Im Karikaturenstreit kämpfen der »Westen« und der »Osten« darum, sich auf dem Weltmarkt der Kulturen voneinander zu unterscheiden.

Eine Hand voll Karikaturen – gut oder schlecht, treffend oder nicht – in einer Zeitung eines kleinen europäischen Landes lösen eine Welle von Empörung, Gewalt und Hass in islamisch geprägten Gesellschaften aus. Menschen, mit denen man eben noch vernünftig sprach und Scherze über die kulturellen und biografischen Verwerfungen untereinander machte, erklären plötzlich, dass sie sich, was diese Bilder anbelange, auf keine Diskussion einlassen.
Kenntnisreiche und selbstkritische Leute auf der einen Seite tun sich schwer, sich von der religiösen Empörung zu distanzieren, und Leute, die auf eine kreative Vermischung der kulturellen Codes gehofft haben, sehen sich auf der anderen Seite gezwungen, gerade die Bedrohungsphantasien durch die »Anderen« zu übernehmen, an deren ideologischer Enttarnung man gemeinsam arbeiten wollte. Es ist zum Heulen!

Die visuellen Nachrichten von den gewalttätigen Reaktionen der Empörung, die uns erreichen, scheinen zweierlei zu bestätigen, nämlich einerseits, dass die Empörung politisch gewollt und organisiert ist, andrerseits aber, dass sie auch der Kontrolle sich zu entziehen imstande ist. Man meint förmlich, ein Verlangen nach Blut zu spüren. All das funktioniert selber wie eine Karikatur: Bilder lösen erst richtig aus, was sie satirisch zuspitzen wollten, nämlich eine Beziehung von Religion und Gewalt, eine fetischistische Verengung einer großen Erzählung. Und was absurderweise in Frage gestellt ist, das ist nicht nur der Wert der Bilder und Bilderverbote in einer Religion, es ist auch der Grundwert einer demokratischen Gesellschaft, nämlich die Freiheit der Kunst und die Freiheit der Bilder. Zwei Kulturen verletzen einander genau da, wo sie am empfindlichsten sind, im Herzen ihrer Selbstidentifikation, oder genauer gesagt, beim Kern des jeweiligen größten Selbstwiderspruchs: dem Widerspruch zwischen Religion und Macht auf der einen Seite, dem Widerspruch zwischen Demokratie und Kapital auf der anderen Seite.

Die Kompromissformel, auf die sich der westliche Mainstream geeinigt hat, was die Diplomatie, die Politik und die Medienökonomie anbelangt, lässt sich sehr einfach beschreiben: Die Karikaturen, die in der dänischen Zeitung publiziert wurden, seien Grenzfälle, was den guten Geschmack, religiöse Toleranz und gegenseitigen Respekt und was die politische Polemik anbelange, aber sie seien durch das Prinzip der Meinungs- und Pressefreiheit gedeckt, die ein Grundwert der kapitalistischen Demokratie sei; so ist es möglich, sich zugleich (ein wenig) bei denen zu entschuldigen, die sich durch diese Bilder beleidigt fühlten, und sich (ein wenig) vor jene zu stellen, die das Gut der Freiheit des Ausdrucks für genau so heilig und respektierenswert halten, wie es auf der anderen Seite religiöse Symbole sind.

Ganz offensichtlich reichen solche Formen des diplomatischen Appeasement aber nicht mehr aus. So wächst auch die Empörung über die Empörung: Wollen wir in einer Welt leben, in der falsche Bilder Bluttaten auslösen? Sind unsere Gesellschaften nicht mehr in der Lage oder willens, die Freiheit der Kunst zu verteidigen? Werde ich morgen, aus Opportunität oder aus Angst, eine Form der inneren Zensur errichten müssen?

Wenn man in Europa auf etwas stolz sein kann, dann ist es die Überwindung des politisch-religiösen Terrors gegen dissidente Bilder und Bilder der Dissidenz. Der Verzicht darauf bedeutet so sehr einen kulturellen Tod wie es der Angriff auf zentrale Werte und Bilder einer nicht säkularisierten Religionsgemeinschaft woanders bedeutet. Läuft der fundamentalistische Angriff (von beiden Seiten) also auf einen Showdown hinaus: Entweder stirbt euer zentraler Code, oder es stirbt unser zentraler Code?

