Warum sind die Kulturseiten so unerträglich borniert geworden? Eine Erklärung

Das Feuilleton ist seit Beginn der hohen Phase des bürgerlichen Zeitalters, seit Mitte des 19. Jahrhunderts also, eines der fünf Ressorts einer Zeitung, die dem Bürger entspricht: POLITIK, WIRTSCHAFT, KULTUR, LOKALES und SPORT. Diese Ressorts entsprachen, ziemlich genau, dem Aufbau einer bürgerlichen Persönlichkeit, und zwar sowohl durch das Vorhandensein der einzelnen Elemente, als auch durch ihre Trennung. Sub-Ressorts rundeten seitdem das Bild ab und integrierten den Anhang des Bürgers, nämlich seine Frau und seine Kinder: REISE, MOTOR & TECHNIK, COMIC-SECTION, MODEBEILAGE, KIRCHE, KÜCHE & HUND.

Es ging in dieser Reihenfolge um die Fragen: Wer ist Freund und wer ist Feind? Welcher Macht bin ich angeschlossen? Woher kommen die Bedrohungen? Was treiben die Regierungen und wie versuchen die Parlamente sich einzumischen? Und wo ist ein Krieg „ausgebrochen“ oder unvermeidlich? („Politik“) Wo liegt mein wirtschaftlicher Vorteil? Worauf muss ich setzen, wovor soll ich mich hüten? Wie ist unser Wohlstand zu verteilen? Wie kann man die unsichtbare Hand mit einem geschickten Händchen überlistet? Und wie „vernünftig“ lässt sich das ganze machen? („Wirtschaft“) Wozu ist meine Bildung gut? Welchen Geschmack soll ich zeigen? Was an Kunst & Kultur tut mir gut und was nicht? Wie viel „Unterhaltung“ darf sich ein Mensch meines Standes leisten? Worüber spricht man, um sich zu erkennen? Und was darf man beschwärmen? („Feuilleton“) Wo sind meine Wurzeln und wo mein direktes Feld von Eingriff und Ergriffenwerden? Was ist vor Ort zu haben und zu meiden? Wie steht es mit der Kontrolle? Welche Kirche soll im Dorf gelassen werden? Welche Grenze ziehen wir zum Klatsch? Und welche zum „Provinziellen“ („Lokales“). Was zum Teufel soll ich mit meinem Körper anfangen? Was ist Leistung, was Held, was gezügelte Leidenschaft? Wie ist die Regression am Körperlichen zu kontrollieren, zu rationalisieren, am Ende zu transformieren in die Zahlen- und Regelwerke, die Hierarchien und Hegemonien, die wir aus dem Rest der Gesellschaft kennen? Wie verstecke ich mein Begehren in der Leistung? („Sport“).

Bürgerliche Menschen produzieren bürgerliche Zeitungen. Richtig. Bürgerliche Zeitungen produzieren aber auch bürgerliche Menschen. Die bürgerliche Zeitung und die bürgerliche Persönlichkeit entsprachen einander so perfekt, dass eines ohne das andere nicht mehr zu denken gewesen ist. Die großen Blätter entsprachen dabei allerdings auch einander und unterschieden sich in Nuancen oder doch ein wenig mehr, von national-konservativ bis linksliberal meinethalben. Sie hatten indes die gleiche alltägliche Konstruktion einer „Persönlichkeit“ gemeinsam, eine Aufgabe, die man nur in Deutschland lange Zeit des Sonntags an die Kirche abtrat.

