Die kürzeste Verbindung von McDonald´s, „Lindenstraße“ und einer G 8-Demonstration: Der Siegeszug der Bionade

Der Erfolg des Getränks, das sie Bionade nennen, hätte der Auszeichnung nicht bedurft. Aber die Auszeichnung hätte es ohne den Erfolg wohl nicht gegeben: In der vergangenen Woche wurde der 39-jährige Diplom-Brauingenieur Peter Kowalsky zum „Ökomanager des Jahres“ gekürt. Kowalsky ist Geschäftsführer in der Brauerei Peter, einem Familienbetrieb im Fränkischen, der Mutter Sigrid Peter-Leipold gehört, in dem Bruder Stephan ebenfalls Gesellschafter ist, und wo die Bionade hergestellt wird, die Stiefvater Dieter Leipold erfunden hat. Den von WWF und der Zeitschrift Capital verliehenen Titel teilt sich Kowalsky mit Dr. Nikolaus von Bomhard (Münchener Rückversicherung) und Jürgen Schmidt (Memo AG), einem Büromittelversender.

Wer die Welt nicht genießen kann, der muss einen Sinn in ihr finden. Oder umgekehrt. Wer einen Maserati und eine Yacht hat, braucht keinen Sinn (jedenfalls solange kein malignes Melanom bei ihm festgestellt wurde), und wer im Getränkecontainer nach Pfandflaschen fischt, braucht auch keinen – das Überleben selbst muss genügen. Die Dialektik von Sinn und Genuss wird dagegen immer brisanter, je weiter es in die (schwindende) Mitte geht: Eine Ware, zum Beispiel, muss hier Genuss mit Sinn und Sinn mit Genuss verbinden. Sonst ist sie gefährlich oder ekelhaft.

Den Sinn einer Ware könnte man einerseits als radikale Fortsetzung des Tauschwertes ansehen: Ein Turnschuh einer bestimmten Marke sagt nicht mehr „Ich habe“, sondern „Ich bin“, und der Tausch ist demnach, in manchen Lebensbereichen ganz buchstäblich, eine Sache auf Leben und Tod. Andrerseits ist der Sinnwert einer Ware das Ergebnis einer bestimmten Beziehung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert. Die Ware ist zugleich soziale Angriffswaffe und imaginärer Rückzugsraum, und auf diese Weise nicht nur ein Objekt im Gespräch der Subjekte untereinander und zwischen Subjekt und Welt, sondern selber Sprache. So gibt es Waren, deren Sinn darin besteht, etwas über die zu sagen, die sie nicht haben. Und es gibt andere Waren, die glaubhaft versichern, sie hätten den einen oder anderen Widerspruch zwischen Kapitalismus und Menschlichkeit gelöst.

Je weiter man von der Mitte entfernt ist, desto stärker fallen Genuss und Sinn in der Ware auseinander. Das gilt für die erwähnte Yacht ebenso wie für eine Flasche Doppelkorn; man hat da einfach kein Schuldgefühl mehr. In der Mitte dagegen verspricht jede Ware zugleich Genuss und Abwehr: Gesundheit, Vorsorge, Ordnung, Familie oder Sauberkeit. Die Ware muss die Schuld abarbeiten, mit der sie immer verbunden ist, und ihre größte Schuld hat die Ware dem Wesen gegenüber, um das der Kleinbürger am meisten besorgt ist: sich selbst. Die gute Ware der Mitte ist eine Ware, die mir nichts antut. Sie enthält ein Versprechen (Sex! Macht! Reichtum!), und sie enthält eine Beschränkung (Wenig Fett! Kein Schmutz! Null Risiko!). Auf dem Mainstream-Markt hat jede neue Ware Aussicht auf Erfolg, die eine neue Balance zwischen Sinn und Genuss verspricht. Daher gibt es Waren, deren paradoxer Sinn darin besteht, die verlorene Unschuld zu rekonstruieren. Das meint nicht nur die Anti-Ware aus dem Bio- und Eine-Welt-Laden (die der Mitte eindeutig zu viel an Sinn enthält), es meint auch einen Gebrauch der Ware als Konsensvorschlag. Eine Ware ist dann das perfekte Bild dessen, auf das man sich zwischen Sinn und Genuss einigen kann, und mehr noch: Eine Ware ist das Bild dieser Einigung. Eine Einigung, die immer nur temporär funktioniert, denn Genuss und Sinn lassen sich nicht nachhaltig miteinander verbinden. Es sei denn, man definiere Sinn und Genuss nach eigenem Bedarf und nicht nach der Praxis des Mainstreams, was aber in unserem momentanen Zusammenhang so wenig von Interesse ist wie die klugen Antworten, die Arthur Schopenhauer, der Dalai Lama oder mein Freund Peter auf den Widerspruch von Sinn und Genuss ganz sicher parat hätten.

