Es ist vorbei. Die Gesellschaft des Spektakels geht nach hause (nicht, dass dort der Fernsehapparat schweigen würde). Schön war es, und jetzt?

 „Das Spektakel“, sagt Guy Debord, „kann nicht als Übertreibung einer Welt des Schauens, als Produkt der Techniken der Massenverbreitung von Bildern begriffen werden. Es ist vielmehr eine tatsächlich gewordene, ins Materielle übertragene Weltanschauung. Es ist eine Anschauung der Welt, die sich vergegenständlicht hat“.

Das Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Johannes Paul II. hat seine Krankheit, sein Sterben und schließlich seine Beisetzung mit Hilfe seiner ziemlich umfänglichen Institution und im Wissen um die nicht nur übertreibende, sondern tatsächlich vergegenständlichende Wirkung der Massenmedien zum größten Spektakel seit Jahren gemacht, das selbst im Vergleich zu Naturkatastrophen, Terroranschlägen und Kriegen an Breitenwirksamkeit nicht schlecht abschneidet. Offensichtlich aber gehört zum Gelingen dieses Spektakels nicht nur die dramatische Kunst der Inszenierung, sondern auch jener anschwellende Bedürfnisstrom, in dem Reste aufklärerischer Skepsis wie der Sinn für die Verhältnismäßigkeit von Spiritualität und Glamour untergehen müssen. Ein gelungenes Spektakel sieht so aus, als hätten die Leute schon lange darauf gewartet.

 Was treibt Menschen mit solch unterschiedlichen Weltanschauungen, solch unterschiedlichen Interessen, ja solch unterschiedlichem Glauben zum gewaltigen Spektakel eines nekrophilen Woodstock auf den Petersplatz? Was veranlasst Menschen, denen normalerweise der Anblick eines Papst-Bildnisses auf einem Porzellanteller peinlich ist und die gestern endlich wegen der „weltfremden“  Haltung des Vatikans (und wegen der lästigen Kirchensteuer) ihren Austritt beschlossen, sich in eine gewaltige Bilder- und Erzählmaschine einzukaufen (mit kleiner Münze, zugegeben), die sich um tausend Bildvarianten eines greisen, rundköpfigen Mannes in eigenwilligen Gewändern entwickelte, der mit einer gewissen Unbarmherzigkeit der Welt seine körperlichen Gebrechen offenbarte? In Rom versammelte sich der größte flash mob des neuen Jahrtausends, wie magisch angezogen von einem großartigen Authentizitäts-Versprechen: Die größtmögliche geistig-moralische Abstraktion verursachte im Zusammenprall mit der größtmöglichen körperlichen Intimität das nächste erhabene Katastrophenbild.

Aber ist der Tod eines Papstes in gesegnetem Alter denn etwas Katastrophisches? Auf jeden Fall scheint sich das Publikum auf eine ganz ähnliche Weise zu bedienen wie bei den letzten Katastrophenwellen. Mühelos schreiben sich nationalistische, melodramatische, sektiererische, politische Impulse ins Spektakel ein. Da heulen Menschen hemmungslos von denen man ziemlich genau weiß, dass sie auf den Tod von Angehörigen mit der berühmten Formel „Es ist besser für ihn“ reagieren, und denen die Zustände in deutschen Pflegeheimen zum Beispiel vollkommen gleichgültig sind. Da wischen sich Staatsleute Tränen vom Gesicht, die so gern ihre Panzer losschicken und Todesurteile mit derselben Gleichgültigkeit unterzeichnen wie Sozialkürzungen. Wenn es etwas in diesem Spektakel ganz augenscheinlich nicht gegeben hat, dann irgendein Zeichen dafür, dass daraus ein Impuls zur Ein- oder Umkehr ausgehen könnte. Im Gegenteil: Das Glück des großen Spektakels besteht darin, dass es zu absolut nichts verpflichtet außer dazu, sich in ihm (gut) zu fühlen. Oder um es noch einmal mit Guy Debord zu sagen: „Das Spektakel ist das, was der Tätigkeit der Menschen, der Neubetrachtung und der Berichtigung ihres Werkes entgeht. Es ist das Gegenteil des Dialogs“. 