Die Religionen und Poesien lieben einander

In der allgemeinen Erzählung entsteht der kulturelle Zusammenprall aus der Differenz der Codes und der Wahrnehmungen der Kulturen. Doch je näher man die Dinge ansieht, mit etwas Wissen um Religionen, um Dramaturgien, um Ästhetik, desto mehr verflüchtigen sich die Differenzen. Die Weisen sagen im Islam, im Christentum, im Judentum oder im Buddhismus mehr oder weniger dasselbe. Die Poesie, die Zärtlichkeit, die Transzendenz der Religionen sind tief miteinander verwandt, mehr noch: Die Religionen wie die Künste, wie die Musik, wie das Wissen lieben einander, brauchen einander, durchdringen einander (und sind auf sehr ähnliche Weise auch korrumpierbar und in politischen Terror zu verwandeln).

Auch die Bilder und Bilderverbote ähneln einander viel mehr als sie einander widersprechen. In Wahrheit gibt es das Andere fast so wenig wie das Gleiche. Nicht in den Bildern liegt die Differenz, sondern im Gebrauch, den die Macht von ihnen macht. In dieser Praxis steht die Organisation der Empörung gegenüber blasphemischen Bildern in einer dänischen Zeitung in einer Linie mit der Sprengung der Buddha-Statuen in Afghanistan im Jahr 2001. Der Welt soll die visuelle Suggestion ausgetrieben werden, sie hat kein Recht auf Differenz.

Mehr noch: Aus der Kränkung durch eine Karikatur wie durch den Triumph der Sprengung eines »anderen« Bildes scheint so etwas wie ein »Rausch der Differenz« zu entstehen. Der Flash eines Andersseins, der Selbstgenuss als anderer.

Während der Kapitalismus westlicher Prägung den Differenzierungsrausch gleichsam in seine alltägliche Praxis, auch in die Praxis des Bildergebrauchs, eingeschrieben hat (jedes Bild konkurriert auf dem Markt mit allen anderen und muss schon daher notwendig eine Tendenz zu Aggression, Blasphemie oder Skandal erzeugen), muss dieser Rausch der Differenz in einer sich fundamentalistisch bestimmenden Gesellschaft immer wieder kollektiv erzeugt werden. Am Ende stehen sich zwei absurde Differenzierungsjunkies gegenüber: Der besinnungs- und auch kulturell rücksichtslos raffende Kapitalist, der viel mehr Geld und Macht anhäuft, als er je gebrauchen oder auch nur verstehen kann, weil er darin seinen Differenzierungsrausch in seinem Code genießt; und der Terrorist, der sein eigenes Leben in einem Akt der symbolischen Tötung zu verschwenden scheint, bei der es vielmehr um die Grausamkeit der Tat selber geht als darum, wirklich »Schuldige« zu treffen, der darin den Differenzierungsrausch durch seine Codes genießt. (Aus der Mode gekommen, in der globalisierten Welt, scheint leider der zugegeben etwas anstrengendere Weg der Differenzierung durch Weisheit.)

Wie also, wenn der Krieg der Kulturen gar nicht aus der bestehenden Differenz entstünde, sondern im Gegenteil aus der Sehnsucht nach der Differenz? Die Differenz ist nicht die Ursache, sondern das Ziel des Krieges der Kulturen. Jede terroristische Tat, jede mehr oder weniger organisierte, ritualisierte, inszenierte Empörung ist eine Erzeugung von Differenz. Und jede Differenz ist umgekehrt ein rauschhafter Genuss, sowohl im Kollektiv als auch im Subjekt.

Der globale Kapitalismus muss sich ausdehnen über alle Grenzen hinweg, und eines der entscheidenden Medien seiner Ausdehnung sind Bilder. Die einzige Voraussetzung für das Bildernetz, in das so viel Mythos wie Information, so viel Wissen wie Illusion verwoben ist, ist eine prinzipielle Gleichwertigkeit und Gleich-Behandlung. Es ist ein Interesse der Spätaufklärung und zugleich ein Interesse des globalen Kapitals, dass so wenig Bilder wie möglich »verboten« sind und dass auf dem Markt eine prinzipielle Gleichbehandlung herrscht. Was indes nicht gestattet sein soll, das ist, entweder Bilder dem globalen Markt zu entziehen (wie, sagen wir, »das Privatleben«, »der nackte Herrscher«, Gesicht und Körper des Menschen als Bild, oder eben religiöse Ikonen) oder aber bestimmte Dinge der allgemeinen Bild-Werdung zu entziehen.

