Bevor der nächste Sarrazinwesterwellesloterdijk kommt – bescheidene Anmerkungen eines schüchternen Debatten-Liebhabers

Debatten müssen sein, ja, ich finde, die Kultur der Debatte ist so ziemlich die höchste Stufe im Handwerk der Kritik, und für beides, die Kultur und das Handwerk, braucht es Talent, Übung, Fleiß und Motivation. Und natürlich ein Umfeld, das alles dies verlangt und belohnt.

Der Sinn einer Debatte, und das lernt man ziemlich früh, vielleicht zu früh, um es wirklich zu verstehen, ist es, sich an eine Wahrheit heranzuarbeiten. An ein kleines Stück davon, an einen kleinen nächsten Schritt darauf zu oder wenigstens an die große Idee, die mir persönlich Wahrheit genug ist, nämlich dass man tatsächlich eine Sache auch einmal von einer anderen Seite sehen kann.

Das Wort erprobt sich da am Widerwort, was schon bedeutet: Es geht nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die Form. Eine brauchbare Idee ist gut und schön, aber eine elegante Formulierung ist auch nicht zu verachten. Eine Debatte ist schließlich durchaus im doppelten Sinne eine Unterhaltung. Vergnügen macht da sogar einmal eine kleine Bosheit, wenn sie entweder der Wahrheitsfindung dient oder eine Pause überbrückt.

Die Teilnehmer einer intellektuellen Debatte sind daher durchaus sportlichen Kontrahenten zu vergleichen (okay, es handelt sich um einen Minderheiten-Sport); in fernen Zeiten mochten sich da „Fouls“, „Schläge unter die Gürtellinie“, Bestechung von Schiedsrichtern und Publikum, Manipulationen der Ausrüstung und all solches Zeug von selber verbieten. Heute dagegen wäre eine Debatte darüber angebracht, was in einer Debatte eigentlich erlaubt ist und was nicht.

Fatalerweise entwickeln sich intellektuelle Debatten seit geraumer Zeit aber weder nach Modellen der guten alten Streitgespräche noch nach denen des „sauberen Sports“, sondern nach den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie. Dort ist man gern, wie sagt man, „auf Krawall gebürstet“. Und wie bei den Catchern, die man heute Wrestler nennt, haben die Kontrahenten auch ihre festen Rollen in einem Kampf, dessen Ausgang schon von vornherein feststeht. Man mag sich, was die Übertragung von Elementen der Unterhaltungsindustrie auf die intellektuelle Debatte anbelangt, an die amerikanische Kunstkritikerin Camille Paglia erinnern, die gern mit muskulösen Bodyguards auftrat und Gegner nicht nur ihrer Theorien (sie hatten etwas mit der „Entweiblichung“ der Frauen durch die Moderne oder so ähnlich zu tun), sondern auch ihrer persönlichen Geschmacksurteile gezielt zu beleidigen versuchte. Meistens mit Erfolg. Das Tolle an Frau Paglia war, dass beinahe jeder sie kannte, aber fast niemand eine Ahnung hatte, worum es bei ihren Attacken und Debatten eigentlich ging. Irgendwann fand sie dann einfach keine Gegner mehr.

In der Unterhaltungsindustrie zählen neben dem großen Auftritt nur die Debatten-Beiträge, die sich auf einen Satz reduzieren lassen, und zwar auf einen kurzen: Es gibt keine Geschichte mehr. Boff! Wir haben eine Kleptokratie. Wusch! Ghettobewohner machen kleine Kopftuchträgerinnen. Twäng. Und dann gibt es noch einen Nachsatz, den man nur in Deutschland benötigt: „Das wird man doch noch mal sagen dürfen“.

Was zeigt: Alle „Debatten“ hierzulande werden offensichtlich im Blick einer drohenden, irgendwie undeutschen, irgendwie linken Instanz geführt, die die Forderung der Bild-Zeitungskampagne nach jenem Mutigen, der eine „Wahrheit“ erst einmal aussprechen müsse, konterkariert. Der Sieger einer „intellektuellen Debatte“ in unseren Medien ist – das, wie gesagt steht von vornherein fest – jener oder jene, der oder die „endlich mal sagt, was die meisten nur denken“.