Das Spektakel ist also notwendig, damit sich nichts ändert. Wenn der Tod dieses Papstes nicht zu einem Spektakel geworden wäre, hätte es womöglich Gedanken über Wesen und Ziel dieses Amtes und seiner Institution geben müssen, und statt sich so hemmungslos in das Spektakel einzuschreiben, hätten womöglich die weltlichen Kräfte über eine humanistische Neuordnung der Welt sprechen müssen. Und vielleicht wiederholt sich dies in jedem einzelnen Teilnehmer, real oder medial: Die Empfindung des glücklichen Entgehens. Das Spektakel aber, die „ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält“ (Debord) saugt alle Macht und alle Gewohnheit auf, damit nach dem Moment der artifiziellen Erhabenheit alles genau so weiter geht wie bisher.                                       

In der medialen Vervielfältigung ist das Spektakel des öffentlichen Todes zugleich demokratisiert und terrorisiert. Man könnte seinen Konsum schließlich selber steuern, man muss ja nicht fernsehen, kann auf gewisse sehr illustrierte Blätter verzichten. Doch dem Todesspektakel ist nicht zu entkommen; allein der Wunsch, es zu tun, erscheint ketzerisch. Das Spektakel verpflichtet zu nichts, aber es berechtigt dazu, alles was gegen es spricht, zu hassen. Wer gegen das Spektakel spricht ist gefühllos, kalt und dumm. Es feiert seine eigene Totalität, und die hat ein eigenes Narrativ. Ein solches multimediales Spektakel nämlich, gleichgültig ob Naturkatastrophe, Fürstenhochzeit, Kindermord oder Prominententod, vollzieht sich in der Regel in der Form eines fünfaktigen Dramas:

  1. Akt: Das Ereignis selbst, das als Schock eine gewisse Leere, ein namen- und bildloses Entsetzen erzeugt. Es ist ein Moment der Wahrheit, etwas ist geschehen, das nicht zu beeinflussen und nicht rückgängig zu machen ist. Wir nehmen zur Kenntnis: Die symbolische Ordnung ist gestört durch einen obszönen Rest an Wirklichkeit. Für einen Augenblick scheint es so, als würde etwas nicht mehr so weiter gehen wie es immer weiter geht. 

  2. Akt: Es setzen eine hektische Bilderproduktion und ein endlos sich selbst als Echo vervielfältigendes Schwätzen ein. Niemand scheint genug von Nachrichten und Bildern bekommen zu können, jeder muss etwas zeigen, jede muss etwas sagen, es bilden sich Bilderschleifen und ständig wiederholte rhetorische Phrasen. In dieser Phase bricht die Differenz zwischen dem Original und dem Abbild weitgehend zusammen: das Ereignis selber ist schon ein symbolisches. Kurz: Die Störung der symbolischen Ordnung wird so behandelt, als wäre sie ein Spektakel.

  3. Akt: Darauf folgt eine soziale Explosion, eine Art der Realisierung des katastrophalen Geschehens, ein gieriges (um nicht zu sagen geiles) Partizipieren; es treibt die Menschen von den Fernsehern auf die Straße, aus Zuschauern werden Akteure, und aus Akteuren neue Zuschauer. So wie uns gerade das Spektakel ergriffen hat, ergreift nun das Publikum das Spektakel.

  4. Akt: Daraus ergibt sich eine zweite Welle der Bilderproduktion, eine Auffächerung der großen Erhabenheit des Negativen und der Katastrophe zu kleinen menschlichen Geschichten, die liefern, was die große Erzählung nicht liefern kann, Sinn und Erlösung, menschliche Nähe. Behutsam wird die große Katastrophe ins Alltägliche versenkt. Die Verwandlung eines Geschehens in ein Spektakel ist abgeschlossen.

  5. Akt: Aus diesem Ritual aber entwickelt sich auch ein Katzenjammer, ein Schuldgefühl der Bilderproduktion und dem eigenen Rausch gegenüber; die Rückkehr aus der kollektiven Hysterie zum Alltag ist mit Scham behaftet – und erzeugt schon die Leere, die nach der nächsten Katastrophe gieren lässt. Für einen Augenblick lauscht man Kritik und Selbstkritik der Spektakel-Produktion. Dann geht alles genau so weiter wie bisher.

