EIN DIALOG ZWISCHEN FRANZ KAFKA UND WALT DISNEY

Familien und Katastrophen

In den Jahren, als Steven Spielberg mit dem Weißen Hai Hysterie und Geldregen auslöste, waren die jungen Filmemacher in den USA von einer besonderen Art des Zorns erfasst. Er richtete sich allgemein darauf, dass (wie es in der jüngst auf DVD erschienenen Kompilation American Nightmare heißt) „der amerikanische Traum sich als Illusion erwiesen und in einen Alptraum verwandelt hatte“. (Das tut er übrigens, wenn ich es richtig sehe, mit schönster Regelmäßigkeit, ich vermute sogar, dass die Dialektik von Traum und Alptraum nicht nur die Dynamik der popular culture, sondern die der ästhetischen Ökonomie der USA schlechthin ausmacht.) In besonderer Weise richtete sich dieser Zorn darauf, dass eine Erneuerung des Kinos scheitern musste.

Steven Spielberg wurde von diesem Zorn gestreift, einige seiner besseren Filme zeugen davon. Aber zur gleichen Zeit profitierte er davon, dass er etwas hatte, was diesem Zorn entgegen zu setzen war: Einen Hoffnungsschimmer, zusammengesetzt und durchaus widersprüchlich, aus der Sehnsucht nach family values und einem liberalen Humanismus, der sich erst spät zu seinen Wurzeln in der Geschichte der Juden in Amerika bekannte.

Steven Spielbergs Filme kann man beinahe samt und sonders einer Mega-Geschichte unterordnen: Am Anfang steht ein Konflikt in der Familie, ein Zerfall, ein Streit der Eheleute, eine Gemeinheit gegenüber den Kindern. So entlässt der bürgerliche Innenraum seine Menschen in die Kälte und in die Katastrophen. Es mag sich dabei um Kämpfe gegen weiße Haie, Begegnungen mit Außerirdischen, Duelle mit geheimnisvollen Autofahrern, Abenteuerreisen und Schatzsuchen, Dinosaurier oder Weltkriege handeln. Stets steht das entborgene Individuum allein gegen Zeichen und Gefahren, die nicht vollständig von dieser Welt sind. Im Unterschied zu seinen so zornigen Altersgenossen, die ihre Zombies, ihre Menschenfresser und Sadisten gerne direkt aus der Hölle holten, sah Spielberg immer das göttliche Zeichen. Steven Spielbergs Filme, die guten jedenfalls, erscheinen wie ein Dialog zwischen Franz Kafka und Walt Disney, von einem liberalen Rabbi moderiert.

Das beinhaltet freilich auch, dass dieser Dialog nie zu einem Ende geführt wurde, dass die unerklärliche Strenge des Gesetzes und die süße melodramatische Ordnung der Welt, die Verdammnis und die Erlösung durch die Familie, die jüdische Zivilisiertheit des Bildes und die protestantische Barbarei des Textes immer unverbunden blieben. Dieser Widerspruch ist nicht neu, es ist der Widerspruch der amerikanischen Kultur par excellence, der immer wieder, und im Amerika des Präsidenten Bush jr. natürlich besonders augenfällig ausbricht.

Vielleicht war es das Projekt Hollywood, diese beiden Elementen in wechselnden Formen miteinander zu versöhnen, und nach dem Scheitern dieses Projekts im Zorn und in der Melancholie von New Hollywood, bedurfte es dringend eines Künstlers wie Steven Spielberg, der für ein Kino stand, das von der bigotten protestantischen Vorstadtfamilie ebenso akzeptiert werden konnte wie von den urbanen Einwandererfamilien. Rein dramaturgisch hieß das, dass Spielberg Geschichten zu erzählen begann, die er nicht zu Ende zu bringen imstande war; dass der Kitsch der Lösung in kaum einem Verhältnis zur Radikalität der Frage stand; dass die Kamera in seinen Filmen für einen Augenblick ziemlich genau hinsehen kann, was Alltagsrealität und Machtverhältnisse anbelangt, und im anderen den Blick verschleiert.

Dass Spielberg-Filme die Aufforderung an Jung und Alt sind, stets den Erlösungstraum über den mehr oder weniger gerechten Zorn zu setzen, auf immer und ewig Disney über Kafka siegen zu lassen, machte ihren Erfolg aus, damals, in den siebziger Jahren, als sich ein neues Kleinbürgertum nach Hippie-Revolte und Drogentraum, nach Vietnam und Watergate herausbilden sollte. Nicht mehr ganz so naiv und reaktionär wie das alte Kleinbürgertum, natürlich nicht, aber eben doch kleinbürgerlich auch darin, den Erfahrungsraum zu begrenzen, den Zorn zu kontrollieren, die häusliche Innenwelt als wahres Leben zu erkennen. Haie, Dinosaurier und Außerirdische sind Zeichen für die immer gleichen Vergehen: Dass man es mit dem Kapitalismus zu weit getrieben haben könnte, und dass man es zuließ, dass es in den Familien nicht mehr stimmte.

