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Gewalt, Sex, Verrat,  Magie und Spektakel

Was Macht macht

Naturalistische Fantasy

Ein Essay über die unheimlich erfolgreiche TV-Serie GAME OF THRONES von Georg Seeßlen

Okay, es gab die „Hobbit-Trilogie“ und es gab die „Tribute von Panem“. Aber wenn es einen echten neuen Kult gibt im Bereich der Fantasy, dann ist es die HBO-Serie GAME OF THRONES. Genau genommen begegnen sich gleich zwei Kultfelder, die der Fantasy und die der (nun auch nicht mehr so) neuen, intelligenten Fernsehserien als große Erzählmaschinen. Als „Soparanos in Mittelerde“ wurde GAME OF THRONES denn auch bezeichnet, eine Chronik politischer Verbrechen vor einem Mittelalter plus Magie-Hintergrund, aber das trifft es nicht so ganz. Nach George R. R. Martins ausuferndem Roman-Zyklus entstand etwas ziemlich Neues: naturalistische Fantasy. Für Erwachsene, oder solche, die es werden wollen. Anstatt für ewige Kinder. Diese Fantasy erzeugt Geschichten aus Geschichte. Es ist vor allem die Geschichte des britischen Königreichs im Mittelalter. Besonders die „Kriege der Rose“ lieferten offenkundig Material und Figuren, aber auch Welt- und Menschenbilder der Gegenwart sind Quellen. Spieltheorie und Behaviorismus, Werttheorie und Dekonstruktion, man kann auch mit Machiavelli und Michel Foucault kommen. Muss man aber nicht.

Wir befinden uns in der Welt von Westeros, einem Kontinent, auf dem sieben Fürstenhäuser um die Macht ringen, und in den Königreichen selber wieder Männer und Frauen, Brüder und Schwestern, Tyrannen und Verschwörer, Gewalttäter und Verräter. Die Starks, die Lannisters und die Baratheons erzeugen die bedeutendsten Player um die Macht auf Westeros, aber auch die einst verbannte Königsfamilie Targaryen lauert auf die Chance, ins Zentrum der Macht zurück zu kehren. Ringsumher lauern weitere kriegerische Völker und andere Gefahren, weshalb zum großen Norden hin auch eine gewaltige Mauer errichtet wurde, die von einer „Nachtwache“ bemannt ist, Ausgestoßene und Auserwählte aus allen Königshäusern, Mörder, Vergewaltiger, Opfer. Aus dem Norden aber kommen nicht nur die kämpferischen Individualidealisten der „Wildlinge“, sondern noch etwas viel schrecklicheres Dämonisches. Und als wäre das alles nicht genug, droht Westeros und dem Rest dieser Welt ein großer Winter (in dieser Welt nämlich sind Wetterwechsel nicht an Jahreszeiten gebunden).

 

Das Game – mächtiger als jeder Spieler

Es herrscht Krieg als Dauerzustand und eine Zeitenwende, die recht eigentlich nicht kommen will, zäher, blutiger Übergang statt Aussicht auf Erlösung, und wahrscheinlich zu spät ob der apokalyptischen Bedrohungen ringsum. Neue Götter treten an die Stelle der alten, es geht schon in Richtung des Monotheismus, und an den Peripherien halten sich wilde, schamanische Kulte. Aber die Religion ist vor allem eine Funktion der Macht auf Westeros, und die Macht ist nicht denkbar ohne Ökonomie. Daher kommt der größte blutsäuferische Recke, der verschlagenste Fürst nicht an gegen die „eiserne Bank“. GAME OF THRONES schildert die Vorzeit des Kapitalismus: Feudalherrschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Plünderungsökonomie, Ur-Kommunismus, antike Wirtschaft in freien Städten, Warlord-Herrschaft, Terrorismus, und schließlich die Form des Ur-Kapitalismus, die auch, wie in der freien Stadt Braavos mit ihrer „eisernen Bank“, eine Form von Ur-Demokratie begleitet, immerhin werden die Führer hier gewählt (ohne dass sich freilich am Spiel um die Macht allzu viel ändert). Auch ein großer Versuch zum Umbruch, die Sklavenbefreiung durch Khaleesi, die „Mutter der Drachen“, scheitert am Mangel an einer Vorstellung von anderem Leben: die Sklaven können mit ihrer Freiheit nichts anfangen, da sie nur neue Abhängigkeiten, Gefahren und Ausbeutungen bedeutet. Und schließlich kann auch eine Bruderschaft wie die „Nachtwache“, zusammengesetzt aus Outcasts, verdammten Mördern und Vergewaltigern, die die Mauer gegen Norden zu verteidigen haben, die sich strenge sittliche Regeln gaben und die sich aus Angehörigen aller verfeindeter Königshäuser zusammensetzt, nicht wirklich zu einer Stabilisierung der Lage beitragen. Das Game ist immer mächtiger als jeder Spieler.