Wenn das Spektakel auch zu nichts verpflichtet und keine andere Veränderung bringen kann als die Festigung der gewöhnlichen Macht, so heißt das freilich keineswegs, dass es auch nichts bedeutet. Das öffentliche Sterben des Papstes missversteht sich seit geraumer Zeit auch als Lehrstück; seit Jahren werden wir von speziellen Fachleuten darüber aufgeklärt, was es zu bedeuten hat, dass ein leidender alter Mann sich nachgerade aggressiv ins Öffentliche drängt. Er wende sich da, hieß es, gegen den Jugendwahn, er wolle gar den Mühseligen und Beladenen Mut machen, und ausgerechnet dieser „Medienpapst“ inszeniere sein öffentliches Leiden als Gegenbild zu den medialen Leitbildern der unauthentischen Perfektion. Natürlich geht es auch um „Gehorsam“. Die Erinnerungen an archaische und mittelalterliche Rituale sind durchaus Teile dieser  Inszenierung: Im Kern dieses Spektakels stecken einige Elemente, die bei Licht betrachtet nicht nur ins Vor-Moderne, sondern sogar ins Vor-Christliche reichen, ins Animistische und Magische. Das Spektakel macht die Grenzen von Religion und Mythos durchlässig, und so ist es nicht verwunderlich, dass das öffentliche Sterben dieses Papstes und der spektakuläre Abschluss immer wieder als „Passion“ bezeichnet wird, als Double der zentralen Passions-Vorstellung der Religion selber. In der Dramaturgie des Spektakels entspricht dem das Verlangen der Menge nach dem Paradox der sofortigen Heiligsprechung (während man ihm gleichzeitig, nicht minder paradox, das eher weltliche „der Große“ anhängt), ähnlich dem Verlangen nach einem Freistoß in einem Fußballspiel. (Überhaupt gehören ja Vermischungen ritueller und spontaner Elemente zur Form dieses Super-Spektakels; die große Einheit, die da erzeugt wird, beruht auch darauf, dass man nicht mehr genau weiß, ob man sich bei einem Gottesdienst, einem Popkonzert oder einer Werbeveranstaltung befindet.) Aber das Verlangen ist in der Dramaturgie des Spektakels durchaus wörtlich zu nehmen: Hier gibt es keinen Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Populären.

In ihm steckt freilich auch ein verborgenes Verlangen nach subito Wiederauferstehung. Denn eben das, wenn auch in der Regel unter weniger luxuriösen Umständen, begründete die Ur-Mythen der Heiligen: das öffentliche Sterben. Und auf dem Stab, den Papst Johannes Paul II. als höchstpersönliches Zeichen seiner fünfundzwanzigjährigen Amtszeit einführte, dem silbernen Stecken mit dem Gekreuzigten, bildet sich noch einmal das alles erklärende öffentliche Sterben ab. Auch in Ratzingers Ansprache spielt das Leiden, das Kranksein, die Passion, das „Bis-zum-Ende“ eine bedeutende Rolle. Mit Mitleid kann das alles wenig zu tun haben. Ein „elender Tod“ war das ja nicht, wie ihn viele „normale“ Menschen zu erwarten haben, unter anderem weil sie sich weder eine so konzentrierte ärztliche Fürsorge leisten können noch eine vergleichbare Selbstbestimmung in ihrer letzten Lebenszeit erwarten dürfen. Man könnte es anders sagen: Wir haben dem luxuriösesten Sterben zugesehen, das derzeit überhaupt für Menschen möglich ist. Dennoch trägt das Spektakel insgesamt alle Anzeichen eines revidierten Opfer-Rituals. Der Schmerz, das Leiden, die Mühsal  und ja, auch die Angst waren doch echt, das Spektakel ist keine Täuschung. Die Lüge liegt nicht im Sterben sondern in der Öffentlichkeit. Sie verzehrt den großen Mann, das Kannibalistische liegt in dieser Inszenierung wie animistische Jenseitsphantasie (in der man den toten König noch einmal über seine Stadt schauen lässt).

Das Spektakel, das so kuhäugige, zu Tränen gerührte, jugendlich romantische, gutgläubige, menschensüchtige, mitfühlende und vielleicht morgen für eine gerechtere  Verteilung der Welt demonstrierende oder crack rauchende Menschen insgesamt so friedlich, diszipliniert, wenn auch nicht allzu umweltschonend besuchten, ist also in Wahrheit barbarisch, kindisch und in Teilen durchaus obszön. Na und? Das ist eben das Zwiebelwesen unserer Kultur, unter jeder Haut liegt eine andere, die noch einmal den scharfen Kern des Mythos enthüllt. Den Körper, die Lust und den Tod betreffend.

