Die Budgets schrumpfen, die Depots wachsen – und schon rufen hier und da Kulturpolitiker dazu auf, die im Keller lagernden Bestände der großen Museen zu verramschen. Anlass für ein Lob der verborgenen Schätze

Menschen produzieren Zeichen und Dinge. Worte, Bilder, Möbel, Werkzeuge und Fahrzeuge, Schmuck und Trophäen… Je älter die Menschheit wird, desto mehr hat sie von dem Zeug. Alles kann man ja nicht verbrauchen oder zerstören, also werden die Dinge gesammelt und ausgestellt, verstaut und aufgehoben. So entstand das Museumsdepot.

Spätestens in der hoch kapitalistischen Phase der bürgerlichen Gesellschaft ist die Produktion aus dem Ruder gelaufen. Denn von da an sollte es ja der Markt sein, der das Produzieren reguliert: Kunstwerke werden entweder privater Besitz, mit denen man, unter anderem, spekulieren kann, oder eine öffentliche Anschaffung. In beiden Fällen stellt sich das Problem der Akkumulation. Gier und Geiz als Antriebsimpulse führen zu ständigen katastrophischen Wucherungen. Hinzu kommt, dass die Grenze zwischen Kunstwerk, Dokument und Alltagsware verwischt worden ist. Alles kann zum Kunstwerk oder zum unschätzbaren Zeitdokument werden: seien es Einkaufstüten, Kaugummibilder oder Haarspangen. Und was kann aus unseren nicht mehr benötigten Fabriken oder Förderanlagen anderes werden als Museen der Industrie? Natürlich komplett mit Depot. Alles, was im Kapitalismus aus dem banalsten Bedürfnis heraus produziert wurde, erfreut sich einer nachholenden Ästhetisierung; jede nützliche Neuerung von gestern fällt, kaum überholt, ins weiche Bett der Erinnerungskultur, um dort den ewigen Schlaf des Schönen zu schlafen.

Die Bewahrung der Zeichendinge geschieht in drei Formen: dem Museum (sprechende Zeichen), dem Depot (zum Schweigen gebrachte Zeichen) und dem Archiv (erforschte und katalogisierte Zeichen). Die Verhältnisse in diesem semiografischen Dreieck sind nicht zuletzt eine Sache der politischen Ökonomie.

Vielleicht war einmal an ein ständiges Wandern und Tauschen zwischen Depot, Museum und Archiv gedacht. Stattdessen scheint es nun, als würden die drei Orte sich immer fremder. Das Archiv ist schon deswegen eingeschränkt, weil es nicht einfach gekauft werden kann, sondern durch ständige Arbeit gepflegt werden muss. Kunst bleibt ja nur Kunst, wenn sie in die Kunstgeschichte eingeschrieben wird. Im meist preiswerteren und kulturpolitisch unauffälligen Depot dagegen ist das Zeichending frei von solchen Zwängen. Hier lagern bedeutende Objekte, von denen man längst vergessen hat, welchem Zusammenhang sie ihre Bedeutung verdanken. Es genügen vage Erinnerungen und Möglichkeiten. Irgendwann könnten die Dinge zur Bearbeitung ins Archiv weitergereicht werden oder im Museum überraschend ihre neue Bedeutung offenbaren. Natürlich ist auch die Arbeit des Archivs keineswegs so rational, wie es auf den ersten Blick scheint. Wie das Museum, so hat es ebenfalls in erster Linie die Selbsterhaltung im Sinn. Nur das Depot benötigt nicht einmal diese Energie. Es ist sich selbst vollkommen gleichgültig.

Natürlich ist das Depot nicht trotzdem, sondern gerade deshalb der geheimnisvollste und gefährlichste aller Räume für ästhetische Objekte. Hier unterliegen die Dinge weder einer öffentlichen Ansicht noch einer wissenschaftlichen Ordnung. Ihre Beziehung zueinander kann surrealistisch oder strukturalistisch sein – oder beides gleichzeitig. Denn entweder werden sie in vollkommener poetischer Willkür gelagert wie das ausgestopfte Pferd auf dem Bechstein-Flügel, oder aber man sortiert sie nach so fundamentalen und zugleich äußerlichen Merkmalen wie Verwandtschaft. Ist ein 300-Quadratmeter-Kellerraum voller männlicher, bärtiger Gipsköpfe noch strukturalistisch oder schon surrealistisch? Wer weiß.