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Die Serie behandelt im Kern die Frage: Was ist Macht? Sie zeigt sich in allen ihren Facetten und Typologien und in Bezug auf alle anderen menschlichen Impulse, Sexualität, Liebe, Loyalität, Neugier, Wissen … Sie wird allerdings primär erzeugt durch nackte Gewalt. Man ist skrupellos dabei in Westeros, die einen vielleicht noch ein bisschen mehr als die anderen. Wer irgendwem vertraut, wird grausam bestraft; auch der Versuch einer Heiratsdiplomatie zur Friedensstiftung endet in einem Gemetzel, einer „roten Hochzeit“ (für die wir ebenfalls Vorbilder aus der Geschichte kennen). Die Menschen definieren sich über ihre Position zu Macht und Reichtum, auch und gerade die Verstoßenen oder Übergangenen. Eine andere Form von „Identität“ scheint es hier nicht zu geben. Fluchtwege auch nicht. Das zweite Mittel der Macht ist die Sexualität. Einmal durch die direkte Unterwerfung und auch Vernichtung: Frauen in Westeros, in der Mehrzahl genau so machtgierig, gewalttätig und skrupellos wie die Männer, müssen immer noch zusätzlich zu allen anderen Gefahren mit der Vergewaltigung rechnen. Der Einsatz von Sexualität im Macht-Spiel ist ebenso oft erfolgreich, wie er zum eigenen Untergang führt. Die dritte Macht-Funktion der Sexualität ist die dynastische; zur richtigen Zeit die richtigen Nachkommen zu zeugen und zu gebären ist die einzige in Westeros bekannte Form der Legitimierung von Dauer in der Herrschaft. Aber natürlich ist die Familie der Mächtigen immer auch der Hort der größten Gewalt. Brüder ermorden Brüder, Töchter die Väter, Mütter die Konkurrenten. Wie hungrige Wölfe streichen die „Bastarde“ durch die Regionen der Macht.

Die Lage ist, um es zurückhaltend zu formulieren, einigermaßen unübersichtlich. Etwa 120 Hauptfiguren, sie alle im endlosen Streit um die Macht, kämpfen in George R. R. Martins Romanen vom Lied von Eis und Feuer mal mit-, meistens gegeneinander; sehr viel weniger sind es auch in der TV-Serie nicht. Alle haben sie eine eigene Sicht der Dinge, so dass in den Romanen oft die Perspektive wechselt, und manchmal kann man sich auf die jeweiligen Erzähler nicht verlassen. Es gibt keine „Guten“, es gibt keine Helden, allerdings spielt GAME OF THRONES keineswegs in einem vollkommen amoralischen Raum. Im Gegenteil. Wir sehen hier Menschen, die Entscheidungen treffen, und die Rechtfertigungen für ihre Handlungen suchen. Die Familie, der Thron, die Ehre, immer wieder die Rache. Es gibt allerdings auch genügend Zyniker, Nihilisten und echte Psychopathen (schauerliche Folterungen und Menschenjagd à la Graf Zaroff, das kann nicht fehlen), vor allem aber gibt es Menschen, die sich ändern. Die meisten werden roher und brutaler, in manchen aber regen sich auch Zweifel gegenüber einer Welt, in der unentwegt nur Gewalt wieder Gewalt erzeugt.

