würfe von Marx und Freud, banale wirtschaftliche Kämpfe bzw. planloses sexuelles Begehren aus all dem Kuddelmuddel der Weltgeschichte herauszuschälen, eine Erbse unter all den Matratzen. Beide sahen sich (zumindest Freud ganz bewusst) in der Tradition mutiger Philosophen und Propheten. Wenn man will, kann man in Carr sogar einen kleinen Adorno mit Happyend sehen, überall wirken die Verblendungszusammenhänge, aber weg mit der Kippe, und die Welt wird wieder klar. Nun lässt sich einwenden, dass Zigaretten wirklich schädlich sind und Raucher wirklich unter ihnen leiden. Dagegen lässt sich so wenig sagen wie gegen die Heilsamkeit des Penicilin, die Erkenntnis, dass regelmäßiges Waschen gut für die Gesundheit ist (vor 100 Jahren noch ein Streitpunkt) oder dass PKWs unser aller Tod sein könnten. Nur wurden oder werden diese Diskussionen nicht annähernd ähnlich beseelt geführt. In einer Zeit, in der soviel Amerikaner an Engel wie an die Klima-Veränderung glauben und die Evolutionslehre wieder einmal gegen den von Gott „designten“ Menschen auf dem Prüfstand steht, wird deutlicher denn je, dass Debatten meist recht wenig mit Erkenntnissen und der allgemeinen Dringlichkeit von Problemen zu tun haben. Rauchen ist an sich ein brisantes Problem für Raucher und die, die ihnen nahe stehen (oder mit ihnen darüber verhandeln, wie weit weg von was geraucht wird). Weder der frühere Zwang zum allgemeinen Passivrauchen noch die jetzt anvisierte rauchfreie Gesellschaft scheinen sich aus dieser mittelschweren Sucht notwendig zu ergeben.

Kluge (rauchende) Kolumnisten haben in den letzten Jahren einen neuen „Gesundheitsterror“ heraufziehen sehen, und sie haben damit sicher zum Teil Recht. Aber nach wie vor erstreckt der sich bspw. nicht auf den Alkohol (die schärfere Gesetzgebung gegenüber Jugendlichen hat eher etwas mit fortschreitender Globalisierung zu tun und mit einer tatsächlichen Zunahme an jugendlichen Alkoholtoten), kaum auf die Ernährung, nie auf den Elektrosmog und auf Umweltgifte. Nein, der Schwerpunkt liegt nicht auf der gesunden, sondern auf der fitten Person, als Einzelperson. Welche Rolle spielt dabei das Rauchen?

Ein ziemlich erfolgloser Zeitgenosse von Carrs ersten Versuchen war „Zur Psychologie des blauen Dunstes“ des ansonsten sehr populären Lebenshelfers Rüdiger Dahlke (hier zusammen mit seiner Frau Margit). Dieser unvergleichlich lesbareren (wenn man sich einmal an Dahlkes notorische Manierismen gewöhnt hat) und reflektierteren Nichtraucherfibel fehlt schlicht Carrs strenger Drive und seine Götzendämmerung. Die Dahlkes beschreiben ebenfalls die milde körperliche Sucht und ihre dramatischen Langzeitwirkungen, versuchen sich anschließend an einer Typologie des Rauchens (Kommunikationsraucher,  Lustraucher, Wutraucher, Genussraucher usw.) und schlagen für jeden alternative Betätigungen vor (was sich beim Abdecken verschiedener Merkmale schnell zu einem ausgedehnten Wochenprogramm summiert). Sie interessieren sich vor allem für die Schädigung der „Kommunikationsorgane“ Lunge, Haut und Stimme. Sie plädieren für „bewusstes Rauchen“ mit dem Fernziel des Nichtrauchens, und dabei kommen sie auf etwa zwei Zigaretten am Tag, die das Individuum im Vollbesitz seiner Achtsamkeit überhaupt aushalten könne. Das gilt selbst unter Ärzten als vertretbare Dosis, Problem also gelöst. Das Buch ist längst vergriffen. Eine besser laufende spätere CD von Dahlke, die das Thema ebenfalls bei der Wurzel packen will, erinnert in einer Tiefenentspannung an erste Raucherlebnisse, an das Körpergefühl mit und ohne Rauch usw. und erfüllt bei denen ihren Zweck, die Dahlkes frostiges beseeltes Lächeln in der weihevollen Stimme nicht dazu inspiriert, auf die Straße zu laufen und einen unschuldigen Passanten zu erwürgen. Oder sich wenigstens eine Zigarette anzustecken.

