Im Verlauf der Medien-Kampagnen rund um die Wahl hat es, sozusagen vom südlichen Rand her kommend, Edmund Stoiber wohl als einziger zu einem wirklich neuen Profil, vor allem aber zu einer neuen Medienstrategie gebracht. Das Markenzeichen Kohl hat sich langsam und zäh verbraucht, dennoch gewinnt es in der „heißen Phase“ des Wahlkampfes ständig gegenüber Schröder, dessen allzu einfach gestricktes Image sich offenkundig noch rascher verbraucht. Wir haben ihn noch nicht einmal gewählt, da beginnt er schon, uns zu langweilen.

Edmund Stoiber ist kein bisschen aufregender. Aber er hat eine andere Form der medialen Präsenz. Er ist nicht mehr die isolierte Politikerperson, sondern der populistisch vernetzte Repräsentant der rechten Mitte. Jedenfalls hat er in diesem Wahlkampf nicht nur den meisten medialen Wirbel entfaltet, im regionalen wie im bundesweiten Maßstab (etwa in seinem Auftritt bei „Zweikampf“, wo er die hohe Kunst vorführte, ein Gegenüber, den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement, so nieder zuquasseln, daß selbst in einer Frage noch mehr Propaganda steckt, als man in einer rhetorischen Riposte bearbeiten kann, selbst wenn einem das Sendeformat die Zeit dazu gegeben hätte). Noch mehr als Schröder ist Stoiber die fleischgewordene Antwort auf das paradoxe Verlangen des deutschen Wählers, der  hofft, daß sich irgend etwas ändert, und daß gleichzeitig doch alles beim alten bleibt.

Stoiber ist das einzige „Gesamtkunstwerk“ dieses Wahlkampfes, in Quantität und Qualität unschlagbar als der Verkünder eines sehr einfachen und doch komplizierten Programms: Laptops und Lederhosen. Das ist zunächst nichts anderes als die medial verschärfte Aussage der populistischen Rechten seit jeher: Modernisierung der Produktion, Reaktion im Bewußtsein. Technischer Fortschritt und politische Regression. Alles im Wahlkampf, alles in seiner medialen Präsenz ist auf diese simple Gleichung von ökonomischer Beschleunigung und trautem Glück der alten Zeit gerichtet.

Stoiber ist einerseits der streitbare Ministerpräsident, der seinen Bonus gnadenlos ausnutzt, und andererseits ist er Mittelpunkt einer Art Familienserie. „Die Stoibers“ heißt ein Plakat und zeigt in der klassischen Bildaufteilung das harmonische Leben im Reihenhausglück: Frau Stoiber links (mit viel Raum und Natur dahinter) und Herr Stoiber rechts, sie überragend, freundlich. Diese Stoibers sind allgegenwärtig. So wird eine Zeitung verteilt, die im Layout schamlos dem der lokalen Zeitung nachempfunden ist (die, bequemerweise, schon in der passenden politischen Richtung arbeitet) in der Stoiber mit Frau wieder zur Nachricht wird, und die Schlagzeile verkündet: „Mit Stoiber bleibt unsere Heimat liebenswert“). Das Gesamtkunstwerk Stoiber behandelt nichts anderes als den Umbau der bayerischen Gesellschaft von einer agrarischen in eine technologische Ökonomie unter Beibehaltung der alten „ländlichen“ Kultur bzw. ihrer Simulation. Und er behandelt die Abwehr des Fremden, nicht allein mit den gängigen Parolen gegen „Mißbrauch des Gastrechts“ und „kriminelle Ausländer“, die so austariert sind, daß sie immer gerade noch weniger eindeutig sind als die Parolen der ausgewiesenen Rechtsextremen nebenan. Immer wieder in ungefähr acht Fernseh- und zwanzig Rundfunksendungen eines Wochenendes wiederholt sich Stoibers hämisches Verdikt gegen den politischen Gegner: „Was will der bei uns? Was will der bei uns, meine Damen und Herren!“ So etwas reißt sich gleichsam selbst aus dem Zusammenhang, es wird ein Dramolett, das so viel bedeutet wie eine lila Kuh.