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Einer von denen, und am Ende doch so etwas wie ein narratives Zentrum ist der „Gnom“, der kleinwüchsige Lannister-Sohn Tyrion, den der Vater, wie er später einmal bekennen wird, am liebsten gleich nach der Geburt getötet hätte, und ihn später bedenkenlos als Königsmörder hinrichten lassen will, obwohl er um seine Unschuld weiß. Dieser „Krüppel“, einer von mehreren in dieser Welt, die es lernen müssen, mit eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten zurechtzukommen und sie durch besonders wache Beobachtung zu ergänzen, scheint zunächst das Spiel der Intrigen und des Verrats besonders gut zu beherrschen, aber zugleich ist er zu klug, um es nur ewig fortsetzen zu wollen. Im kleinen Zyniker steckt schon ein großer Moralist. Daher wird er das Opfer besonders niederträchtiger Machenschaften. Und muss sich besonders konsequent dafür rächen.

 

Sex & Gewalt

All das ist voller Blut, Sperma, Schmerzen und grausiger Lust. Aber es ist zugleich ein kaltes Spiel. Ein Game, nicht ein Play; es gibt Regeln in diesem Spiel um die Macht, die freilich nirgendwo verbrieft sind, und die sich ständig ändern. Es ist vielleicht nützlich zu wissen, dass George R. R. Martin früher ein leidenschaftlicher, semi-professioneller Schachspieler war. Hierarchie und Macht sind nicht miteinander identisch, immer wieder sind es eigentlich untergeordnete Figuren, die ob besonderer Fähigkeit oder Finten entscheidende Wendungen herbeiführen, und natürlich geht es immer wieder darum, strategische Opfer zu vollbringen. Wer ist wem um wie viele Züge voraus? Und wer kann im entscheidenden Moment etwas vollkommen Unvorhergesehenes vollbringen?

In diesem Game überlebt niemand, der positive Charaktereigenschaften oder Gefühle über Gebühr entwickelt (nicht, dass Böse-Sein schon eine Garantie für das Überleben wäre); wer liebt – stirbt, wer loyal ist – stirbt, wer Hemmungen hat zu töten – stirbt, wer vergeben will – stirbt. Wer vertraut – stirbt. Und wer innehält – stirbt. Das bildet bereits eine Sonderheit dieser Erzählmaschine und stellt , was die TV-Serie anbelangt, einen Bruch mit einer grundlegenden Verabredung dar: Auch und gerade Figuren, an die man sich gewöhnt hat, die man zu respektieren gelernt hat, auch auf die man noch neugierig wäre, können jederzeit, und meistens auf furchtbare Art umgebracht werden. Statt der gewohnten Anreicherung erlebt man GAME OF THRONES als Abfolge drastischer Verluste. In gewisser Weise ist das Narrativ von GAME OF THRONES nichts anderes als eine Abfolge von Tabu-Verstößen.

Wer dieses Spiel zufällig und von außen sieht, könnte meinen, bei GAME OF THRONES handele es sich um nichts anderes als eine Abfolge dreier narrativer Bausteine: Sexszenen von gewisser Drastik, Szenen von Schlachten und vom Abschlachten mit noch mehr Drastik, und Dialoge, in denen selbst nur Drohung, Verschwörung und Gewalt zum Ausdruck kommen, oder in denen Menschen mit der Legitimation oder Rationalisierung ihres Tuns beschäftigt sind. Kein Innehalten, allenfalls ganz kurze Ausblicke in eine grandiose Natur, die die Menschen von Westeros so sehr zu zerstören im Begriff sind, wie die Menschen des 21. Jahrhunderts die ihre.

 