In ihrem Buch graben die Dahlkes dankenswerterweise den Anfang des modernen Massenrauchens wieder aus: den ersten Weltkrieg. Essen war chronisch knapp, der Krieg der bis dato gemeinste, die Front unklar, öde und gefährlich. Aber die Soldaten wurden großzügig mit Zigaretten versorgt. Der etwas paradoxe medizinische Effekt der Zigaretten, gleichzeitig stimulierend und dämpfend zu wirken, taugte gegen Angst, Hunger, Müdigkeit und alle Arten von Frustrationen. Ob das ausgemergelte junge Kanonenfutter je wieder die Sonne sehen würde, erst einmal hatte es Zigaretten, immer praktisch verfügbar im Tornister. Eine abgemilderte Version davon finden wir in der rauchgeschwängerten angespannten Lethargie von Internaten, Nervenkliniken und Strafanstalten.

Kulturgeschichten der Genussmittel (z. B. „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ von Wolfgang Schivelbusch, Frankfurt, 1990) verweisen auf die industrielle Revolution, das moderne Arbeitsleben und die damit verzahnte Arbeitsethik. Kolonialwaren galten als exotische, erkämpfte Wundermittel beim harten Geschäft der weiteren Expansion. Und während in dekadenten Kreisen bei einer Schokolade die Füße hochgelegt wurden, wurde mit Kaffee und Zigaretten gearbeitet (beide steigern interessanterweise deutlich die Hypnotisierbarkeit). Bis heute ist es schwer, ein Gespräch mit der Begründung zu unterbrechen, mal kurz an Blumen riechen zu wollen, aber die Zigarettenpause wird trotz gesellschaftlicher Ächtung immer noch gewährt. Kaffee und Zigaretten bleibt die Traumkombination für geistige Arbeit, bis hin zu ihrer absurden Apotheose bei Jim Jarmush.

Überquellende Aschenbecher und Kaffeeflecken auf wirr voll geschriebenen Zetteln sind im Film vielleicht weitgehend verschwunden (während dieses Tableau vor allem vom Film geprägt wurde, von den Tischen gehetzter Enthüllungsreporter in den 40ern und 50ern), in der Realität signalisieren sie immer noch einen harten Arbeitstag, vor allem in alternativeren Kreisen. Die Zigarette markiert dabei das Revier und ist besser als keine Belohnung, der beißende Dunst zieht den Vorhang um die Arbeit, und wenn es sonst nichts zu tun gibt, bleibt immer noch das Anzünden. Interessante Seitenwege mit einer eigenen Mythologie sind der gepflegte Tee und die frische, synthetische Cola.

Der klassische moderne Erfolgsmann war nicht attraktiv und sollte es auch nicht sein. Gerhard Schröder ist nicht metrosexuell. Schönheit und ein frischer Atem waren etwas für Gigolos oder für bisexuelle Popstars. Die rauchende Frau (in der Öffentlichkeit akzeptiert etwa seit den 60ern) galt dagegen erst als verrucht attraktiv und als eine Art Herrenwitz (Carmen arbeitet nicht in einer Bäckerei), dann als modern attraktiv, wollte das aber nicht unbedingt signalisieren, sondern gleichberechtigt mitarbeiten und die Gardinen ruinieren (nicht waschen).

Nach einem langen Weg, über die Schwulenbewegung, über die erste Fitnesswelle, über den Siegeszug der Fitnessstudios, über den Postfeminismus, über ausgedehnte Arbeitszeiten und  die Kampagnen der zitternden Krankenkassen, und schließlich natürlich auch über festgeklopfte medizinische Erkenntnisse und ein paar spektakuläre Prozesse, wurde der fitte Mensch zum bevorzugten Lohnempfänger. Und der rauchte nicht. Er kämpfte pausenlos, aber sah nicht abgekämpft aus. In Leistungsträgerkreisen (die dennoch chauvinistisch waren wie eh und je) galt das für Männer noch stärker als für Frauen (und in intellektuelleren Kreisen sagte nun laut die kluge Frau zum klugen Mann: „Versuch, gut auszusehen und die Klappe zu halten.“). Und nach ein paar weiteren Drehungen der Schraube, mit der Sehnsucht nach Wellness und dem Wegbrechen der klassischen Arbeitsplätze, ist die Zigarette jenseits der subkulturellen Milieus vom Aufsteigersymbol zum Merkmal der Ausgezählten geworden. Rauchen ist nun ein Synonym für die Unterschicht, für die schmutzige Masse vor den Toren, die keine Disziplin kennt, sich Mattigkeit und Hässlichkeit leisten kann, und den Gaumen nicht für Weinverkostungen benötigt.

