Contra

Ich fürchte, mein folgendes Geschimpfe, gilt nicht allein dem Autor Erich Kästner, sondern einem gewissen Genre von Kinderliteratur ganz allgemein. Also, Herr Kästner, wenn Sie mich da oben lesen, nehmen Sie’s nicht allzu persönlich. Und so zornig wie als Kind bin ich auch nicht mehr. Damals nämlich waren „Emil und die Detektive“ oder „Pünktchen und Anton“ das, was man bekommen sollte, wenn man freiwillig auf Comics verzichtete. Ich fand die Welt einigermaßen aufregend, auch gefährlich, unverständlich. Sie aber wollten uns in eine Kindheit zurückschicken, deren einziger kleiner Vorteil es war, dass es sie sowieso nicht gab.

Sie wollten uns weismachen, dass es für Enge Wärme und für Ordnung Verständnis als Belohnung gebe. Dazu mussten nicht nur die Eltern die Kinder, sondern auch die Kinder die Eltern erziehen. Mehr Welt, Freiheit und Neugier als Ferien musste nicht sein, der Rest war Familie und Moral. Aber so träumte sich’s halt in Deutschland. Nicht mit Huck Finn und Tom Sawyer hinaus, sondern mit Pünktchen und Anton hinein und zurück. Das ist Ihnen nicht anzulasten. Obschon: Man muss es ja nicht mögen, dass ein Kinderbuch-Autor, wo andere eine Erzählung mit einer Moral würzen, seine Moral nur noch mit so etwas wie Erzählungen würzt. Man muss Überdeutlichkeit und Geheimnislosigkeit nicht als Vorzug von Kinderliteratur preisen. Man muss auch das Frauen-Bild des gütigen, patenten und leider ein bisschen gebeutelten Muttchens, dem natürlich entsprechend eine böse Gegenfrau gegenübersteht, die sich irgendwie ungut einmischt, Gott Erbarm‘, nicht mögen. Schon gar nicht muss man eine Kindersprache mögen, die sich anhört, als wäre sie für niemand anderen als für die zuhörenden Erwachsenen geprägt. Eine Mischung aus synthetischer Nestwärme, Altklugheit und beginnender bürgerlicher Saturierung. Auch kann ich Ihre positiven Erwachsenen nicht leiden, die immer so etwas Joachim-Fuchsberger-haftes haben, verständnisvoll und trotzdem korrekt, und so furchtbar selbstgerecht. Von den Schurken ganz zu schweigen, die nie interessant sind, bloß draußen: Auf so einen kann man getrost Jagd machen. Wenn man die Geschichten in realistischere Bilder übersetzt als die von Walter Trier (die freilich mochte ich immer, da waren Menschen auf eine wundersame Weise offen und beweglich), sagen wir in die Form von Filmen, dann erst kann man richtig erschrecken, dann wird aus „Emil und die Detektive“ nicht bloß die Kinder-Ausgabe von „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, sondern man hat schon eine verdächtige Pogromstimmung. Und rausreden gilt da nicht viel: Bei Josef von Bakys „Doppeltem Lottchen“ haben sie selber im Jahr 1950 kräftig mitgewirkt: Wie da die zwei Mädels ihre geschiedenen Eltern wieder zusammenzwingen, das hat schon etwas Gewalttätiges, und die Vertreibung der bösen Möchtegern-Schwiegermutter, und sie als gütiger Erzähler-Gott im Hintergrund, nein: Erich Kästner hat nie besonders viel darüber nachgedacht, was seine Traum-Familien-Idyllen im Rest der Welt anrichten. Deswegen werden sie in unserer Zeit so nahtlos als militante Kinder-Soap Operas fortgesetzt. Die Villa Kunterbunt von Astrid Lindgren entpuppte sich im schlimmsten Fall als ein Experimentierraum für IKEA-Möbel; die Kästnerschen Idyllen dagegen bestanden aus beängstigend geschlossenen Räumen, in denen sich immer auch Machtverhältnisse abbildeten. Das doppelte Lottchen hat nichts bessere zu tun, als die Abrechnungen der Haushälterin zu überprüfen. Emils Abenteuer müssen durch den ökonomischen Verlust und durch die Verpflichtung der Mutter gegenüber in Gang gebracht werden. Kästners Kinder sind nicht nur nett, ihnen obliegt auch die Rettung des Kleinbürgertums, ökonomisch und moralisch.

Kinder brauchen Märchen, und vielleicht brauchen Kinder auch Kitsch, wer weiß. Aber wo wird aus dem Geborgenheitstraum Ideologie? Was ich Ihnen übel nehme, Herr Kästner, ist die ironiefreie Geschlossenheit Ihrer Welt. Alle ihre Kinder haben vor allem Heimweh. Sie werden mit einem Verlust geködert, der vor allem der ihres Autors, der so vieler sorgender, Bücher verschenkender, Filme drehender Erwachsener ist. Wenn die Welt so klein wäre, wie Sie sie uns in ihren Büchern gemacht haben, dann hätte sich weder die Kindheit gelohnt, noch das, wofür man sie verlassen muss.

Autor: Georg Seesslen