Die einzige wirkliche Ehre, die man dem Kunstwerk oder Zeitdokument im Depot angedeihen lässt, ist der Schutz vor Umwelteinflüssen wie Temperatur, Licht, Feuchtigkeit und natürlich dem Schweiß erregter Menschenhände. Dabei benutzt man gern weiße Leinentücher. Das Kunstwerk wird hier zum paradoxen Widerpart des Lebens: Es bleibt so lange lebendig, wie man das Leben von ihm fernhalten kann. Kunstwerke werden zu Gespenstern, die auf Erlösung warten. Der böse Teil lauert darauf, unheilvoll in der Oberwelt des Sichtbaren umzugehen, alte Rechnungen zu begleichen, moralische Urteile zu fällen, sich rabaukenhaft unter die Lebenden zu mischen, kurz: ins Museum zurückzukehren. Der gute Teil will einfach nur in Frieden sterben.

Wer aber kann ihnen begegnen; wer weiß vom Inhalt der Depots? Es mag Wärter geben, die eine Liebe zu einigen Objekten entwickelt haben, aber das System selbst keineswegs im Blick haben. Ohne die Kunst des Vergessens würde wohl jeder Wärter eines Depots rasch den Verstand verlieren. Er darf nichts und niemanden hineinlassen, aber natürlich auch nichts und niemanden hinaus. Es gibt vielleicht Menschen, die wissen, was drin ist, auch diesbezügliche Akten und Listen existieren wohl (neigen aber dazu, sich selbst zu depotisieren). Doch unter keinen Umständen veröffentlicht das Depot ein System seines Inhalts. Deswegen weiß auch niemand, ob ein solches existiert. Daher rührt unsere große romantische Sehnsucht, im Depot wäre die Welt der Zeichendinge noch so wild und neu, so unschuldig und frei, wie sie im Museum schon längst nicht mehr sein darf.

Geöffnet werden Depots in der Regel nur durch Katastrophen. Eine Katastrophe wie das Hochwasser im vergangenen Jahr zum Beispiel, die immerhin das Gute hatte, dass die Öffentlichkeit sich zurück ins Bewusstsein brachte, dass es überhaupt Depots gibt – und dass stante pede neue, noch abgeschottetere Depots errichtet wurden.

Viel dramatischer ist, dass die Depots nun ihrerseits drohen, die Außenwelt zu überschwemmen. Die Kulturdezernten deutscher Städte und Kommunen erwägen, in »Zeiten knapper Kassen« die Pforten der Depots zu öffnen, um die Gespenster der Zeichending-Produktionsgeschichte auf den freien Markt zu entlassen. Man stelle sich das vor: Die Kommunen werfen in rasender Verzweiflung den Inhalt ihrer Depots den kunst- und zeichenhungrigen Gewinnern des Neoliberalismus vor. Sammler geben Vermögen aus, um sich Kunstwissenschaftler zu kaufen, die den Gespensterdingen ihren Kunstschein ausstellen. Die Kunstgeschichte muss neu geschrieben werden, der Markt bricht unter dem Ansturm der Zeichending-Zombies zusammen, mobile Kunst-Entsorgungseinrichtungen werden benötigt. Die Kunstgeschichte träumt nicht mehr. Der letzte romantische Ort ist dahin.

Wir lieben Gespenster, weil wir sie nicht sehen können. Als öffentlich umherrumpelnde Erscheinungen gehen sie uns schnell auf die Nerven. Sie neigen dazu, sich zu wiederholen, und ihre alten Geschichten kennen wir bald auswendig. Das Unterbewusstsein, auch und gerade das der Kunst, ist nur erträglich als Ort unserer Träume. Darum: Rettet die Depots! Bewaffnet die Wärter!

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in Die Zeit 28.05.2003 Nr.23