Im linken Mythos steckt die Utopie einer Befreiung des Körpers in der öffentlichen Sexualität. Der öffentliche Geschlechtsverkehr wäre die Erfüllung dieser Utopie, die sexuell gefärbte Nacktheit scheint ihre Prophetie. Im rechten Mythos dagegen steckt die Utopie der Befreiung des Körpers im öffentlichen Sterben. Die christlichen Märtyrer gehören da ebenso dazu wie die Sehnsucht nach der Todesinszenierung im Krieg. Der geschundene Körper im Sport, im Drill oder in der Game-Show ist da die Prophetie. Der jeweils einen Fraktion muss das Körper-Konzept der anderen als so ziemlich das Obszönste vorkommen, dass man sich denken kann. Die eine Fraktion wird vor Ekel geschüttelt, wenn sie den nackten Körper als Lust-Objekt und mehr noch als Lust-Subjekt erkennen muss, die andere erkennt es als schamlosen Akt, den Körper in Gewalt und Zerfall zu schicken, um ihn in sein Bild zu verwandeln. Aber in einem sind sie sich einig: Um seinen Fragen zu entgehen muss der Körper zum Spektakel werden. Das öffentliche Sterben des Papstes ist auf diese Weise ein Bekenntnis zum Leben „fino al fino“, um mit den Worten Kardinal Ratzingers zu sprechen. Ein Todesbild mit dem man leben kann, wenn das Spektakel vorbei ist.  

Die Rückkehr des Körpers in die Religion ist die schlichte aber vermutlich nachhaltige Bedeutung im Spektakel des öffentlichen Sterbens und der medienkannibalistischen Beisetzung des Papstes. Sie mag barbarisch sein, aber sie ermöglicht den Teilnehmern des Spektakels möglicherweise eine Rückkehr in den eigenen Körper, der ihnen gerade durch die Medialisierung verwehrt schien.

Aufgehoben konnte dieser kontrastierende Körper-Mythos von Lust und Leiden nämlich lange Zeit in der Inszenierung der Arbeit werden. Das Verschwinden der Arbeit in der neoliberalen Weltordnung indes ist verbunden mit der Hysterisierung des Körpers, der selber zu verschwinden drohte. Das neoliberale Abbild hat dazu eine Zauberformel gefunden: Der Körper muss „in Form“ gebracht werden. Er muss so aussehen als ob er in der Lage wäre groze arebeyt zu verrichten, er muss so aussehen als könne er Lust empfangen und geben, er muss so aussehen als könne er Angriffen von innen und außen trotzen. Dabei muss er irreal und beliebig werden. Wer unbedingt einen guten Körper braucht, riskiert, dass es nicht mehr der eigene Körper ist und riskiert damit seine Seele zu verlieren. Am Zwang zu dieser Körpermaske aber leiden nicht nur die Verlierer, die sich die Formung nicht leisten können, sondern schließlich sogar noch die Gewinner des Neoliberalismus, aus Furcht vor ihrem unheiligen Alter, ihrer deformierenden Krankheit werden sie noch tückischer. Aus der Dialektik einer Obszönität des lebendigen und einer des sterbenden Leibes entstehen prekäre Balancen, schlechtes Fernsehen wenn wir Glück haben oder verzweifelte Kunst; aber ganz offensichtlich haben wir es im Augenblick mit einer weltweiten Konkurrenz der Todeskulte zu tun. Der leidende, der sterbende Körper triumphiert über den lustvollen und begehrenden Körper. Oder, und da sind wir ganz nahe am Bild, das der Papst gegeben hat: Der eigene Körper triumphiert über den „guten“ Körper. Und so hat diese Passion nicht nur einen archaisch-theologischen Untergrund, sondern auch einen sehr pragmatischen Trost. Es gilt, den Körper, den überflüssigen, den begrenzenden, den schmerzenden, anzunehmen. So geht es zu Ende, das Spektakel des heiligen, nutzlosen Körpers.

Ist die Welt nun nach diesem wahrlich sie umspannenden Spektakel katholischer geworden? Man kann wohl mit gutem Recht auch behaupten, das genaue Gegenteil sei eingetreten: Das Spektakel hat ja vor allem sich selbst als Ziel, und jemand wie Kardinal Ratzinger weiß sehr genau, dass die spektakuläre, spiegelnde Oberfläche und die mediale Diffusion ein Teil der Entleerung des Kerns ist, der dagegen auch durch allerreaktionärstes Beharren auf zum Teil nahezu unmenschlichen Dogmen und Regeln nicht zu retten ist. Dass Kardinal Ratzinger die Rolle eines Showmasters in diesem Spektakel einnehmen musste/wollte, ist eine der eigentlichen Pointen. Das öffentliche Sterben hat in der Konkurrenz der Todeskulte gewiss Vorteile erbracht, aber es verbraucht eine solche Verkörperung auch enorme Energien des theologischen Kerns.

Denn in der Gesellschaft des Spektakels vermag nicht nur die Religion zum Spektakel zu werden. Das Spektakel wird auch zur Religion.

Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben 2005