Genussmittel also sind für die verbliebene Mitte das größte Problem. Sie gewöhnt sich daher mit staatlicher Hilfe das Rauchen ab, verliert dabei aber ein überraschend subtiles System von Bezeichnung und Selbstdarstellung im Genuss/Sinn-Diskurs, und sie muss auch andere Formen des gefährlichen Genusses (Alkohol, ungesunde Nahrung mit Fett, Zucker und prolligen Dickmachern) einer beständigen Revision unterziehen. Daher muss das „Bio“-Logo unbedingt die Einkaufstempel des Mittelstandes „erobern“, nicht nur, um den Genuss/Sinn-Diskurs zu moderieren, sondern auch den von Konsens und Eigensinn. Zum Beispiel: Getränke. Eine Diät-Cola oder Obstsäfte „ohne Zuckerzusätze“ weisen noch allzu deutlich darauf hin, dass sie einen Kompromiss darstellen, eine Art Entzug oder Entschärfung, so als müsste der Genuss durch Vernunft des Verzichtens gezügelt werden. Die Lösung kann also nur in etwas „Neuem“ liegen, das zugleich an Urformen des Genusses erinnert. In einer Kreation statt in einer Reduktion. Bionade.

Zum Erfolg des Getränks Bionade, also der Verbindung des Zusammenhangs Bio (Gesund! Verantwortlich! Natürlich!) mit dem Zusammenhang Limonade (Süß! Kindlich! Tröstend!) gehört schon das Design (kräftige Farben, ein Logo, das einen vagen Verweis auf ein alkoholisches Getränk enthält – also nicht das Auflösend-Sprudelige klassischer Limonaden-Bilder, sondern das entschlossen Konzentrierte eines sehr erwachsenen Drinks). Alles am Design von Bionade bezeugt, dass es sich hier um nichts Beilläufiges handelt, sondern um einen eindeutigen Entschluss. So wie das Vor-Bild des alkoholischen Getränkes sagt das Bionade-Zeichen: Dies hier und nichts anderes.

So haben wir also schon zwei Elemente der Erfolgsgeschichte: Die Verbindung zweier ursprünglich zueinander widersprüchlicher Mehr-als-Geschmack-Diskurse. Was bei einem „Bio-Hamburger“ noch lächerlich wirkt, weil es viel zu durchschaubar einen Ersatz anbietet, funktioniert bei Bionade nicht nur lautmalerisch, sondern auch ideologisch, weil zwei unterschiedliche Elemente des Unschuldigen aufeinander treffen, die Unschuld des Natürlichen und die Unschuld des Kindlichen. Und die Verknüpfung verschiedener Zeichen mit widersprüchlichem Gehalt: Das kräftige Zeichen überspielt alles Aufgelöste, Gemischte und Unreine der Substanz, es kann gar nicht anders als Ausweis verwendet werden: Eine Bionade auf dem Tisch ist nicht zu übersehen und ihr Gebrauch enthält das Einverständnis dazu, ein Schauspiel zu bilden. Die Flasche verweist darauf, dass Bionade etwas durchaus „Edleres“ sei und keineswegs allein durch Quantität attraktiv; sie erinnert an schnelle, schlanke Biere oder an italienische Aperitifgetränke. Das dazugehörige Glas will nichts von „hinunterstürzen“ wissen, aber auch nichts von der schmutzerdigen Ästhetik herkömmlicher Bioprodukte. Es ist eindeutig: Bionade will genossen werden, und sie wird am besten genossen, wenn man aus dem Trinken ein kleines Ritual macht, das nach einer gewissen Öffentlichkeit verlangt, so wie auch der Genuss eines Latte Macchiato bei „Segafredo“ nichts ohne das soziale Schauspiel wäre, dessen Co-Star man sein darf. Auch darin tritt die Bionade das Erbe von gewissen alkoholischen Getränken an: Man zeigt „Lebensart“.

Hinzu kommt der Herstellungsprozess, der an die urtümlichen Getränke Wein und Bier erinnert: „Limonaden sind so genannte Mischgetränke, nach amtlicher Definition. Bionade dagegen ist ein Fermentgetränk, das durch Fermentation (Vergärung) von Grund auf biologisch hergestellt ist. Ein derartiges alkoholfreies Getränk hat es davor nicht gegeben“ (Werbetext). Bionade, so erfahren wir hier noch einmal, ist eben nichts „Gemischtes“ und Unreines, sondern ein neues Ganzes. Dass dann Kohlensäure, Geschmack und Mineralien zugesetzt werden, ist da schon verzeihlich.