Ein Machtzentrum der Gekränkten entsteht

Auf den ersten Blick scheint es, als gebe es eine Differenz zwischen Islam und Kapitalismus, die primär weder politisch noch ökonomisch bestimmt ist, sondern moralisch und religiös. Es gibt Dinge, die grundsätzlich dem Weltmarkt entzogen sind, der Körper der Frau und das religiöse Symbol als augenscheinlichste, und anders als, sagen wir, in China entsteht Zensur nicht aus der Praxis der Macht durch den Staat, sondern als fundamentaler innerer Impuls einer Gesellschaft, die nicht eine ist (die religiöse Bilder-Differenz ist das einzige Mittel, das Gesellschaften einigt, die untereinander konträrer und verständnisloser sind, als es ansonsten Gesellschaften der verschiedenen religiösen Traditionen sind).

So entsteht ein neues Machtzentrum in der Welt aus dem beständigen Empfinden einer Kränkung oder Schändung. Wie wir aus dem alltäglichen Leben wissen, sind Menschen, die sich dauernd gekränkt oder nicht genügend respektiert fühlen, nicht nur gefährlich für alle großen oder kleinen check-and-balance-Systeme, sie sind auch extrem gefährdet. Vielleicht deswegen ist auch das Selbstmordattentat das perfekte Bild für eine im Differenzierungsrausch begangene Tat zur Auslöschung der Kränkung. So entstehen Bilder, bzw. Bilderverbote, die so fundamental im Dienst von Differenzierung und Kränkung stehen, dass sie gleichsam auf die Schändung nur warten können. Daraus entsteht das groteske Missverhältnis zwischen dem Anlass und der Reaktion. Es ist vorstellbar, dass eine Karikatur in einer europäischen Provinz einen Weltkrieg auslöst. Noch vorstellbarer aber, für den Augenblick, ist es, dass sie eine Kette von Gewalttaten auslöst, die wiederum das ersehnte Ziel erreichen: Differenz.

Man muss die Anderen erfinden, und die Anderen sind stets jene, die schänden, was »uns« heilig ist: unser Land, den Körper unserer Frauen, unsere Sprache, unsere Bilder. Wenn die Schändung nicht ohnehin stattfindet, ist sie immer wieder in der Geschichte von Macht und Religion auch erfunden worden. Im schlimmsten Fall wird das »verbotene Bild« von jenen erzeugt, die sich zu Wächtern über das Verbot gemacht haben.

Die blasphemischen Karikaturen zum Islam sind dissidente Bilder, die man in der Gesellschaft des Westens jederzeit auch gegen die eigene historische Leitreligion, das Christentum, anwenden kann und anwendet. Auch im Zentrum der frivolen Bilderkultur des Westens gibt es durchaus Grenzen – jene Bilder, von denen eher als Gerücht die Rede ist, als dass sie der Weltöffentlichkeit präsentiert wären, und die Verschwö­rungsphantasien in verschiedene Richtungen in Gang setzen, wären, hätte man sie publiziert, nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch durch keinen allgemeinen Konsens gedeckt.

Das Entscheidende ist auch hier das Gleichheitsprinzip: Ein in sich selber strengerer Code darf nicht anders behandelt werden als ein liberaler Code, ein offener nicht anders als ein geschlossener. Eine unterschiedliche (Bilder-)Behandlung verschiedener religiöser Zeichen- und Werte-Systeme mag diplomatisch sein, im Einzelfall auch ein Gebot praktischer Mitmenschlichkeit, den Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entspricht sie nicht.

Die (mehr oder weniger virtuelle) fundamentalistische Gesellschaft aus Kränkung und Differenz aber muss das blasphemische Bild missverstehen: Was der Logik des kapitalistisch-demokratischen Weltmarktes entspricht, wird hier als gezielter Angriff aufgefasst – und man missversteht »den Westen« so, wie man sich selbst gern missversteht, nämlich als eine Einheit.

Was darf das Entertainment?