An diesem Punkt wollen uns die Bücher „Die Rauchgiftfalle“ von Franz Wilhelm Bauer und „Der sanfte Weg zum Nichtrauchen: Erfolg ohne zu kämpfen“ von Vera Kaltwasser abholen. „Die Rauchgiftfalle“ setzt ganz auf den Ekeleffekt. Tiefes Leiden, Selbsthass und immer wieder diese Gardinen – das ist vor allem, was Bauer selbstironisch ausbreitet. „Der sanfte Weg zum Nichtrauchen“ setzt dagegen tiefer und ruhiger an, fordert keine dramatische Entscheidung, sondern einen anvisierten Termin in über einer Woche, greift das schlechte Selbstbild, von dem die Dahlkes noch nichts wussten, auf und geleitet mit ähnlichen tiefenpsychologischen Überlegungen, dazu mit Visualisierungen und Atemübungen in ein Leben ohne Hustenreiz, mit reicheren Farben, Gerüchen und mit empfänglichen Geschmacksnerven. Kein Tamtam und auch wenig Spuren von jener klaustrophobischen gehobenen Betulichkeit, die die Grenzbereiche der Esoterik so häufig auszeichnet. Ein Stolperstein, bei aller Liebe zum Tao, bleibt allerdings Kaltwassers Betonung des Qigong als Allheilmittel gegen Sucht und Entzug, das die Hälfte des Textes ausmacht.

Allen Carrs Methode (patentiert als „easyway“ und längst im Zentrum eines Therapiekonzerns, der u.a. auch ein entsprechendes Nintendo – Spiel lanciert hat) weiß ganz sicher nichts von Qigong. Selbst seine groteske Formulierung, dass Rauchen ein Problem wäre wie die Atombombe zeigt noch seine Generationenzugehörigkeit. Entsprechend hält er sich an den einfachen Behaviourismus der 50er: bleiben lassen, durchhalten, sich über die  Folgen klar werden. Er macht, mit guten Argumenten, deutlich, warum Raucher sich dumm fühlen sollten, und sie fühlen sich nach der Lektüre seiner Bücher auch dumm. Bei Millionen von Menschen scheint das auszureichen. Carr operiert alleine auf der Ebene des gesellschaftlichen Über – Ichs. Neurosen, und nehmen wir mal Süchte als Neurosen, sind aber immer auch ein schwacher, selbstzerstörerischer Protest dagegen, und dumm fühlen sich Menschen mit Symptomen sowieso. Vermutlich klopft sich kein Paranoiker auf die Schulter, wenn er endlich wieder mal ein Wahngebilde auskostet, und kein Choleriker klebt sich zwischen kaputt geschmissenen Tassen einen Smiley in den Kalender. Die Neurose ist, laut Jung, immer Ersatz für berechtigtes Leiden. Ein scheinbarer Ausweg. Die Psychologie spricht gerne von den „Sekundärgewinnen“ von Problemen, dem kurzfristigen Nutzen. Gerade die scheinbar unangenehmen Nebenwirkungen sind aus dieser Sicht das angestrebte Ziel. Die Zigarette ist der (widersprüchliche) Genuss, doch der Zweck der Zigarette sind die Begleiterscheinungen. Rauchen ist abstoßend und macht ab einem gewissen Quantum träge, blockiert die Sinneseindrücke, isoliert und kann das Leben verkürzen. Vielleicht steckt eine tiefe Sehnsucht darin, das Rattenrennen einmal hinter sich zu lassen (und im Nebel zum Beispiel an Blumen zu riechen). Und vielleicht wird eine wirre Form dieser Sehnsucht in den aus den Boden schießenden Raucherclubs und Rauchercliquen zelebriert, die Zigaretten mit einer toughness und sexyness aufladen wollen, die sie nun wirklich nicht besitzen.

Hinter den gelben Gardinen liegt Schnee und hinter dem Qualm die Welt, und irgendwann weisen wir einander lächelnd auf alte vergilbte Schwarten beim Flohmarkt hin, egal ob als Raucher oder als Nichtraucher.


Autor: Florian Schwebel

Text geschrieben Januar 2010

Text: veröffentlicht in GETIDAN.DE