Keine Moral, keine Erlösung

Worum es geht, zeigt der Vorspann: Wie ein mechanisches Räderwerk entstehen da Städte, Schlösser und Befestigungsanlagen. Die Regeln des Spiels sind scheinbar attavistisch: Blutlinien, Erbschaften, Rituale – es ist in Wirklichkeit, wie dieser Vorspann zeigt, doch viel eher eine Technik. Das direkte Machtspiel also ist verwoben mit einem Kampf um Legitimationen oder, wenn man so will, um Narrative. Ein Inzestdrama wie das von Jaime und Cersei generiert in GAME OF THRONES eben keine Variation eines Nibelungenlieds oder eine antike Tragödie; es gibt in der naturalistischen Fantasy keine Moral der Geschichte, keine Erlösung, aber auch kein tragisches Subjekt: Käme heraus, dass Cerseis Kinder nicht vom längst verstorbenen König abstammen, würden sie den Anspruch auf den Thron verlieren. Man kann den Codes der Macht-Erhaltung also ebenso bei der Entstehung und beim Zerfall zusehen, wie man der physischen Gewalt bei ihrer Entstehung zusehen kann: Sexualität erzeugt den Code der Macht, deren Kultur, wenn man so will, und daher ist es kein Wunder, dass sich bei GAME OF THRONES Sexualität und Gewalt immer wieder verbinden. Natürlich in erster Linie in der Form von Vergewaltigungen. Die Frauen auf Westeros müssen, bei allen anderen Gefahren, immer noch mit dem sexuellen Übergriff rechnen. Aber auch in Form der Bindung durch Sexualität. Das Paar und die Familie sind die offiziellen Insignien der Macht in der Zeit, beides zu (zer)stören ist probates Mittel des Machtwechsels.

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Natürlich ist auch GAME OF THRONES eine großartige Vermarktungsmaschine. Die Romanserie, deren Genre-Innovation hierzulande überhaupt erst nach dem Erfolg der Fernsehproduktion entdeckt wurde, diente als Vorlage für eine Comic-Reihe, Hörspiele, mehrere Computerspiele und allerlei Karten, Poster, Sekundärliteratur, sogar ein Kochbuch aus Westeros ist mittlerweile zu haben. In dem Computerspiel „Game of Thrones: Iron from Ice“ etwa wird eine Parallelhandlung um ein bis dahin nicht allzu handlungstragendes Haus der Forrester zwischen der dritten und der fünften Staffel entwickelt. Dabei werden die Ereignisse immer wieder mit Szenen verknüpft, die man bereits aus der Serie kennt. Erklärtes Ziel bei der Entwicklung war es, auch Kunden zu gewinnen, die bislang wenig mit Computerspielen im Sinn hatten.

 

Geschichte ohne Fortschritt

Wie es sich für eine Fantasy-Saga gehört, existieren Karten, auf denen die Leserschaft sich zurechtfinden kann und die natürlich auch die imaginäre Topographie der Fernsehserie bildet. Topographieren (allerdings mit Grenzen zu den Landen im Norden, über die fast nichts bekannt ist, und zu denen ein „verfluchter Wald“ gehört) und Versprachlichen der Differenzen als Urgründe des Narrativen werden selbst zu Handlungselementen (die Differenz zwischen Karte und Gebiet, die Fähigkeit, zur rechten Zeit in der rechten Sprache zu sprechen). Auch die Genre-typischen Konstruktionen verschiedener Kulturen und Sprachen (in den Romanen werden diese nur angedeutet, in der Fernsehserie dagegen handelt es sich um sprachwissenschaftlich unterfütterte Konstruktionen), vor allem aber die Bezeichnungen (so haben, nur zum Beispiel, in jedem Land von Westeros die Bastarde verschiedene Namen: Schnee, Stein, Hügel, Sand etc.), das Codifizieren, Konstruieren, bestimmen ein neues Narrativ, nicht die Geschichte, die erzählt wird ist es, worum es geht, sondern das Aufschichten von Geschichten zu einer mehr oder weniger tragfähigen semantischen Architektur. Echte Fans der Serie brauchen nicht nur die Romane, um zum Beispiel akribisch die Abweichungen der Filme von den literarischen Vorlagen festzuhalten, sondern auch Zusatzmaterial von Erklärungen und Theorien (sowie, umgekehrt, die Menschen in GAME OF THRONES sich auf ältere Mythen und Legenden berufen: Wenn sie nicht gerade morden, ficken, lauern, flüchten, drohen, saufen und beeindrucken, dann erzählen sie von einer Zeit, in der alles begann, vielleicht, aber auch von einer Zeit, in der es noch stabilere Werte und Ordnungen gab); GAME OF THRONES ist eine Erzählmaschinen, die tiefen Einblick in ihr eigenes Funktionieren gibt.