Dieser Westen, der in Wahrheit nur noch eine Imagination auf dem Weltmarkt der Kulturen und Bilder ist, kann gar nicht anders, als wiederum selber auf die Konstruktionen von Differenz und Kränkung hereinzufallen. Vor den Bildern der gewalttätigen Empörung gegen Karikaturen aus Dänemark sagen plötzlich Menschen wieder »wir«, die gestern noch jede Identität von Subjekt, Gesellschaft, Staat, Ökonomie und gar Religion im Geist der Aufklärung ablehnten: »Wir« können uns die Bedrohung der Freiheit nicht gefallen lassen, »wir« brauchen eine Demarkationslinie gegenüber der vormodernen Gewaltdrohung.

Aber auch dieses »wir« ist eine Illusion. Das beginnt bereits damit, wie schwer es ist, bei der Verteidigung mehr oder weniger blasphemischer Bilder zu unterscheiden zwischen den Impulsen der Aufklärung, die mit Tucholsky die Frage »Was darf Satire?« mit einem schlichten »Alles« beantwortet; und den Impulsen eines gefräßigen Bildermarktes, der das »Alles« nicht auf Aufklärung sondern auf gnadenloses Entertainment (wenn nicht auf die Kränkung einer bestimmten Religion, so doch auf eine ironische Entheiligung der gesamten Welt, auf die semiotische Degradierung für den Markt) bezieht.

Die Zerreißprobe geht vermutlich durch jeden einzelnen kritischen Geist. Und die Erfahrung ist nur zu präsent, dass alles, was die kritische Aufklärung erkämpft hat (nicht ohne Blut, um selber einmal etwas Pathos zu wagen), am Ende in der Hölle der Entertainment-Maschine endete.

Fundamentale Aussagen

Die dänischen Karikaturen wären mehr oder weniger unsichtbar auf dem Weltmarkt der Bilder geblieben, wirklich sichtbar wurden sie erst durch die Wächter der Bilderverbote. Die ein bisschen wohlfeile trotzige Gegenreaktion der in der Empörung attackierten westlichen Medien besteht ja vorhersehbarerweise in einer geradezu massenhaften Publikation der Bilder (man mag sich dabei gar so aufrecht wie mutig vorkommen), die dadurch eine ikonografische Bedeutung erhalten, die sie nie gehabt hätten.

Auch hier wird erzeugt, was man unterstellte: In einer Kultur karikiert jemand die andere als eine Verbindung ihres Heiligen mit politischer und sexueller Gewalt, diese Kultur reagiert prompt damit, sich exakt so zu verhalten, wie sie karikiert wurde, woraufhin die andere Kultur genauso prompt auf Gewalt und Empörung reagiert, indem sie das tut, was die anderen unterstellten, nämlich aus einer einzelnen Aussage in einem freien System der Aussage eine kollektive und, ja, »fundamentale« Aussage zu machen. Es ist, wie gesagt, zum Heulen.

Eine denkbar falsche Lösung scheint mir so etwas wie »Rücksichtnahme«, denn sie wäre erst die wahre Kränkung: Die westliche Toleranz gegenüber der islamisch codierten Intoleranz ist eine Überheblichkeit dritten Grades. So überheblich wie einer ist, der an sich selber amüsiert und melancholisch Anzeichen der Dekadenz beobachtet, während er klammheimlich die Fähigkeit des Barbaren bewundert, leidenschaftlich und zornig auf die Verletzungen seiner vor-modernen Codes zu reagieren. Falsch ist aber auch, dem gekränkten religiösen Stolz nur einen gekränkten kulturellen Stolz entgegenzusetzen.

Wenn wir uns gegenseitig ernst nehmen, im Bewusstsein, dass jeder aus einer in sich widersprüchlichen Situation argumentiert, dann müsste in der Tat so etwas wie eine Neuverhandlung der Bedingungen für den internationalen Markt der Begriffe, Erzählungen und Bilder möglich sein. Zum Beispiel wäre es durchaus möglich, die Rechte des Dargestellten gegenüber der Darstellung zu stärken (nichts anderes wollte einst die so gedankenlos geschmähte »political correctness«), es wäre möglich, eine Charta der Bilder zu planen; so wie es eine Charta der Menschenrechte gibt, mag es auch eine der Bilderrechte geben. Es ist durchaus denkbar, die Grenzen des Erlaubten in der globalisierten Bilderwelt neu zu definieren. Fatalerweise aber müsste in diesem Prozess, der demokratische Verständigung statt Terror, gegenseitigen Respekt statt Kränkung ermöglichte, dafür auf etwas verzichtet werden, wonach alle Seiten süchtig scheinen: auf Differenz.

Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in jungle world Nr.06, 02/2006