Immer geht es auch darum, eine Schuld abzutragen. Dort draußen in aller Kälte und Gefahr, gibt es nur eine Sehnsucht, die Sehnsucht nach hause, zurück in die Geborgenheit, oder wenigstens in eine neue zu gelangen. Die Hoffnung, die Steven Spielberg in seinen Filmen den Protagonisten dazu gemacht oder auch einmal verweigert hat, sind sehr direkt (und übrigens durchaus eingestanden) mit seinem eigenen jeweiligen biographischen Entwicklungsstand verflochten. Unter anderem weil Steven Spielberg der perfekte Repräsentant seiner Klasse ist, machte er einige der Filme, die ihr so angemessen sind wie Ernährungsrituale und Markenzeichen. Genau so aber sind sie auch mit den Stimmungen des Publikums verbunden, das Spielberg mehr liebt als, sagen wir, „den Film“. Immerhin ist Steven Spielberg ja nicht nur für einige der gewaltigsten kommerziellen Erfolge der amerikanischen Filmindustrie verantwortlich, sondern auch für einige echte Desaster in der ästhetischen Ökonomie der Traumfabrik (das reicht von der chaotischen Kriegssatire 1941 über die TV-Serie Seaquest). Vielleicht kann man sagen, dass Steven Spielberg stets dort Schiffbruch beim Publikum erlitt, wo sein kritischer Humanismus mit ihm durchging, und stets dort von der Kritik zerrissen wurde, wo seine Sentimentalität mit ihm durchging.

Seine Kunst bestand seit jeher darin, diese beiden Elemente mit seinem zweifellos überdurchschnittlichen Talent zum visuellen Geschichtenerzählen und seiner Beherrschung der Effekt-Technik zu verbinden. Aber es blieb auch ein Riss in ihm selbst: Zwar wird in jedem seiner Filme der unheilvollen Welt mit familiärem Heil begegnet, aber die Gewichte sind nicht immer gleich verteilt. Einige sehr merkwürdige Spielberg-Filme wie Hook oder A.I. glauben ihrem eigenen Kitsch nicht.

Das Wesen der Spielberg-Erzählung besteht also darin, der Katastrophenphantasie einen eigenen Touch zu geben. Die allgemeine Katastrophenphantasie des Hollywoodfilms funktioniert in der Regel auf eine sadistische Weise melodramatisch und religiös. Nur die nichtrauchende Jungfrau überlebt den Schlitzer-Angriff im Teenager-Camp; Feuersbrünste, Wirbelstürme und Flutkatastrophen verwüsten das Haus offensichtlich zu keinem anderen Zweck, als das Paar und die Familie aus dem allgemeinen Strafgericht gestärkt hervorgehen zu lassen. Alle großen amerikanischen Katastrophenfilme schicken das Publikum zurück: Geht nach Hause, betet, habt euch lieb und achtet darauf, dass ihr die familiären Ordnungen nicht stört.

Der erste große Unterschied bei Steven Spielbergs Filmen liegt darin, dass er die Konflikte, die Probleme der Familie, das eigentlich nicht zu Rettende in ihnen sieht und es manchmal in ziemlich genaue Bilder und Worte packt. Aber genau das macht auch das Monströse vieler seiner Mischungen aus Katastrophe und Kitsch aus: Wer etwas genauer hinsieht, wo etwas schief läuft, muss auch die Bilder von Rettung und Heilung größer machen. Deshalb muss der Riss in der Familie, den E.T. nicht ohne Zorn und Trauer beschreibt, mit solch intergalaktischem Kitsch beantwortet werden.

Sieht man bei der Meta-Geschichte von Spielbergs-Filmen noch einmal genauer hin, dann erkennt man einen zweiten entscheidenden Unterschied. Im Gegensatz zu den protestantisch-reaktionären Filmen des Mainstream sind sie nicht geil auf Tod und Opfer. Im Gegenteil: In vielen seiner Filme steckt der mal gelingende, mal scheiternde Versuch, ein implizit oder explizit gefordertes Opfer zu vermeiden. Seine Helden, wenn es andere sind als die spielenden Kinder, die ihre tristen Familienerfahrung in gewaltigen symbolischen Aktionen ausleben müssen, sind nicht Rächer sondern Retter.