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Das hat bemerkenswerterweise auch wieder Folgen für die Rolle der Autoren. War ein Tolkien, eine Rowling noch alleiniger Schöpfergott einer Welt-Geschichte, so ist George R. R. Martin Lieferant einer heiß begehrten Ware, der von seinen Kunden ebenso geliebt wird, wie er unbarmherzig getrieben und scharf angegriffen wird, wenn er nicht liefert, was man erwartet. Besonders übel nehmen die Fans dem Autor seine mittlerweile sprichwörtliche Langsamkeit. Als er sich zwischenrein einem anderen Projekt widmete, entfachte dies einen Shitstorm unter den Lesern und Zuschauern. Die Aufforderung, er solle sich gefälligst um den Fortgang seiner Saga anstatt um irgendwelchen „Bullshit“ kümmern, war noch unter den gelinderen Anwürfen. Schließlich droht nun eine Fernsehserie plötzlich ohne literarische Vorlage dazustehen; sie müsste die Romane gleichsam überholen. Der Autor in einer Erzählmaschine ist Herr und Sklave zugleich, er erfindet vielleicht, aber er erfüllt auch einen kollektiven Auftrag. So wie GAME OF THRONES eine Erzählmaschine ist, die ihre eigenen Konstruktionsprinzipien aufdeckt (aber gleichzeitig immer erweitert), so wird hier das Funktionieren der Produktion selbst offenbar: Es scheint ein Prinzip der großen amerikanischen TV-Erzählmaschinen, von THE WIRE, über MAD MEN bis zu BREAKING BAD, dass sie ihre Schöpfer auffressen, und im Fall von GAME OF THRONES muss offensichtlich auch der Autor der literarischen Vorlage dran glauben. Seine Einsamkeit vor dem Schreibgerät mag mit der vergleichbar sein, die er seinen Figuren verpasste.

Natürlich ist das Spiel der Decodierung teil des Unterhaltungswertes. Die meisten Darsteller in GAME OF THRONES sprechen mit einem britischen Akzent (viele von ihnen sind Briten), aber es werden sogar, wenn auch nicht gerade dogmatisch, verschiedene Dialektfärbungen benutzt: Sean Bean als Eddard Stark spricht mit einem nordenglischen, Charles Dance als Tywin Lancaster mit einem südenglischen Akzent. Ned Starks Söhne (von amerikanischen Schauspielern dargestellt) haben verschiedene „englische“ Akzente. Echte Fans sehen in diesem Spiel mit den Akzenten tiefere Bedeutungen, andere bemängeln die Inkohärenz bei der sprachlichen Gestaltung von englischen, schottischen, irischen, australischen, amerikanischen und dänischen Schauspielern. Vielleicht liegt die Wahrheit in der Mitte: Eine Erzählmaschine produziert eben nicht nur Produkte, sondern auch Abfall. Und die Kunst liegt darin, den gewissermaßen semantisch zu recyclen. Da es nicht um eine Story, sondern um ein Game geht, darf nichts ohne Bedeutung und ohne Konsequenz sein; daher gibt es hier die „wellenförmige“ Erzählung nicht mehr, welche die großen amerikanischen (Film-) Epen auszeichnete, in der sich entscheidende dramatische Sequenzen mit solchen von Ruhe und Abschweifung abwechselten. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, nur voran geht es nicht.

Wie den Menschen in Westeros zumute ist, lässt sich an ihrem Gebet ablesen: „Die Nacht ist dunkel und voller Schrecken. Allein wurden wir geboren, allein werden wir sterben“, und der Trost klingt wie Hohn: „doch auf unserer Wanderung durch dieses düstere Tal beziehen wir Kraft voneinander und von dir, o Herr.“ Die einzige Kraft, die dieses Spiel der endlosen Gewalt zusammenhält ist aber die Angst. Es ist die Angst der Mächtigen vor ihren Konkurrenten, die Angst der Herrscher vor den Beherrschten und umgekehrt. Die Angst der Frauen vor den Männern und der Männer vor den Frauen. Die Angst der Eltern vor den eigenen Kindern, die Angst der Geschwister voreinander. Die Angst vor den „Barbaren“. Die Angst vor den Drachen (zugleich magische Wesen aus der Vergangenheit und Massenvernichtungswaffen von solcher Durchschlagskraft, dass sie jedes quantitative militärische Übergewicht zunichte machen). Die Angst vor den „White Walkers“, den Zombie-Dämonen, die zu Beginn der Handlung so lange nicht gesehen wurden, dass man sie schon in den Legenden-Bereich verbannt dachte, gäbe es da nicht einige erschreckende Augenzeugenberichte. Die Angst vor dem Fall der großen Mauer, und schließlich die Angst vor dem langen Winter.