Der Populismus von Renate Schmidt, der „Herausforderin“, die beim Harald Schmidt-Fernsehen ins Schwanken geraten muss, wirkt dagegen angestrengt und aufgesetzt. Sie schafft auch nicht, wie Edmund Stoiber „zu Gast“ in den Lokalredaktionen sinnarme aber zuversichtliche Schlagzeilen zu produzieren wie „Stoiber sieht Durchbruch in Europa“ (was sich in Nachbarschaft eines Bayern-Bildes zu Eröffnung des „König Ludwig-Festspielhauses“ besonders gut macht).

Die Stoibers treten in einem Doppelkrieg an, natürlich zunächst gegen Renate Schmidt, die vielleicht eine nette Familie hat, aber politisch gesehen doch eine freie Radikale ist. Es gibt sie nicht, „die Schmidts“, wie es die Stoibers gibt, eine Familie, der man am liebsten beim Frühstücken auf der Terrasse zuschauen möchte. Frau Schmidt inszeniert sich offensichtlich ein klein wenig zu sehr als auch erotisch interessante Frau, um im Mainstream Erfolg haben zu können, und ihre Plakate mit Schröder zusammen haben wirklich eher zur Folge, daß man Spannungen sieht. Wie passen die denn zusammen?, fragt man sich. Nichts erklärt sich da so von selbst wie bei den Stoibers.

Nein, die Stoibers sind das wirklich Wirkliche dieser Zeit; wer die CSU anklickt  gelangt in eine bizarre Mischung aus Wahlwerbung, Souvenirshop und Bauernstube. Man bekommt eine vollkommen geschlossene Zeichenwelt, nebst einem CSU-Kiosk, in dem man sich Rautenwappen und Löwenpuppen bestellen kann. Die eigentliche Aussage all dieser Vernetzungen ist die vollkommene Kompatibilität, abwärts wie aufwärts. Der Laptop-und -Lederhosen-Mann, da geht beständig Wahlwerbung und Berichterstattung ineinander über, muß kaum seine Wortwahl, kaum seine Gestik wechseln, wenn er vom Bierzelt in die Manager-Konferenz wechselt.. Er ist nicht Franz Josef  Strauß, der einen Gegner braucht, einen Mythos der aggressiven Provinzialität, um mit Fleisch, Atombomben oder Millionen zu handeln, als wäre es die Kuh vom Huberbauern. Stoiber schwitzt nicht. Er ist das moderne Bayern, wo es die wenigsten Arbeitslosen und das am wenigsten auffällige Verbrechen gibt. Stoiber ist moderner als  Renate Schmidt, die das Dirndl mit einer Mischung aus Koketterie und Unbehagen trägt, als wäre es im Zeitalter des „Grandprix der Volksmusik“ noch eine Botschaft. Stoiber dagegen sehen wir weißhemdsärmelig in der Gruppe der zukunftsgläubigen Kids. Man sieht ihn weder mit einem Laptop noch mit einer Lederhose. So souverän gebietet er über seinen eigenen Mythos. Gewiß gibt es auch sozusagen reine Stoiber-Plakate, aber viel mehr gibt es Plakate, die Stoiber in einer Situation, in einer „Story“ zeigen. Da passiert immer was, neben dem Eheglück der Stoibers, deren Familiengeschichte wohlweislich nicht weiter ausformuliert wird, verlängert sich die Stoiber-Serie gleich ins staatspolitische: Landesvater und Landesmutter, die keine Persona erhält, weil sie sonst auch die Gefahr ereilte, auf eine unangenehme Art wirklich zu werden wie, sagen wir, Hannelore Kohl. Schneller als bei seinen Konkurrenten werden bei Stoiber offensichtlich die Plakate ausgewechselt, immer neue Motive um immer die gleichen Grundthemen folgen einander. Wiederkehr und Abwechslung, wie es in einer Fernsehserie zu sein pflegt. Die alte Art der Politikerwerbung war es, einen Politikerkopf zu ikonisieren. Der mediale Stoiber geht da schon viel weiter: er ist serialisiert.

Stoiber ist nur metaphorisch einer von uns, eigentlich nur einer, der das Bild einer Lederhose auf dem Laptop-Display anklickt, oder, genauer: Edmund Stoiber ist der Übergang Bayerns in den Zustand der virtuellen Realität.

Autor: Georg Seesslen