Nun ist die bürgerliche Zeitung seit geraumer Zeit in der Krise. (Ja, Krisen haben wir in der Tat reichlich.) Als Gründe dafür werden weitgehend äußere Faktoren ausgemacht: Alles wird teurer, vor allem sind Köpfe, die eine Zeitung interessant machen könnten und Methoden des guten alten Journalismus nicht mehr bezahlbar. Die Leute haben keine Zeit mehr, und Lesen strengt sie zu sehr an. Die Konkurrenzmedien sind schneller, billiger und bunter. Der Nachwuchs fehlt, Zeitunglesen ist eine aussterbende Kulturtechnik, Zeitungsschreiben noch viel mehr, den wachsenden „Kinderseiten“ zum Trotz. Die Medienkonzerne haben den Markt der periodischen Publikationen nach Kräften ruiniert, der Glauben an die Unabhängigkeit meiner Zeitung schwand. Die verschwimmenden Grenzen zwischen Kultur und Unterhaltung machen die Geschmacks-Diskurse weitgehend obsolet; warum dann nicht gleich fernsehen.

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Deutsche Feuilletonisten!

Erhebt die Hände über den Laptops zur Rückeroberung von Freiheit

und Schönheit in Zeitungsform!

Oder macht euch davon aus diesen muffigen Büros.

Etwas besseres als den Tod findet ihr allemal.

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Mag alles sein, und noch viel mehr. Aber vielleicht gibt es einen noch triftigeren Grund für das Verschwinden der bürgerlichen Zeitung: Die bürgerliche Persönlichkeit, die einer Zeitung zur Ordnung der Welt bedarf und die sie herstellte, die gibt es (bald) nicht mehr. Niemand vermag noch zu glauben, dass die Ordnungen der Welt, die Ordnungen eines Subjekts und die Ordnungen einer Zeitung miteinander kongruent sind. Der Zweifel wächst; die Zeitung ist vielleicht nicht mehr als Fenster in die Welt verlässlich, noch weniger aber taugt sie weiter zum Spiegel, in den die bürgerliche Persönlichkeit blickt: mehr oder weniger demokratisch, mehr oder weniger kapitalistisch, mehr oder weniger geschmackvoll.

Die Erosion des Feuilletons ist also ein Symptom einer allgemeinen Zeitungskrise welche ihrerseits ein Symptom des Zerfalls der bürgerliche Persönlichkeit sein mag, die wiederum ein Symptom… Naja, Sie wissen schon Bescheid.

Der gute Geschmack war einst für die innere Verfassung einer bürgerlichen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Einerseits war es eine mächtige Ordnungskraft, und schon deswegen war es mindestens genau so wichtig, immer wieder gegen ihn zu verstoßen. Daraus entstand für den kulturellen Diskurs eine heikle Dialektik. Den Geschmack des Publikums zugleich zu erfühlen und zu bedienen, zu führen und „pädagogisch“ zu beeinflussen und immer wieder auch dramatisch zu attackieren. Zugleich der Diktatur des guten Geschmacks zu entgehen und ihn als Orientierungsgröße zu erhalten. Kunst und Kultur jedenfalls waren für die bürgerlichen Gesellschaften perfekte Maschinen zur Herstellung des Geschmacks, so wie der Geschmack gleichsam die Innenausstattung einer Klassenkultur war, die nachträglich legitimierte und erlöste, was in den Ressorts zuvor, der Politik und der Ökonomie verbrochen wurde. Der Feuilletonist war ein Drahtseilkünstler über dem Abgrund der Geschmacklosigkeit und der Wahrheit, er oder sie lebte den Schwindel der bürgerlichen Persönlichkeit.

Die Ressorts der bürgerlichen Zeitung also sprachen nicht allein von der inneren Ordnung der bürgerlichen Person, sondern auch von ihrer organisierten Schizophrenie. Im Kulturteil würde man sich dafür schämen, wozu man sich im Wirtschaftsteil anstandslos bekennt; der Sportteil barbarisiert, was das Feuilleton sublimierte, und der politische Teil suggeriert eine Zivilgesellschaft, die in der heimeligen Identitätswärme des Lokalen absentiert ist.

