Die Retrospektive der 6. Berliner Filmfestspiele widmete sich den „Traumfrauen“, den weiblichen Stars der fünfziger Jahre

Traumfrauen – das ist schon so ein Wort. Es schmeckt nach zu viel Lippenstift, nach Salzstangen und „Lufthansa-Cocktail“. Und es versetzt einen, retrospektiv, in einen ästhetischen, moralischen und grammatischen Schwurbel. Wer träumt da wen? So fängt das an.

Am einfachsten natürlich: Männer (oder Leute, die es irgendwie werden wollen) träumen im Zuschauerraum von Frauen. Von begehrten und begehrenden Frauen, von Frauen zwischen Sex und Familienroman, zwischen heftiger Nähe und kühler Distanz. Frauen, die einerseits auf den Arbeitsmarkt drängen und sich andrerseits auf dem Hochzeitsmarkt umtun.

Was das anbelangt war das Kino der fünfziger Jahre vermutlich eines der reichsten und dramatischsten Kapitel in der Sozialgeschichte der Stars: Nie war das Repertoire der Traum-Angebote so vielfältig, nie steckte es so voll mit Widerspruch und Zukunft.

Man muss sich die fünfziger Jahre als eine glückliche Zeit vorstellen, besonders im Kino. Die Schrecken des Weltkrieges lagen hinter den Menschen, überall ging es um Neubeginn und Aufbau. Wenn man es in der Gegenwart auch noch so schwer hatte, die Zukunft konnte nur besser werden: ökonomisch besser, technologisch fortschrittlicher, psychologisch lustvoller und freier. Und im Kino konnte man sich unter vielen Rollenmodellen aussuchen, wie man es gerne hätte: sexy und materiell – dann ging man in einen Monroe-Film, um das material-girl aus der Ära des stählernen Lächelns zu bewundern, eher des Begehrt-Werdens bewusst als selber begehrend (von Diamanten abgesehen). Elegant und flippig – dann war ein Audrey-Hepburn-Film das richtige: die Frau, die sich in aller Unschuld ständig neu erfindet und doch nie wirklich herauskommt aus dem goldenen Käfig namens „Frau“. Leidenschaftlich und ursprünglich – das fand man bei Anna Magnani, die Schöne der bäuerlichen Vorstadt, die als Mutter in die Industriestadt kommt. Oder man sehnte sich nach dem erregenden Trost üppiger Brüste bei Sophia Loren und Gina Lollobrigida. Vielleicht wollte man Frauen bestraft sehen oder nie ganz aus den Wolken auf die Erde kommen wie Lana Turner. Vielleicht wollte man eine Frau sein, die ohne zu zögern für den Geliebten in den Tod gegangen wäre, wenn es die Gesellschaft nur zugelassen hätte – nichts wie in den nächsten Maria-Schell-Film. Oder man wollte am Panzer unnahbarer Eleganz kratzen, was in einem Deborah-Kerr-Film möglich war. Puritanisch-emanzipiert, dann sah man Doris Day zu, wie sie als Innenausstatterin den totalen Design-Wahnsinn anrichtete in der Wohnung eines jungen Mannes wie Rock Hudson, den sie sich sexuell aber vom Hals zu halten wusste bis zur Heirat.

Heute sagen wir zum meisten davon, es sei die Inszenierung der Sexualität als ein Verdrängtes, das an allen Ecken und Enden hervorbricht, sich von keiner Ideologie halten lässt, aber auch nie wirklich zur entscheidenden Revolte gelangt. Schwer zu sagen, ob das System der weiblichen Kino-Stars in den fünfziger Jahren eher einem erotisch-ökonomischen Himmel oder der Hölle von Arbeits- und Hochzeitsmarkt zugewendet war. Langweilig war das jedenfalls nicht.

Traumfrauen – das heißt daneben aber auch das Angebot von Rollenmodellen. Nicht Sekretärin und nicht Ehefrau werden wollen, sondern Spaß haben, Sex, Klamotten, Tanz und Strand wie bei Brigitte Bardot. Väter, sperrt eure Töchter ein (oder lasst wenigstens „Volkswartbünde“ eine „saubere Leinwand“ fordern)! Sich reiner, na ja, Natur überlassen, wie Harriet Andersson, den Körper statt zur Projektions- zur Erfahrungsfläche machen. Oder sich die Welt zu einem erotischen Abenteuerspielplatz zurichten wie Ava Gardner. Sich „Sünde“ neu buchstabieren wie Marina Vlady. Ich wollte Hosen! Meint Lilo Pulver im Adenauer-Kino, und in ihrer Märchenwelt liegen immer welche für sie herum.