Und ein dritter Unterschied: Der Sieg der Gewalt wird bei Spielberg nie als Triumph gefeiert. Helden sind bei ihm nicht groß und stark und proletarisch, sondern klein und schlau und bürgerlich. Sie können gar nicht anders, sie müssen reflektieren. Schon in Duel sehen wir am Ende den Helden, wie er seinen gestaltlosen Widersacher endlich bezwungen hat, und wie er sich schon, animalisch beinahe, über diesen Sieg freuen will, und wie ihn dann eher ein Erschrecken über sich selbst erfasst. Ein viertes schließlich: Spielbergs Helden sind nicht perfekt. Sie sind nicht einmal unbedingt „gut“ (das, immerhin, konnte er noch den skeptischsten Zuschauern von Schindlers Liste vermitteln).

Man kann dies als ein bewusstes oder unbewusstes Erbe des jüdischen Humanismus ansehen, und vielleicht sogar damit spekulieren, warum Spielbergs Regie-Arbeiten im amerikanischen Kino der Jahrtausendwende so altmodisch und peripher erscheinen – abgesehen davon, dass Spielberg selber in den letzten Jahren gerne Filme drehte, die vor allem beweisen sollten, dass er nichts mehr beweisen muss.

Spielberg hat in diesen letzten Filmen, die auch längst nicht mehr so erwartet werden, als müssten sie das Kino neu erfinden, immer wieder versucht, die drei Aspekte seiner Arbeit zusammenzuführen, den Kindertraum des Abenteuers und die Lust an den Effekt-Orgien, die retardierte Sentimentalität der family values und die unbestimmte Sehnsucht nach hause, und schließlich das andere Weltbild, die Suche nach den Möglichkeiten der gerechten Tat in der verdammten Welt. Richtig geklappt hat das nicht.

Gewiss also gibt es ein paar äußere Gründe dafür, dass sich Spielberg einen Stoff wie Krieg der Welten aussuchte. Es war wohl an der Zeit, sich mit etwas Spektakulärem zurück zu melden, ein Film als Darstellung eines Führungsanspruchs, vielleicht nicht ganz zufällig in einem direkten Duell mit seinem Freund und Konkurrenten George Lucas und seinem Abschluss der Star Wars.

Es war aber auch eine Gelegenheit zu einem rewriting sowohl der eigenen Werk- als auch der Filmgeschichte: einerseits war da der Roman eines englischen Autors, der kein sanfter Mahner war, sondern ein Kerl, vor dessen Sozialingenieur-Ideen man sich gelegentlich fürchten muss; andererseits das berühmte Werk des Zynikers Orson Welles, der mit seinem trickreich als Reportage verpackten Hörspiel, trotz aller Hinweise auf das Fiktionale, eine Massenhysterie auslöste, und zum dritten das Design-Kunststück von Byron Haskin, der in seiner Verfilmung aus dem Jahr 1953 ein paar der überzeugendsten Bedrohungsbilder der Filmgeschichte lieferte, mit den Manta-ähnlichen Raumschiffen und ihrem sirrenden Sound. Spielberg, so viel ist sicher, will sich da messen, und er will es nicht nur durch den schieren filmtechnologischen Aufwand tun.

Man hat schon betont, dass Krieg der Welten ein Film „nach 9/11“ ist, eine andere Form von Zorn ist nun da, Steven Spielberg hat Zeit seines Lebens gegen den zynischen Zorn seiner Altersgenossen angefilmt. Bei ihm waren die Außerirdischen sanft und friedlich, bei ihm ging die Rechnung nie ganz auf, dass die amerikanische Familie sich in der Weltkatastrophe wieder vereint, er brauchte den Krieg und das Kriegerische nicht, um eine spezielle Form von „Heimatfilm“ zu realisieren. Eine durch die Katastrophe „reparierte“ Familie war für ihn nicht die Wiederkehr des puritanischen Lebensmodells, sondern Zusammenschluss von Menschen, die wenigstens emotional etwas gelernt haben. Aber nun?

Die Außerirdischen von Krieg der Welten sind auch im psychoanalytischen Subtext das Feindliche schlechthin: Uninteressiert an jedem Dialog, massenhaft wie Insekten, an die auch ihre vampirischen Rüssel erinnern, zerstörerisch nach Plan aber ohne Grenzen legen sie alles in Feuer und Asche, was sie an menschlicher Zivilisation vor sich bekommen. Sie beginnen sofort einen eliminatorischen Krieg, und natürlich ist diese Analogie zum deutschen Faschismus nicht ganz ungewollt. Wieder schildert Spielberg vor allem die amerikanische Familie im Augenblick der Gefahr. Wieder ist es das Kind, das eigentlich viel erwachsener als die Erwachsenen ist und die Familie in Wahrheit zusammen hält. Wieder kämpft der Vater um seine Integrität und seine Ordnungsposition in der Familie. Wieder sind es innere Spannungen, die die Familie fast zum Bersten bringen, bevor die äußere Gefahr erscheint. Wieder muss dieser Mann sich einer Art von gewalttätiger Heilung unterwerfen. Und wieder ist der eigentliche Held ein Verlierer, eines der Opfer des american dream, der Modernisierungen und Technologisierungen, der Beschleunigungen und der eigenen Ambition. Er findet seine Bewährung nicht nur in der Familie, sondern auch in der Gesellschaft, aber nicht im Sinne des reaktionären Bibel-Kapitalismus, sondern in einer durchaus liberal gebremsten und reflektierten Weise.