Das Feuilleton indes hat nun längst eine andere Funktion übernommen. Es ist auf der einen Seite eine Art von garbage collection; hier bringt man unter, was in den anderen Ordnungen nicht funktioniert. Es ist der Ramschladen des bürgerlichen Selbstverständisses geworden, der schlampige Faserrand, ein Auffangbecken trüber Wässer. Zum Beispiel politische Kommentare, die die Grenzen zum Essay überschreiten, oder die Generallinie des Blattes, mal nach links, zunehmend nach rechts. Im Feuilleton wird man doch noch mal sagen dürfen. Okay, und im Feuilleton darf man sich auch darüber aufregen, dass man hat sagen dürfen. Die einzige Chance des Feuilletons einer bürgerlichen Zeitung, die Schlüsselrolle der Kultur zu erhalten, ist ihre Hysterisierung. Denn ganz mag auch das Feuilleton seine Herkunft nicht vergessen: Es wurde in der Revolution geboren, als Kultur-„Blättchen“ im Journal des Débats. Damals mochte man die Kultur noch „unter dem Strich“, im unteren Drittel einer Zeitungsseite (eine Zeit lang ließ die F.A.Z. diese Tradition auch wieder in den siebziger Jahren aufleben). Diese grafische Verbindung wurde erst in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgegeben: Nun konnte man das Feuilleton „extra“ lesen. Es wurde eine Text-Welt für sich. Das Selbstvergewisserungsblatt des Mittelstands, das revolutionäre Kulturgeschichte in ästhetische Bequemlichkeiten und Aufgekratztheiten überführt. Dieser Job ist nicht zu verachten.

Um gesellschaftlich zu wirken in einer bürgerlichen Gesellschaft müssen nämlich Kunst, Wissenschaft und Kritik in der einen oder anderen Weise „feuilletonisiert“ werden, und es war zweifellos das Feuilleton, was den progressistischen Flügel des Bürgertums zu einem Selbstbewusstsein verhalf. Es war dabei zugleich Torwärter des guten Geschmacks und Einfallstor für den „schlechten Geschmack“. Ist schlechter Geschmack verwandelt in guten, indem er sich feuilletonisiert? Ganze Medien, der Roman im siebzehnten, Film im zwanzigsten, Comics oder Computerspiele im einundzwanzigsten Jahrhundert, wurden und werden durch ihre Feuilletonisierung in die bürgerliche Kultur eingeschrieben.

Feuilletonisieren also ist eine Voraussetzung für den Diskurs zwischen Kunst, Wissenschaft und Kultur auf der einen, Gesellschaft, Alltag und Kommunikation auf der anderen Seite. Der Rückweg des deutschen Bürgertums aus dem Faschismus in die demokratische Zivilgesellschaft wäre ohne das Feuilleton wohl nicht so ohne weiteres vonstatten gegangen(andrerseits war er vielleicht selber nur eine feuilletonistische Geste). Um so bemerkenswerter ist der Spott, den das Feuilleton selber über das Feuilletonisieren und den Feuilletonismus kübelt. Das ist, möglicherweise, eines der vielen Symptome dafür, dass sich das deutsche Feuilleton selber fürchterlich fremd geworden ist. Eben jene „kleine Form“, in der sich die Kritik durch Eleganz und Beweglichkeit gegen mächtige Diskurs- und andere Feinde behaupten konnte, und die zwei Jahrhunderte blühte, von Börne und Heinrich bis zu Karl Kraus, Siegfried Kracauer oder Alfred Polgar, hat sich vom abrupten Ende durch den Faschismus nie erholt. Dem deutschen Feuilleton der Nachkriegszeit musste das Verspielte und Offene fremd bleiben, es hatte die Aufgabe, ein geistiges Fundament für eine demokratische Zivilgesellschaft und die bürgerliche Mittelschicht darin zu liefern, eine „kulturelle Identität“, und es lernte dabei, sich furchtbar ernst zu nehmen, und sich erheblich zu überschätzen. Man musste ihm dafür dennoch dankbar sein, dem deutschen Feuilleton, doch wer konnte, sah mit großen Augen nach Süden, Westen, Norden, wo die kleine Form noch immer große Kunst war. Und widerspenstig.