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Die magischen Elemente, mit denen übliche Fantasy in aller Regel verschwenderisch umgeht, werden in Martins Lied von Eis und Feuer und der TV-Serie eher zurückhaltend eingesetzt. Häufig bleibt offen, ob es sich um wirkliche Magie oder nur um Mythen handelt. Die Welt von Westeros nämlich ist bereits eine im Zustand der Entzauberung. Die Menschen hängen noch alten Legenden nach, sie träumen von einer besseren Vergangenheit; sie verhalten sich wie die Bewohner einer barbarischen, postheroischen Kultur zu einer heroischen Vergangenheit, in der, vielleicht, die Werte, auf die man sich gelegentlich bezieht, noch wirklich gegolten haben. 6000 Jahre alt, so erfahren wir, ist dieses feudale System schon alt. Offenbar in einer ewigen Abfolge von Zerfall und Rekonstruktion.

 

Zentren zerfallen

Nach der Frage: Was ist Macht?, beantwortet die Serie auch die Frage von Mechanik und Zufall. Da wir schon im Namen des Landes uns (also den Westen) erkennen, den Kontinent, der zwar kleiner als der Osten ist, seine Dynamik aber seiner Größe und den extrem unterschiedlichen Lebensbedingungen verdankt, wird immer auch klar, dass sich die Verhältnisse womöglich völlig anders darstellen, wenn man sie nicht mehr Westeros-zentrisch ansieht. Wenig wissen wir (noch) von den Wesen und Geschichten außerhalb, aber die größte Gefahr, die dem GAME OF THRONES droht, ist die Erkenntnis, dass dieses Macht-Spiel nicht identisch ist mit der Geschichte der Welt, in der es gespielt wird. Die Mauer, die man da errichtet hat, und die doch ungenügend Schutz gibt, ist auch eine Mauer gegen einen neuerlichen, radikalen Perspektivwechsel, einen Blick, der das Game vollständig verurteilen könnte.

Es ist, was wir in GAME OF THRONES erleben, der Zerfall der Zentrums-Perspektive als populärer Mythos: Es zerfällt das Zentrum des Helden als Meta-Subjekt. Es zerfällt das Zentrum des Autors. (Wir sollten erwähnen, dass George R. R. Martin zwischenzeitlich als Autor für TWILIGHT ZONE und Story-Berater von BEAUTY AND THE BEAST gearbeitet hat und dass seine Erzählungen auch außerhalb des GoT-Kosmos durch eigenwillige Handlungs-Konstruktionen oder Plot Point-Überfälle, gewiss aber nicht durch literarische Stilistik auffallen: Muss dieser Autor, diese Art von Autor nicht so sehr um seine eigene Ersetzbarkeit fürchten wie jeder Fürst in GAME OF THRONES?) Es zerfällt das Zentrum einer linearen Geschichte von Konflikt, Opfer und Erlösung. Es zerfällt das Zentrum einer Ordnung im Raum und einer Historie als Leitlinie. Und es zerfällt die Zentralperspektive auf eine Topographie mit eindeutigen Zuordnungen. Nicht nur die wilden Attraktionen von Sex und Gewalt, Magie und Spektakel, machen diesen Zerfall so faszinierend: Weil niemand der Held von GAME OF THRONES ist, werden alle Figuren wichtig und interessant. In dieser Welt erstehen, ganz im Gegensatz zur klassischen Fantasy, auch starke und widersprüchliche Frauenfiguren (in einer Männerwelt und ohne rechte Aussicht auf eine Marion Zimmer Bradleysche matriarchale Gegenkultur), und es gibt Wanderungen zwischen den Geschlechter, Ambiguitäten, wo ursprünglich gerade die Konstruktion der Geschlechterrollen Erzählziel war. Aus dem zentralen Subjekt ist ein vernetztes System der Subjektivitäten geworden, und „Fantasy“ ist nur eine Chiffre dafür, Geschichte und Politik in einer offenen Form zu behandeln, jenseits des Mythos von einer Einheit von Wirklichkeit und Sinn. Die meisten Menschen in GAME OF THRONES sind wahre Kotzbrocken, manche wollten einmal besser sein und sind dann zu Kotzbrocken geworden, andere haben als Kotzbrocken begonnen und leisten sich dann zum eigenen Erstaunen moralische Entscheidungen, wieder andere zeigen dem einen ein moralisches, dem anderen ein Kotzbrocken-Gesicht. Naturalistische Fantasy schaut nicht weg beim Hässlichen, Schmutzigen und Gemeinen.