Die Substanz selbst scheint mit der Erfolgsgeschichte des Getränkes am allerwenigsten zu tun zu haben. Offensichtlich gibt es noch nicht einmal eine eindeutige Beschreibung dafür, wie Bionade eigentlich schmeckt. In den entsprechenden Internet-Foren streiten sich die Chatter noch darüber, ob Bionade eher nach natürlichen Stoffen wie Holunder oder Ingwer schmeckt oder doch eher nach „Chemie“, der Herstellung zum Trotz. Man ist sich einig, dass Bionade gut ist, aber nicht darüber, ob und auf welche Weise sie auch gut schmeckt. Ein rascher Selbstversuch bringt diesbezüglich keine Klarheit. So viel jedenfalls ist sicher: In den Legenden wie in der Konsumpraxis von Bionade hat Geschmack eine undeutliche oder geringe Bedeutung, sieht man davon ab, dass hier „süß“ und „wenig Zucker“ kein Widerspruch zu sein scheinen. Es ist am allerwenigsten der kulinarische Diskurs, der hier angesprochen ist, auch wenn ihn der Eifer der Befürworter dafür durchaus rekrutieren mag.

Stattdessen spielt die Herstellung eine entscheidende Rolle. Der „Bionade“-Erfinder, Diplom-Braumeister Dieter Leipold, hat ein Verfahren entwickelt, bei dem im Gärungsprozess Zucker nicht in Alkohol, sondern in Gluconsäure umgewandelt wird, und zwar mit Hilfe der Glucoseoxydase, die man dem im Speichel der Bienen vorhandenen Enzym nachbildet. Bier und Bienen sind schon einmal gut. Wie genau das geht, bleibt, wie man uns versichert, „das Geheimnis von Bionade“. Die Aromen, die dem nach dem Brauprinzip entstandenen Getränk zugeführt werden, sind eben nicht die traditionellen Limonade-Zusätze, sondern Litschi, Holunder, Kräuter und Ingwer-Orange. Das ist schon etwas Besonderes. Hinzu kommt, dass man mit dem Nahrungsmittel-Zusatz-Gedanken wirbt: „Mit viel Calcium und Magnesium. Calcium für die Knochen, Magnesium für den Kopf und die Muskeln. Und mit natürlichen Essenzen aus Früchten und Kräutern. Bionade ist isotonisch und erfrischt auf natürlicher Basis. Bionade enthält weniger Zucker und weniger Kalorien als herkömmliche Limonaden“ (Werbung).

Bionade ist, mit anderen Worten, ein ideales Aufstiegsgetränk. Es verbindet das Image von progressivem Luxus mit regressiver Fürsorge, es spricht vom Wert, den der Trinkende sich selber zumisst, Kopf und Körper gleichermaßen. Mittlerweile gibt es bereits eine Bionade Forte, die den Calcium- und Magnesium-Anteil verdoppelt. Bionade-Trinken zeigt, dass man sich weder der Angst noch dem Genuss opfert, man übertreibt in keiner Hinsicht.

Dazu passt schließlich, dass das Erlösungsgetränk für den Mittelstand selber eine mittelständische Erfolgsgeschichte aufweisen kann. Zur ökonomischen Backstory von Bionade gehört zum Beispiel, dass die allmächtige, globale Coca Cola Company „mit dem Scheck gewedelt“ (Stern) habe, das kleine deutsche Unternehmen aus Ostheim vor der Rhön aber auf die eigenen Kräfte gesetzt habe: Die Bionade hat das „Familienunternehmen“ gerettet, über dem „Jahre lang der Pleitegeier gekreist“ (Stern) sei. Acht Jahre lang hat Leipold an seinem Rezept getüftelt, während er und Stiefsohn Peter Kowalsky am Zapfhahn der familieneigenen Diskothek „Nullachtfuffzehn“ der Dorfjugend beim Komatrinken zusah. Dann ließ er seine „Bombe“ platzen. In wenigen Jahren wurde Bionade vom Insidertip zum Erfolgsgetränk. Im Sommer 2006 wurden schon 72 Millionen Flaschen verkauft, 2007 sollte sich der Umsatz noch einmal um hundert Prozent steigern. Im immer noch und irgendwie Familienbetrieb arbeiten viele ehemalige Hartz-IV-Empfänger, heißt es; zur Verbreitung maßgeblich beigetragen haben Artikel in Wirtschaftmagazinen wie brand eins oder Manager Magazin, nach denen, so ist es jedenfalls in der Wikipedia zu lesen, auch die großen Supermarktketten das Getränk ins Sortiment aufgenommen und damit mainstreamfähig gemacht haben. Bionade ist unter anderem ein Lehrstück darüber, wie Multiplikatoren einer ökonomischen Legende bei der Erfüllung behilflich sein können. Schließlich nahm auch die Deutsche Bahn Bionade in ihr Speisewagenangebot auf, Bionade gibt es nun bei Starbucks und bei der Café-Abteilung von McDonald´s. Mit dem Entschluss, das Fermentgetränk neben der Glas- auch in einer PET-Flasche anzubieten, ist der „Kult-Status“ eher Vergangenheit (bedeutende Vergangenheit, immerhin). In diesem Jahr führt das Unternehmen noch erfolgreiche juristische Abwehrkämpfe gegen die ersten Imitationen und Variationen. Absehbar aber ist, dass dem Rezept, das „wie eine Bombe einschlug“ (kaum eine Erfolgsstory über die Peter-Brauerei und ihre Bionade, die ohne dieses martialische Bild auskommt), ein neues Getränk-Genre folgt. Schon spuken auf dem Markt Bionaris, Ökonade und Bio Original. Die mythische Geschichte der Bionade droht sich im eigenen Erfolg aufzulösen.