In Westdeutschland dagegen wurde das Feuilleton zum ausführenden Organ eines Oberlehrer- und Kulturbeamten-Jargons; in Wahrheit nämlich hatte sich die formal wie intellektuell raffinierte und gewagte feuilletonistische Schreibweise mit der der völkisch-propagandistischen „Betrachtung“ verbunden. Das Feuilleton war zur Fortsetzung des Gymnasialunterrichts mit anderen Mitteln geworden, und die Kritik arbeitete (und arbeitet) am liebsten mit den Mitteln von Korrektur und Zensurenverteilen. So wurde das Feuilleton zu seinem eigenen Gegenteil, selbst da, wo man sich noch „fortschrittlich“ verstand: Aus einem Projekt zur Öffnung und Erweiterung der Diskurse wurde das Instrument zum Inkludieren und Exkludieren.  Die Filtermaschine des Mittelgeschmacks, das Wunschkonzert des deutschen Bürgertums. Weil es aber gelernt hatte, sich selber so furchtbar wichtig zu nehmen, war das deutsche Feuilleton unfähig, seine eigenen Krisen auch nur wahrzunehmen. Es reagiert vielmehr arrogant, gekränkt und narzisstisch auf alle  Symptome des Zerfalls. Es wurde sich selbst zum ärgsten Feind.

Denn „feuilletonistisch“ ist ja stets ein Offen- und Unernstlassen, ein Spielerisches und Vages, ein Experimentelles, Vorläufiges und Gewagtes. Man könnte wohl behaupten: Ein deutsches Feuilleton sei ein Widerspruch in sich. Oder anders: Die Nachkriegs-Geschichte des deutschen Feuilletons ist die Geschichte seiner Selbstaufhebung. Die primäre Aufgabe des deutschen Feuilletonisten scheint die Entfeuilletonisierung seines Feuilletons! So ist es, nur zum Beispiel, kein Wunder, dass ein Soziologe im Feuilleton einem Text vorwirft, er sei „feuilletonsoziologisch“. Als wären nicht einige der großartigsten soziologischen Texte ursprünglich fürs Feuilleton entstanden!

Der „Fall“ Heribert Prantls, der sich doch gelegentlich als später Meister der kleinen Form zeigte, offenbart dabei zweierlei: Erstens die Kleinlichkeit, das Erbsenzählerische und Missgünstige der Journalisten-„Kultur“ hierzulande, und zweitens, die groteske Authentizitätshuberei, die Reality-Versessenheit, zu der eine Kunst verkommen ist, die doch davon lebte, das Literarische mit dem Analytischen zu verbinden und sich mittlerweile schon ausdrückt wie eine scripted reality-Kochshow im deutschen Privatfernsehen. Hat jemand ernsthaft nachgefragt, ob und wie Siegfried Kracauers Beispiele aus seiner Frankfurter Zeitung-Serie „Nachrichten aus dem neuesten Deutschland“ über die Angestellten-Kultur streng real waren? Müssen die soziologischen Zufallsbekanntschaften von Richard Sennett genau so stattgefunden haben, wie er sie schildert? Nun gut, Prantls Text erschien eben nicht im Feuilleton sondern auf Seite drei, und ein Exempel wird hier vielleicht gegen die Ausweitung der feuilletonistischen Schlamperei statuiert…

Man kann zweifellos behaupten, dass das Feuilleton nicht zuletzt eine softe Form der Zensur ist. Wenn auch weniger über das Verbotene verhandelt wird als über das Geschmacklose oder das „Unbedeutende“. Es geht zunächst darum, was aufgenommen wird und was nicht, und dies sowohl auf der Ebene der Themen als auch der ihrer Behandlung, oder darum, was verhandelbar ist in der Kulturproduktion. So wird das Feuilleton zugleich zum Diskurs- wie zum Marktzugang. Was nicht feuilletonisiert ist, das existiert auch nicht in der verbliebenen bürgerlichen Öffentlichkeit. Das Problem mit dem schrumpfenden Feuilletonismus freilich liegt nun darin, dass es immer weniger Menschen sind, die gegenüber einer immer größeren ästhetischen und diskursiven Produktion entscheiden, was verhandelbar ist und was nicht. Und diese wenigen Menschen achten viel weniger darauf, was in der Welt los ist, als darauf, was die Konkurrenz macht. Aus einem ursprünglich zur Öffnung der Diskurse gedachten, lockeren und experimentellen Sub-Medium ist ein geschlossenes selbstreferentielles, borniertes und dogmatisches Instrument zum kulturpolitischen Mainstreaming geworden. Was im deutschen Feuilleton gelandet ist, das ist so gut wie tot.