Das ist nun aber genau das Gegenteil von dem, was der wundervolle Hans Blumenberg geschrieben hat: „Philosophie ist das, worauf man beinahe von selber gekommen wäre.“ Wir sollen also wohl in dem, was sich Debatte nennt, statt Anstoß Bestätigung finden. Wozu dann der Aufwand? Sollten wir Debatten, die offensichtlich in unsere Verblödungsmaschinen geraten sind, nicht stante pede für beendet erklären?

Natürlich: Warum sollte es nicht auch unter den Kandidaten für öffentliche Debatten begnadete Selbstdarsteller, geschickte Strategen oder einfach Leute geben, denen Öffentlichkeit mehr Spaß macht als anderen. Und andererseits Leute, denen man ansieht, dass sie in einer Bibliothek glücklicher sind als in einem Fernsehstudio, die ein Semester brauchen, um eine Beleidigung zu „verdauen“, die in der Zeit, in der sie gerne noch einmal ein bisschen nachgedacht hätten, schon ausgeblendet werden. Sollten wir trauern um den Abgrund zwischen klugem Denken und der Darstellung von klugem Denken?

Um so wichtiger wäre es, sich für die Debatten ein paar Regeln zu geben, nicht nur wegen der Kontrahenten, sondern wegen der schieren Notwendigkeit des Unternehmens: Ohne intellektuelle Debatten um die Schlüsselprobleme unserer Gesellschaft werden wir keine Zukunft haben, die diesen Namen verdient. Das ist eine ziemlich schlichte, darf ich sagen: Wahrheit?

Intellektuelle Debatten, die nach den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie ablaufen, sind nicht in der Lage, ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Und wenn das eine Wahrheit ist, dann ist sie beinahe noch schlichter. Wesentlich komplizierter nämlich ist die Frage, ob und wie eine intellektuelle Debatte, die nicht nach den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie abläuft, überhaupt in die medialisierte Öffentlichkeit gelangt. Da haben wir den Dreck. Denn diese Frage betrifft vor allem jenen Schrumpfteil der Medien, die sich als „bürgerlich“ begreifen und in einem entsprechenden Überlebenskampf stecken. Vielleicht halten sie sich für etwas Besseres, weil sie nicht Trennungsgerüchte irgendwelcher Promis, sondern eben „intellektuelle Debatten“ nach ziemlich ähnlichen Dramaturgien in verkaufsförderliche Längen ziehen.

Viel weiter, außer einfach nicht mehr hinzulesen, weiß ich auch nicht. Fünf bescheidene Vorschläge aber hätte ich doch anzubringen:

1. Vor jeder intellektuellen oder gar wissenschaftlichen Debatte sollten sich alle Beteiligten vornehmen, dass die Zuhörer oder Leser am Ende klüger sind. Möglicherweise – aber ich weiß schon, da verlange ich viel – müsste man das Klügermachen weitaus wichtiger nehmen als das Rechthaben. Jedenfalls sollten wir uns darüber einigen, dass eine Debatte, die uns eher blöder als klüger macht, nichts taugt.

2. Entweder man nimmt die Herausforderung einer intellektuellen Debatte auf Augenhöhe an oder man schweigt.

3. Show-Einlagen in einer intellektuellen Debatte sind verboten, wenn sie auf Kosten des Gegners oder auf Kosten des Themas gehen; ebensolches gilt für populistische Einbeziehungen des Publikums.

4. Die Medien der intellektuellen Debatte sollten sich zumindest vornehmen, sich nicht an den Regelverstößen zu bereichern.

5. Umgekehrt sollten sich Zuhörer und Leser einer intellektuellen Debatte rechtzeitig entscheiden, ob sie an der Arbeit an einer Idee oder an einem mythologischen Stellvertreter-Kampf interessiert sind, der eigene Überzeugungen medial überhöhen und durch das Ranking des Stellvertreter-Intellektuellen verstärken soll.

Wenn ich indes darüber nachdenke, so will mir scheinen: Die intellektuelle Debatte ist mit solchen Regeln hierzulande wohl nicht zu retten.

Man sollte sie neu erfinden.


Text: Georg Seeßlen

Text erschienen: der Freitag, 28.05.2010