Jede Hoffnung auf Aufklärung basiert auf der Annahme, dass die Ordnung einer Gesellschaft nicht identisch ist mit der Ordnung des Denkens (in ihr). Man mag das umkehren: Um Aufklärung zu verhindern muss die Ordnung der Gesellschaft mit der Ordnung des Denkens gleichgesetzt werden. Wie man in der Science Fiction weiß: Das beste Mittel, eine solche Übereinstimmung zu erzielen, ist die Virtualisierung der gesellschaftlichen Prozesse, bis zu jenem Grad, wo zwischen dem Symbol und der Handlung kein Unterschied gemacht wird. Die Praxis der sozialen Übereinstimmung ist nicht nur wichtiger, sondern vor allem „wirklicher“ als die Wirklichkeit, die man mit einem Akt des einfachen Denkens erkennen könnte. Die Maschinen zur Rechtfertigung sind mächtiger als das zu Rechtfertigende erscheint, und so kehrt sich um, was Bronislav Malinovski einst zum Mythos schrieb, nämlich dass er ins Spiel gebracht werden, „wenn Ritus, Zeremonie oder eine soziale oder moralische Regel Rechtfertigung verlangt“.

Nach dem Unglück des Kreuzfahrtschiffs vor der italienischen Küste beobachten wir vor allem eins: eine ungeheure Zunahme von Reklame für Kreuzfahrten. Das könnte man zunächst als hysterische, ökonomische Reaktion der Branche abtun, als propagandistische Übertünchung des Unglücks und der damit verbundenen Kritik an den Unternehmungen selber. Aber es handelt sich offenbar um mehr: Die symbolische Ordnung wird wieder hergestellt, die durch das Bild des umgekippten Schiffes gestörte Ornamentik einer Welt-Erfahrung buchstäblich wieder aufgerichtet. Natürlich verzichtet man auch nicht auf die „Traumschiff“-Phantasien des Fernsehens. Kurzum: die Traumschiffe sind wichtiger als reale Havarien. So wie die Jury des Dschungelcamps „entscheidender“ ist  als das Parlament.

Es wird also nicht mehr „gerechtfertigt“.  Vielmehr geht es um die Besetzung der Wahrnehmungsfelder. Sie macht, dass es zwischen der Ordnung des Denkens und der Ordnung der Gesellschaft einen Bereich gibt, der von Aufklärung nicht mehr zu durchqueren ist. Traumschiffe kentern nicht. Es gibt keine Klimakatastrophe und keinen Oil Peek, indes Lust und Zwang, den Traum zu „verwirklichen“. Hatte man einst den Mythos, die Wirklichkeit zu erklären, so nun eine Wirklichkeit, den Traum zu rechtfertigen. Die beiden Aspekte des Mythos, die in den unterschiedlichsten Theorien immer wieder aufeinander treffen, der Mythos als Wunscherfüllung (das Traumschiff) und der Mythos als (apokalyptisches) Abbild der Welt (der Untergang), vereinen sich („Titanic“ als globalen industriellen Mythos hatten wir ja schon); ist der reale Untergang eine Episode des „Traumschiff“-Mythos, oder ist das Traumschiff eine Episode des Mythos vom Untergang? Nichts jedenfalls deutet darauf hin, dass wir der Traumschiffhaftigkeit unserer Ordnung von Welt und Gesellschaft derzeit etwas entgegen zu setzen beabsichtigen.

Georg Seeßlen

Bild: Costa Kreuzfahrten Mittelmeer Kundenmagazin Abenteuer und Reisen via horizont.net

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