Der Süden schwankt zwischen Größenwahn und trotzigem Rückzug in eine ausgedachte „Heimat“. Jetzt bekommt es ganz Deutschland mit den Auswirkungen dieser politischen Brauchtumspflege zu tun.

Es kommen für die demokratische Zivilgesellschaft in Deutschland derzeit eher beunruhigende Nachrichten aus dem Süden. Das Lachen über das Laptop- und Lederhosenland bleibt einem im Hals stecken, angesichts von Psychiatrie- und Polizeigesetz, Kreuzerlass und Heimatministerium. Die CSU lädt Viktor Orbán zu freundschaftlichem Besuch. Von Orbán lernen heißt, so Horst Seehofer, lernen, „dass Konsequenz honoriert wird“. Da rückt eine Partei, ein Land, eine Gesellschaft konsequent nach rechts, und dieser Rechtsruck vermittelt sich zugleich als bayerischer Sonderweg und als Modell für Deutschland.
Wenn man verstehen will, was da geschieht, genügt der Hinweis auf Wahltaktik und populistische Schamlosigkeit nicht ganz, genauso wenig, wie man es damit abtun kann, dass Bayern eben schon immer ein sehr schwarzer Fleck in der Bundesrepublik war.
Das Nachdenken über Bayern beginnt damit, dass man die drei Erscheinungsformen von Bayern auseinanderhält, bevor man sie wieder in Beziehung zueinander setzt. Die erste könnte man „Staatsbayern“ nennen. Es ist ein historisch gewachsenes, zerzaustes, vermischtes und instabiles Gebiet unter meistens eher unruhigen Regierungen. Seine eigentliche Geschichte beginnt – nachdem es nie so etwas wie einen „bajuwarischen Stamm“ oder ein Urbayern gegeben hat, sondern ein „Mischvolk“ aus römischen, keltischen und sonst völkerwandernden Leuten, das irgendwie zu einer Einheit gezwungen wurde – erst mit der Herrschaft der Wittelsbacher, die als Erste und vielleicht ein wenig früher als die Konkurrenz auf die Idee einer „Identitätspolitik“ kamen. Im bayerischen Game of Thrones aus Heiraten, Kriegen und wechselnden Allianzen jedenfalls entstand etwas Fatales, nämlich eine „Mittelmacht“. Immer war man zwischen größeren und stärkeren Nachbarn eingeklemmt, immer war man begierig, sich kleinere und schwächere Territorien einzuverleiben, sie mussten nicht einmal in der Nachbarschaft liegen. In der Geschichte der Mittelmacht wechselten sich Phasen, in denen man hoffte, doch noch zur richtigen Großmacht zu werden, mit solchen ab, in denen die Herzöge, Fürsten, Könige fürchten mussten, „ihr“ Bayern werde einfach von der politischen Landkarte gestrichen. Dieser konstante Wechsel von expansivem Größenwahn und Rückzug auf einen trotzigen Kern wurde sozusagen zum bayerischen Nationalcharakter. Er bestimmt die Politik bis heute.
Staatsbayern ist in seiner heutigen Gestalt, die sich Ende des 19. Jahrhunderts herausbildete, ein spannungsreiches Nebeneinander von Regionen mit sehr unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Ökonomien und Konfessionen. Bei näherem Hinsehen zerfallen sogar die großen Regionen Franken, „Alt-Bayern“, Bayerisch-Schwaben, Pfalz und Allgäu immer weiter. Was sich in der Außenpolitik als Expansion und Verlustangst zeigt, ist im Inneren ein beständiger Kampf zwischen Einheit und Bruch. Komplizierte Proporzregeln gegen eine Münchner oder altbayerische Hegemonie helfen wenig; nur im Zustand nationaler Erregung verschwinden diese inneren Spannungen. Eine Erklärung für Söders und Seehofers aktuelle Provokationen wäre also die Erzeugung staatsbayerischer Erregung, um innere Brüche des Landes zu kaschieren.
Die zweite Erscheinungsform von Bayern ist das Ensemble der Bilder, Geschichten, Riten, Worte, Architekturen und Feste, vorwiegend aus dem Alpenvorland, das von Touristen von sehr weit her gelegentlich mit ganz Bayern, ja ganz Deutschland verwechselt wird. Es gibt sogar Einheimische, die an dieses Bayernbild glauben. Wichtig zu wissen ist, dass all das, die Heimat- und Trachtenvereine, die Volksfeste, das „G’wand“ mit Dirndl und Lederhose, das ganze „Brauchtum“, einschließlich Königsjodler und Watschentanz, nichts autochthon Gewachsenes und Tradiertes ist. Genauso wie beim Gründungsmythos der „Bajuwaren“ handelt es sich vor allem um städtische Fantasieproduktion. König Max II. nämlich sah zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder einmal die Einheit seines Landes gefährdet, diesmal durch den deutschen Einheitsstaat. Einen Krieg hätte man nicht riskieren können, wohl aber einen Kulturkampf. Also wird die bayerische Bevölkerung auf Identitätskurs gebracht. Nur zum Beispiel: Brautpaare, die in Tracht heiraten, bekommen einen staatlichen Zuschuss. Diese Tracht wiederum drückt in der Zwangsverheimatlichung der Provinz durch die Obrigkeit eine oberbayerische Hegemonie aus, selbst in Franken werden Trachtenvereine gegründet, deren Mitglieder sich kleiden wie im Chiemgauer Bauerntheater. Auch das größte Volksfest der Welt, das Münchner Oktoberfest, ist eine Donation der Obrigkeit, und jene „Patrona Bavariae“ die als Gussfigur über die Theresienwiese wacht, verdankt sich dem Bemühen des unglücklichen Ludwig III., zu einem einvernehmlichen Verhältnis mit dem Vatikan zu kommen. Dass er als Belohnung dafür das Recht erhält, die Mutter Gottes zur bayerischen Nationalschutzgöttin umzuwidmen, verweist schon auf ein eigentümliches Verhältnis von Politik und Religion in diesem Land.