Die Gefahr, zu einem – wennzwar populären – Allerweltsgetränk zu werden, hat man bei Bionade durchaus erkannt. Um den Mythos noch einmal anzuheizen fiel indes der Werbung ein, die Bionade als „offizielles Getränk einer besseren Welt“ zum Erlösungsgetränk aller Globalisierungsgegner und Umweltsorger zu stilisieren; eigene Blogs (www.stille-taten.de) und entsprechende Werbekampagnen versuchen, das Getränk regelrecht zu politisieren. In einem Werbefilm wird sogar eine Demonstration mit durchaus aggressivem Polizeieinsatz gezeigt, und wie Welt Online weiß, heißt es nun schon bei Aufrufen zu Anti-Nazi-Demonstration, man werde sich im Anschluss gemütlich zu einem Bier oder zu einer Bionade treffen. Dissidenz als Werbeveranstaltung? Bionade als Sponsoring im Straßenkampf? Das gibt wiederum „süffisante“ Bemerkungen auf der rechten Seite, wie bei Cicero, wo man sich ohnehin auf die Verbindung von Gutmenschentum und Konsumgewohnheiten zu stürzen versteht. Allerdings bremst die schiere Erfolgsgeschichte ihrerseits jede wirkliche Gemeinheit von rechts; man kann ja nichts gegen deutsche Familienunternehmen sagen, die sich gegen Coca Cola behaupten! Und bei alledem weiß keine Seite so recht, wie ernst man das nehmen sollte – ein Getränk als Genussmittelversion eines Al-Gore-Vortrags oder eines R.E.M.-Songs. Schon gibt es Verwahrungen gegen eine „Kommerzialisierung“ der Proteste durch allgegenwärtige Bionade-Werbung.

Die Legende also ist erfüllt: In einer „komplizierten Familiengeschichte“ (so steht es in der FAZ – und in der Tat: die Ehe-, Familien- und Erbschaftsgeschichten hinter der Peter-Brauerei könnten trefflich als soap opera umgefüllt werden) wurzelt die Idee eines Getränkes „für eine bessere Welt“, das gleichzeitig – „von der Szene allein könnten wir nicht leben“ (Sigrid Peter-Leipold) – zur „Volkslimonade“ werden muss. Es ist also ein doppeltes Modell, wie der deutsche Mittelstand noch einmal zu sich kommen kann: In einer bislang tatsächlich noch nicht erprobten Mischung aus Start-up-Unternehmungsgeist (wiederum O-Ton FAZ) und „Bessere Welt“-Limonade, aus familiären Beziehungskatastrophen, wie wir sie aus der sexuellen Ökonomie der Immer-Noch-Provinz und aus dem deutschen Fernsehen kennen, und sich selbst verstärkendem Medienspiel. Die kürzeste Verbindung von McDonald´s, Lindenstraße und einer G 8-Demonstration ist eine Limonade. Und zur gleichen Zeit ist der Diskurs von Genuss und Sinn in der Ware doch noch auf eine neue Ebene gelangt. Eine Limonade, mit der man zugleich etwas für sich selber und für den Zustand der Welt tun kann. Für die deutsche Wirtschaft und die globale Natur. Für einen klaren Kopf und robusten Knochenbau. Für den Kapitalismus und die Menschlichkeit. Jetzt müsste das Zeug nur noch schmecken. Aber das ist, wie gesagt, Ansichtssache.

Autor: Georg Seesslen