Die Überheblichkeit der Feuilleton-Texte, ihr Bescheidwissen, die „Kunst des Verrisses“, ihr Vergnügen an geistigen „Gefechten“, die gerne mal, wenn auch in eleganter Form, unter die Gürtellinie gehen durften, kurzum die Geste der Konstruktion einer imaginären Überlegenheit (in Bildung, Urteilsfähigkeit, Beweglichkeit und, eben, Geschmack) war einst eine hoch notwendige immer auch politische, ja revolutionäre Pose in der Emanzipation des Bürgertums und in den Kämpfen ihrer Fraktionen. Im Feuilleton konnte der bürgerliche Leser eine Macht spüren, die ihm im politischen Teil seiner Zeitung nicht wirklich übertragen werden konnte, es war ein Feld der Selbstermächtigung gegen einen mächtigen Feind: Der Bürger, der sich weder politisch noch ökonomisch identifizieren konnte, konnte es immerhin kulturell tun. Und so wurde für viele Zeitungsbürger das Feuilleton auch ein moralisches Rückzugsgebiet. Die Errettung des Bürgertums vor sich selbst. Das funktioniert schon längere Zeit nicht mehr. Schon deswegen muss man sich hier alles Lockere und Wilde verbeten.

Der Feuilletonismus ist aus dem Feuilleton ausgewandert in den neuen Kolumnismus. Die Kolumnen nehmen bei ihrer Migration die Leichtigkeit aber auch, gelegentlich, den Geistreichtum, manchmal sogar ein klein wenig intellektuellen Wagemut und Widerspruchsgeist mit, meistens aber bloß die schamlose Ich-Sagerei. Feuilletonistische Kolumnen finden sich längst beinahe überall, nur nicht mehr im Feuilleton. Dort machen sich stattdessen Gastbeiträge der Prominenten breit, von denen man sich das eine oder andere Skandälchen verspricht, oder aber einfach, äh, die connection. Der Kolumnismus aber wiederum als pop-orientierter Nachfolger verliert sich recht bald in einer Form des medialen Populismus: Die Kolumne wird zum 1-Mensch-Feuilleton, das sich vieles leisten kann, nur nicht die Lieferung des Gewohnten und Erwarteten zu verweigern. Der Kolumnismus entpolitisiert die feuilletonistische Schreibweise radikal und wird zum mehr oder weniger eleganten Modell für den massenhaften Narzissmus. Wir ertrinken in Unmengen von furchtbar netten, menschelnden und sehr persönlichen Kolumnen, die ihren eigenen abgeklärten Postheroismus feiern und ansonsten nix und niemanden stören. Und sie haben, insofern ist das Unpolitische natürlich wieder mal kein bisschen unpolitisch, den Geschmack zur Privatsache erklärt. Was für die Unterschicht der Comedian ist für die gebildeten Stände die Kolumne geworden. Du darfst.

Makulatur - eine Untertapete aus Altpapier und Kleister - als eine Verwendungsmöglichkeit von Zeitungen.

Das bürgerliche Feuilleton hat unter anderem ausgedient, weil der Feuilletonismus selber sich zu Tode gesiegt hat. Er ist nämlich von einer besonderen, eleganten und geistreichen Form der Vermittlung zur Sache selbst geworden. Vieles, was wir an Theater, Kunst, Musik und Wissenschaft haben, ist selber schon feuilletonisiert: Feuilleton-Rock, Feuilleton-Philosophie, Feuilleton-Pornos etc. Der Kurzschluss zwischen einer verengten, subventionierten/ökonomisierten Kultur mit einer verengten Vermittlungsinstanz führt dazu, dass man sich über Geschmack wirklich nicht mehr streiten kann. Es geht nur noch darum herauszufinden, worauf sich das Restbürgertum gerade noch einigen kann.