Und wieder steckt die Katastrophe schon in der Praxis der Menschen, die sozialen und moralischen Erosionserscheinungen machen sich überall bemerkbar. Noch nie war das Gegenwarts-Amerika in einem Steven Spielberg-Film so schmutzig. Tom Cruise als Ray ist einer der Verlierer des Neoliberalismus in einer von seinesgleichen weder zu verstehenden noch zu rettenden Welt, und Spielberg filmt ihn, angelehnt an die grobkörnige Ästhetik spontaner New Hollywood-Filme, als wollte er zu den Anfängen dieses Kinos zurück, zum sozialen Wissen, zur Kritik und zum Zorn, der sich nicht umlenken lässt vom Realen auf den Mythos. Aber dann bricht die Katastrophe mit einer religiösen Inbrunst, fast orgiastisch herein, ohne dass sie gesucht worden wäre. Und wieder wird das Automobil, der gläserne Sarg, zur Rettungsinstanz, zum Lebensraum, zur Brutstätte für die familiäre Wiedergeburt. Vor den grässlichen Aliens flieht Ray mit seiner Familie übers Land (an Cujo denkt man so sehr wie an Sugarland Express), Ray nimmt auf dieser abenteuerlichen Flucht/Reise auch wieder Anteil an seinen Kindern, und diese öffnen sich dem Vater, der eben das werden muss und will, was sie sich immer in ihm ersehnt haben: ihr Held.

Diese Flucht ist zugleich ein Panorama von Amerika unter Bush; Americana im Zustand des Verschwindens. Der große Zorn entlädt sich in diesen Bildern in Trauer. Der american dream ist vorbei. Er funktioniert nicht einmal mehr ästhetisch, die Bruchstücke sind schlechte Imitationen, unvollkommene Kopien, misreadings der eigenen Kultur. Durch den Einbruch der unhinterfragbaren bösen Gewalt kehren sich die inneren Bedingungen des Neoliberalismus nach außen. Selbst die Sorge für die Familie reduziert sich auf ein animalisches Brutpflegeverhalten, man will weniger noch als Barbar, man will wieder Tier werden.

Die Bilder von Flucht, Vertreibung, Zerstörung und Chaos gehören zum schrecklichsten, was es in letzter Zeit zu sehen gab; da schimmert die Realität von Flucht und Vertreibung durch, die in unserer Welt nicht von Außerirdischen erzeugt wird. Der Zorn findet Bilder wie den brennenden Zug in der Fahrt. Der Kreis scheint sich zu schließen zwischen dem Mainstream und den Filmen der Neoprimitiven und jungen „Wilden“ der siebziger Jahre, zu den Endbildern von Romeros Zombie und Hoopers Texas Chainsaw Massacre.

Aber Spielberg ist unfähig, sich tiefer auf seinen eigenen Alptraum, seine eigene Diagnose seines Landes einzulassen. Er kann nicht anders, er muss das Rettende inszenieren, und er inszeniert es, als hätte er Angst vor sich selber bekommen, das macht es auf absurde Art authentisch. In seiner schon wieder so kitschigen Errettungsphantasie spürt man immer noch das kleine Kind, Steven Spielberg in der Vorstadt, das die Eltern streiten hörte. In Krieg der Welten fasst Steven Spielberg nicht nur sein filmisches Werk noch einmal zusammen, sondern auch sein großes Dilemma.

Spielberg kriegt jedoch, so scheint es, weniger denn je seine drei Elemente auf die Reihe. Vielleicht ist ja humanistisch, familiär und amerikanisch zugleich zu sein, derzeit so ohne weiteres einfach nicht möglich. Nicht einmal, oder ganz besonders nicht, angesichts einer absolut unverständlichen Bedrohung. So muss er im Bild zerfallen lassen und in den Dialogen zerreden lassen, dass er tief innen pessimistisch ist und doch optimistisch sein will; dass er an die Familie glaubt, die aber nichts mehr ausrichten kann im Schmutz dieser Welt, die längst verkommen war, bevor die Fremden kamen; dass er Amerika liebt, aber dieses Amerika in Wahrheit nicht mehr existiert. Das Projekt, jüdischen Humanismus (wenn man es denn so nennen will) in den Mainstream der katastrophensüchtigen Bildermaschine einzuschreiben, ist gescheitert. Jedenfalls vorerst einmal wieder.

Georg Seeßlen

Dieser Text ist zuerst erschienen in: „Freitag“