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Es gibt nur eine Hölle

Und was – außer dem ungewohnten Crossover, dem Hyperangebot von Sex und Gewalt in narrativ legitimierter Form, der bloody poetry aus finsterer Welt, Fantasy Noir, und dem so zeitgemäßen, multiplen Erzählen – macht den enormen Erfolg der TV-Serie aus, dem auch Niedergang und Überproduktion der „Qualitätsserien“ nichts anhaben kann? Anders als in den angelsächsischen Ländern, wo George R .R. Martin mit seinen Romanen bereits für eine Revolution im Genre Fantasy gesorgt hatte (mitsamt einer konservativen Konterrevolution und den üblichen Anwürfen der bigotten Rechten), ist der Erfolg hierzulande vor allem der Fernsehserie selbst zu verdanken. Sie verändert offenbar noch einmal die Grenzen des Darstellbaren, sie ist das perfekte Gegenbild zur gewohnten zentristischen Tatort- und „Traumschiff“-Erzählweise, sie muss uns nichts mehr von einer heilen oder heilbaren Welt vormachen. Hier dürfen wir sowohl zynischer als auch ehrlicher sein als in unseren gewöhnlichen Programmen und Diskursen. In einer Fantasy-Welt, die uns paradoxerweise näher ist als die Mafia und das Ghetto in den USA: GAME OF THRONES ist auch ein Versuch über Europa. Und es wäre ein leichtes, die Machthaber von Heute mit denen von Westeros zu überblenden. GAME OF THRONES ist eine symbolische moralische Rache an der Macht und an den Mächtigen, und erklärt zugleich, warum es sinnlos ist, sich dagegen aufzulehnen. Ist das nun „Kritik“, oder ist es das Gegenteil, nihilistisch eingefärbte Affirmation? Oder ist das am Ende die falsche Frage?

Bei alledem ist GAME OF THRONES keine wirkliche Welterklärungsmaschine, sondern schon eher eine Parodie darauf. Tyrion Lannister, der Gnom, der kleine böse Mann (durchaus genial gespielt von Peter Dinklage), der, vielleicht, diese Welt aus den Angeln hebt, weil man ihn ein paarmal zu viel zu opfern bereit ist, das ist auch ein Nachfahr (oder Vorfahr, wie man es nimmt), von Oskar Matzerath aus der Blechtrommel. Von allen Perspektiven, die es in GAME OF THRONES gibt, ist die von unten die genaueste und gefährlichste. Je größer etwas ist, desto sicherer kommt es zu Fall in der Welt von Westeros. Ist das schon eine „Aussage“? Eher nicht. Aber die Ermächtigung, sich in einer Erzählmaschine freier zu bewegen als gewohnt.

Eine Fernsehserie ist weder eine Welterklärungsmaschine noch ist sie eine semantische Experimentieranlage. Sie ist Big Fun, oder sie ist es nicht. Aber woher käme der Big Fun, wenn sich nicht das Bekannte mit dem Überraschenden treffen würde, das Legitime mit dem Verbotenen, das Bewusste mit dem Unbewussten, das Ästhetische mit dem Politischen, das Gutgemachte mit der Regelverletzung und die Grenze und ihre Überschreitung? Es gibt eine Idee in GAME OF THRONES, die sehr nahe dem Empfinden vieler Menschen von heute liegt. Es gibt keine sieben Höllen. Es gibt nur die eine. Die, in der wir leben. Das sagt eine Mutter zu ihrem Kind. Und dann schickt sie es in das blutige Spiel um die Macht.

Georg Seeßlen

In gekürzter Fassung zuerst veröffentlicht in der Freitag | Nr. 23 | 4. Juni 2015

Bilder: HBO / SKY