Aber die Traumfrauen des Kinos in den fünfziger Jahren funktionierten in einer Weise anders als die der vergangenen (und auch der kommenden) Epochen der Star-Geschichte. Wenn die begehrten und begehrenden Frauen der dreißiger und vierziger Jahre ihr Glück und ihre Schmerzen erfuhren dadurch, dass sie außerhalb der gesellschaftlichen Codes standen, locker daneben wie Mae West, melodramatisch wie Greta Garbo oder abenteuerlich wie Marlene Dietrich, waren diese Leinwand-Frauen in Revolte und Anpassung innerhalb der Codes zu sehen. Schon deswegen ist es eine späte Verkennung, etwa Doris Day als bloße Verkörperung puritanischen Jungfrauenwahns zu sehen, Traumfrau der Staubsaugervertreter in den Vorstädten. Sie ist auch die Frau, darin etwa Gegen- und Ergänzungsbild zu Marilyn Monroe, die sich auf dem Arbeitsmarkt zu emanzipieren versucht, und sei es, indem sie als Innenarchitektin klammheimlich das eigene Begehren in den Alltag des Mannes einbaut, während sie sich auf dem Heiratsmarkt rar macht. Ein Jahrzehnt später haben sich die Verhältnisse umgekehrt, auf dem Heiratsmarkt festgefahren versucht sie, in den verlorenen Arbeitsmarkt zurückzukehren. Traumfrauen sagen immer die Wahrheit.

Schon etwas schwieriger ist es mit der Cross-Identifizierung mit den Traumfrauen. Männer im Zuschauerraum probieren über die Leinwand aus, wie es ist, eine Frau zu sein. Frauen können das natürlich mit den männlichen Stars machen. Traumfrauen lassen immer die Grenzen der Geschlechter offen, sie tun es nur nach verschiedenen Seiten hin. Frauen, die sich verhalten können wie die Codes es den Männern vorbehalten oder vorschreiben. Frauen, die im Begehren und Begehrt-Werden keinen engen Modellen folgen. Frauen, die Sexualität nicht auf das beschränken, was der Kompromiss zwischen dem Leben auf dem Arbeitsmarkt und dem auf dem Heiratsmarkt übrig lässt. Aber eben auch: einladend zur Erfahrung des Leidens. Natürlich werden Traumfrauen in der Regel für ihre Revolten bestraft, entweder durch Schmerz oder Tod oder, schlimmer, durch ein so genanntes Happy End (will sagen: aus der Traum). Aber die verdammte Schönheit dieses Leidens ist viel offener als pure Melodrama-Ideologie. Madame Bovary, c´est moi. Und ich bin Grace Kelly, Elizabeth Taylor, Ingrid Bergman, für eineinhalb Stunden.

Traumfrauen – das heißt schließlich auch für eine kleine Kinoewigkeit Frauen zuzuschauen, die sich selber erträumen. Ein cinematografisches Subjekt, das selber Rollen und Gegen-Rollen erprobt in einer Grammatik von Begehren und Begehrt-Werden, von Wissen und Unschuld, von Einpassung und Revolte. Das Besondere dieser Himmelhölle der weiblichen Stars ist wohl eine besondere Beziehung zwischen Rolle und Zeichen. Die Traumfrauen der fünfziger Jahre sind „lesbar“: Man weiß, was es bedeutet, wenn jemand blond, brünett oder schwarzhaarig ist, man weiß, was Schlanksein oder Üppigkeit sagt, man kann Frisuren, Rocklängen, Schmuck und Blicke lesen, und diese „Texte“ bleiben bestehen, auch über eine Anzahl von Filmen hinweg. Die Grenzüberschreitung (und ihre Verhinderung) liegt im Typus selber. Es ist ein ikonographisches Strahlen, jeder dieser Stars ist ein geschlossenes semiotisches System, man kann es sich zum ganz persönlichen Fetisch, zum ganz persönlichen Heiligtum machen, ebenso aber kann man die Vielfalt dieser Kirche des Begehrens und des Alltags genießen. Aber das System funktioniert nur, indem es immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird. Solange die Revolte Traum bleibt.

Deswegen musste der Himmel der Traumfrauen in den sechziger Jahren einstürzen. Und wir versuchten es mit Anti-Stars.

Georg Seeßlen,  Freitag 10.02.2006