Doping und Nationalismus

Walser, Dorn und die Debattenkultur oder warum die Korruption bei Siemens und das Doping im Radsport nie der Demokratie nutzen werden

„Befreit uns von dem bigotten Reinheitsgebot im Radsport“, hat unlängst die Schriftstellerin Thea Dorn gefordert. Diese mehr oder weniger provokative Forderung hat dann Blasen in Presse und Internet geworfen – bis hin zur allfälligen Behauptung, „deutsche Sportlerinnen und Sportler“ seien durch „moralinsaure Presseberichte“ im „internationalen Wettbewerb“ benachteiligt. Doping und Nationalismus im Sport haben ganz offensichtlich einen Zusammenhang: Auch diese Mittelchen wollen durch einen großen Zweck geheiligt werden. 



Dahinter steht: Entfernt sich ein Gedanke vom Hauptstrom der, zugegeben, reichlich selbstzufriedenen, unbeweglichen gelegentlich unsympathischen Parallelkultur der moralisch, menschlich und vernünftig denkenden Menschen (die sich die Spaßgesellschaft mit dem Spottnamen der „Gutmenschen“ vom Leib hält), so wird er augenblicklich von der rechten Mehrheit und ihren semiotischen Vortrupps verwendet. Das geht über einen traditionellen Vorgang hinaus, in dem jede Selbstkritik der Linken automatisch als Anklagepunkt der Rechten wieder auftaucht. Das Hobby des „Tabubrechens“ sollte unter medial gehandelten Intellektuellen indes nicht zum eigenen Genre aufgebaut werden.

Was Thea Dorn mit dem Doping im Sport macht, aber macht Martin Walser mit der Gewohnheit der Korruption in der Wirtschaft. Nämlich ein System von einem moralischen Reinheitsgebot befreien und ihr Böses mehr oder weniger realistisch als den Normalfall in die allgemeine Wahrnehmung einfrieden: „Nun wissen natürlich wirklich alle, dass in der ganzen Welt die großen Firmen ihre Großaufträge durch Bestechung hereinholen. Es handelt sich ja in keinem Fall um persönliche Bereicherung der Manager. Und vor 1998 konnte man dergleichen noch von der Steuer absetzen. Aber Staatsanwälte und Medien finden diese Praxis unter allen Umständen kriminell. Mich erinnert dieser Reinheitseifer an das katholische Gebot, das den ehelichen Geschlechtsverkehr nur erlaubt, wenn er stattfindet zur Fortpflanzung.“ 



Die Korruption in der Konzernwirtschaft wird in der gleichen Argumentationskette legitimiert wie das Doping im Sport: Das Ideal gegenüber der Realität hochzuhalten, ist heuchlerisch. Es machen sowieso alle. Es wissen auch sowieso alle. Es dient einem höheren Zweck. Interessanterweise findet sich beide Male das magische Wort „Reinheit“ im Zentrum des Diskurses. Und beide Diskurse sind auf eine verquere Weise sexualisiert und in eine fast noch verquerere Beziehung zur Religion gebracht. Zweimal wird ein „Recht“ konfiguriert: Das Recht sich im Dienst von Leistung und Gewinn zu ruinieren. Und das Recht im Dienste der Firma (es soll ja angeblich keine persönliche Bereicherung sein) Korruption zu praktizieren und zu verbreiten.

Das befreiende „Macht doch, was ihr wollt, aber macht es wenigstens ehrlich“ behauptet als Meta-Aussage: Die globalkapitalistische Gesellschaft solle entgegen ihrer Vorläuferin, der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, auf die Teil-Autonomie ihrer Sub-Systeme verzichten. Es geht überall gleich zu, und überall soll alles gleich erlaubt sein, was Erfolg bringt. Aber genau das führt zu der gefürchteten Nivellierung: Nichts reibt sich mehr, nichts widersteht, nichts bietet Schutz. Die demokratische Dynamik ist nicht dort gefährdet, wo eine Gesellschaft das Höher-Schneller-Weiter behindert oder die unter großen Firmen der Welt übliche Bestechung. Sondern dort, wo sie sich keine divergierenden Räume mehr gönnt: einen Sport, in dem man noch vom fairen Wettkampf träumen kann; eine literarische Kultur, in der noch frei und vernünftig gedacht werden kann. Stattdessen aber sucht sich, wie bei Martin Walser ohnehin impliziert, das moralisch nicht zu rettende Subsystem einen neuen Legitimationsraum: die Nation. Da ist jeder der persönlichen Verantwortung enthoben, da wird das Betrügen und Vergiften zu Pflicht und Opfer. 



Wären, wenn der Sport und die Wirtschaft irgend demokratisch würden, Doping und Korruption weniger verbreitet? Es käme auf einen Versuch an. Ziemlich sicher aber ist: Weder Doping noch Korruption nutzen der Demokratie. Auch dann nicht, wenn sie ungeniert angewandt werden.

Autor: Georg Seeßlen