Die schwierigste Frage an die Kunst ist die, ob es sie überhaupt gibt. Sie könnte ebenso gut eine gewaltige Schimäre, ein sich selbst zeugendes, sich selbst kannibalisierendes, ein sich selbst enthaltendes System sein wie, ganz anders, Unterhaltung für besser verdienende, besser gebildet und sich besser wähnende Stände, nebst der erwünschten Erzeugung „kleiner Unterschiede“ als Symptome von Herrschaft.

Tatsächlich wird Kunst zur Kunst weder im Atelier noch in der Galerie, weder im Museum noch beim Sammler, sondern in den Katalogen, Reproduktionen, Rezensionen. Kunst wird zur Kunst erst außerhalb des Kunst-Raumes. Es kann keine bilaterale Verabredung zwischen einem sein, der einen Haifisch in ein Formaldehyd-Becken platziert und einem, der die entstandene Skulptur für einen Millionenpreis ankauft, wenn es nicht zugleich ein Millionenpublikum gibt, von dem, gewiss, eine Mehrheit lieber in ein Event-Aquarium geht als ins Museum, wenn man einen Haifisch sehen will. (Wir wollen nicht unerwähnt lassen, dass der Eintrittspreis des Event-Aquariums wesentlich höher liegt als der für das Museum.)

Mit der Kunst verhält es sich wie mit der Demokratie: Man getraut sich nicht wirklich, Kritik an ihr zu üben, aus lauter Furcht, es könne sofort der Beifall von der entschieden falschen Stelle ertönen. Kunstkritik erzeugt Kunst, Kunst-Kritik könnte ja möglicherweise die Kunst abschaffen.

Nun gibt es freilich Menschen, und so wenig sind das nicht, die ohne Kunst weder leben wollen, noch können. Ihr Glaube an die Kunst ist um eine sehr einfache Offenbarung herum entstanden: Gute Kunst setzt sich durch und bleibt jenseits des Kunst-Betriebes, jenseits der Kunst-Darsteller (Künstler, die weniger das Picture als das Image verkaufen), jenseits der Katalog-Phrasen etc.

In aller Regel machen wir, die Kunst lieben und den dazugehörigen Betrieb definitiv hassen (wozu auch einige durchaus prominente Künstler gehören), in diesem Dogma unseren Frieden mit der Grundfrage nach der Kunst. Die Sache, die produziert wird, geht weit über ihre Produktionsumstände und ihre Produzenten hinaus. Aus all dem profanierten Scheiß erhebt sich die Kunst unentwegt, wie der so arg überstrapazierte Phoenix.

Ketzereien gibt es natürlich genügend. Zum Beispiel die Vorstellung davon, dass es hoch begabte und ideenreiche Künstler da draußen geben muss, die es zu nichts bringen, weil sie kein „Image“ zustande bringen. Oder umgekehrt, Künstler, die mitsamt ihrer Kunst eigentlich so aussehen, als wären sie für die entsprechende Rolle in einer Soap Opera gecastet.

Natürlich hat, wer sich ein bisschen auskennt in der Kunst und in ihrer Geschichte, einen Blick. Was ist Kunst? Ich erkenne es, wenn ich es sehe. (Und auf alles Epigonale, Scharlatanische, Opportunistische, Ungenaue und Zaghafte reagiere ich mit schier körperlichem Widerwillen.) Möglicherweise gibt es ja einfach ein Kunst-Gen, bei denen, die sie machen, wie bei denen, die sie irgendwie brauchen und in ihr Leben einbauen.

Dennoch würden wir wohl in keinem anderen Zusammenhang das Produkt so sehr und sogar so militant gegen die Produktion in Schutz nehmen. Beinahe würden wir sogar Heuschrecken-Kapitalisten wieder nett finden, wenn sie nur was für die Kunst tun. (Allerdings: Was passiert mit einer Kunst, in die dieses Heuschrecken-Geld hineingepumpt wird, wie viel „Subversion“ ist vonnöten, damit aus der Kunst für Heuschrecken-Geld keine Heuschrecken-Kunst wird? Man fragt ja nur.)

Man stelle sich vor, Kaffeemaschinen, Bildungseinrichtungen oder politische Entscheidungen würden nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren, also im Jenseits zu ihren Produzenten und Produktionsbedingungen. (Eine Glühbirne müsste uns dann auf ewig erleuchten und nicht nach den Betriebsstunden den Lichtergeist aufgeben, auf deren Anzahl sich das Glühbirnen-Kartell geeinigt hat.)

Kunst ist keine Ware, sondern ein Meta-Ware. Einerseits kann nicht Kunst sein, was sich jede und jeder leisten kann, andererseits schafft die Gesellschaft in ihrer Güte und Weisheit mit dem Museum einen demokratischen Kunst-Raum (aus dem einen höchsten Snobs, dozierende Studienräte, museumspädagogisch betreute Kinder oder unterbezahlte „Museumswärter“ wieder vertreiben können).

Wenn – und erst einmal gefragt: warum auch nicht? – das Image bereits die „eigentliche“ Kunst ist, und das Picture nur der mythologisch notwendige „Realitätsrest“ darin, dann ist tatsächlich die Frage, ab wann sich Kunst nach den Regeln der Unterhaltungsindustrie bewegt. Und wieder setzen wir ein Mantra dagegen: Die Kunst entwickelt sich mit so viel (wenn auch sehr tricky vermitteltem) Bewusstsein und mit solcher Geschwindigkeit, dass sie sich schneller neu erfindet als vom Entertainment aufgefressen zu werden.

Diese Hoffnung ist insofern nicht ganz unberechtigt, als es ja auch keinen endgültigen Besitz gibt, weder im materiellen noch im geistigen Sinne. Wenn Kunst sich „oben“ falsch entwickelt, wird sie von „unten“ einfach neu definiert. So dürfen wir hoffen, dass aus der Kunst im Kapitalismus keine Kunst des Kapitalismus wird.

Hoffen? Fatalerweise schränkt eben diese Schutzbehauptung der Kunst auch wieder ihre Aussagefähigkeit ein. Zugleich im Haus des Manager-Sammler Ausdruck und in der Kunstzeitschrift Kritik des Systems zu sein, belastet ein Picture schon arg (weshalb denn auch das Image die Tendenz hat, sich ins beliebig-anarchische zu verflüchtigen).

Fragt sich also, was kapitalismuskritische oder gar „antikapitalistische“ Kunst wäre. (Auch davon wurde ja nun weiss der Himmel genug geträumt.) Wie es so geht: dann wäre die Geste nicht anders denkbar als gegen die eigenen Produktions- und Distributionsformen. Anti-Kunst, for the moment being.

Um solchen unmöglichen Entscheidungen zu entgehen, denn gleichgültig wie ich mich entschiede, ob radikal für den Kapitalismus oder radikal gegen ihn, jedes Mal wäre das Ergebnis ein Projekt der Selbstaufhebung, mag es der Kunst also ganz rechte sein, wenn ihr als Rückzugsraum das Schimärenhafte, das Blasenhafte und die Ambiguität bleibt. (So kann die Kunst übrigens immer einmal wieder „extrem“ sein, aber nie „radikal“.)

Die Kunst der Kunst ist ihr eigenes Überleben.


Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben 18.10.2009

veröffentlich im Georg-Seesslen-Blog: DAS SCHÖNSTE AN DEUTSCHLAND IST DIE AUTOBAHN