Doch, wie gesagt, an Krisen mangelt es uns nicht: Kultur, nämlich der Zusammenstoß der ästhetischen Hoffnungen der Menschen mit dem politischen Zustand ihrer Gesellschaften, bedarf derzeit am allerwenigsten der Verwaltung und der unverblümten Hegemonialisierung. Sie bedarf der Erneuerung.

Wenn Kunstkritik Zulieferer für den boomenden Kunstmarkt, Filmkritik Legitimierung der Traumfabrikationen, Pop-Kritik Rettung des maroden Musik-Business ist, wenn Hipster und Oberlehrer in den feuilletonistischen Drehtüren kreisen, wenn die politische Freiheit des Feuilletons hauptsächlich benutzt wird, auszuloten, wie viel Niedertracht, Rassismus, Nazi-Koketterie es gerade mal wieder sein darf, wenn die Feuilletonisten wie die Teufel immer auf die größten Haufen scheißen und hinter jedem Gerücht herlaufen, irgendwo werde mal wieder eine Sau durchs Dorf getrieben, wenn in allen Feuilletons mehr oder weniger das selbe nicht nur verhandelt, sondern auch in den selben Worten und den selben Denkformen wiedergegeben wird, wenn sich die Text-Armut hinter Design und großzügiger Bebilderung verbergen muss, wenn man immer wieder auf erstaunliche Kongruenzen von Anzeigenkunden und Texten stößt, wenn die  letzte Zuflucht aus der Laaaangeweile des deutschen Feuilletons der Krawallfeuilletonismus von ein paar Streithansel-Darstellern ist, die ein paar dirty talk shows zu viel gesehen haben, wenn man irgendwas mit Sex macht, wenn sonst gar nichts mehr geht, wenn das Feuilleton den Tellerrand vergoldet, über den man nicht mehr hinausschauen will, wenn’s den Feuilletonisten die Sprache zerreisst zwischen Überheblichkeit und Anbiederei, wenn nichts, aber auch gar nichts mehr riskiert wird, aber auch keine geistige Leggerezza erzeugt wird, wenn man bei den meisten Feuilleton-Texten schon vorher weiß, was drinstehen wird, und wenn der Haufen üblicher Verdächtiger, die auf diesem erloschenen Vulkan wenigstens noch ein Abendfeuerchen entzünden, immer kleiner wird, wenn man Aufmerksamkeits- und Kampagnen-Taktiken schamlos vom Entertainment klaut, wenn man statt Selbstkritik im deutschen Feuilleton allenfalls Larmoyanz betreibt, freilich war früher alles besser, denn früher haben noch ganz andere Kerle und Kerlinnen das Feuilleton gemacht, wenn man dem Abonnenten nach dem Mund schreibt, statt ihm was zuzumuten, wenn man dem Feuilleton ansieht und anliest, dass es an seinen Einsparungen würgt, und ums eigene Überleben um jeden Preis kämpft, dann, ja dann brauchen wir es eigentlich nicht mehr.

Eine Mehrheit der Beteiligten ist es ohnehin eine störende Lesebremse zwischen Börsennachrichten, Kunstmarkt und Uhrenreklame. Der kulturelle Luxus der neuen Oberklasse ist nämlich im klassischen Feuilleton so wenig zu verhandeln wie die rebellische Ästhetik neuer sozialer Bewegungen. Und der verbleibende Mittelstand ist mit dem verbreiteten Kolumnismus gut bedient. Blättchen für die Innenausstattung der privaten Reaktion.

Deutsche Feuilletonisten! Erhebt die Hände über den Laptops zur Rückeroberung von Freiheit und Schönheit in Zeitungsform! Oder macht euch davon aus diesen muffigen Büros. Etwas besseres als den Tod findet ihr allemal.

Georg Seeßlen