Die bayerische Kultur des Volkstümlichen mag zwar künstlich und politisch verordnet gewesen sein, sie hätte sich aber nicht so entfalten können, wenn sie nicht kolossale Vorteile gebracht hätte. Zum einen diente die Volkstümlichkeit als Maske der Sinnlichkeit. Saufen, Raufen und Schnackseln war im zünftigen Brauchtum gut aufzuheben. Dass sich die Kultur des Volkstümlichen hervorragend für den Fremdenverkehr eignete, der sich zumindest in der Form der Sommerfrische der Stadtbewohner schon ankündigte, muss nicht erwähnt werden. Vielleicht aber die Rückkehr etlicher religiöser Riten und Gesten, die im Zuge der Säkularisation verschwunden waren, wie Reliquienverehrung, Wallfahrten und Passionsspiele. Mag anderswo, sagen wir im rheinischen Karneval, Volkskultur auch ein Ventil sein, Kritik und Spott zuzulassen, in Bayern dagegen ist sie vor allem die Feier der Gemeinschaft von Obrigkeit, Religion und Volk.
Die bayerische Volkstümlichkeit wurde also von oben erfunden. Aber es verhält sich auch genau andersherum: Spätestens mit dem Beginn des Königtums hat das Volk sich auch seine Regenten erfunden. Insbesondere gilt das für die beiden ersten Ludwige. Den ersten, der ziemlich lange eine durchaus vernünftige Politik verfolgte, bis ihm eine schöne Tänzerin über den Weg lief, und den zweiten, der nachträglich zum Märchenkönig gemacht wurde. Überhaupt ist die bayerische Kultur eine der Nachträglichkeit. So wurde auch die sogenannte Prinzregentenzeit (1886–1912) nachträglich zur „guten alten Zeit“, wozu man endlose Anekdoten um den gemütlichsten dieser Herrscher erfand, dabei war es eine Zeit der größten sozialen Ungerechtigkeiten und verschärfter Konflikte. Und so wie man sich manche Regenten nachträglich erfand, ließ man den letzten bayerischen König, Ludwig III., einfach in der Versenkung des bayerischen Unterbewusstseins verschwinden. Der hatte vergeblich versucht, die bayerische Monarchie wenigstens als eine konstitutionelle zu retten, und mit dem Ersten Weltkrieg schien es mit der Eigenständigkeit vorbei. Der ewige Versuch, zugleich deutsch und bayerisch zu sein, war im Krieg gescheitert und trat nach der Niederschlagung der Räterevolution in München durch die Zeit, in der es Hauptstadt der Bewegung war, in den Hintergrund. Umso wichtiger war die Wiederauferstehung Bayerns als Bild und Mythos in der Nachkriegszeit. Deutschland hatte den Krieg verloren und furchtbare Verbrechen auf sich geladen, aber nicht nur im Kino und in der Werbung sah es so aus, als hätte Bayern damit nichts zu tun gehabt.

Es gibt mehrere Gründe dafür, dass sich in Bayern mehr als anderswo die Folklore politisieren und die Politik folklorisieren lassen musste. Einer davon liegt in der paradoxen Erzeugung der Provinz durch die Aufklärung. Wiederum nachträglich nämlich war die Säkularisation unter dem Grafen Montgelas als Trauma barbarischen Religionsfrevels erschienen. Gar so arg aber war die Enteignung und Entmachtung der Klöster nicht, sie wurde selbst von einem Teil der katholischen Kirche als notwendiger Prozess der Reinigung und Konzentration aufs Geistliche angesehen. Was aber entstand, neben der Notwendigkeit, weltliche Verwaltung an die Stelle der kirchlichen Organisationen zu setzen, war ein kultureller Sog. Die Klöster waren nicht nur Instrumente der ökonomischen und politischen Macht, sondern auch Institutionen von Bildung und Kultur. So war die Säkularisation Auslöser einer beschleunigten Provinzialisierung der Provinz, die mit der gezielten Förderung der Bildungseinrichtungen und der Kunst in den großen Städten einherging. In dieses Vakuum der „abgehängten“ Provinz stieß die identitätspolitische Kampagne sehr erfolgreich. Alle drei Elemente tauchen in der derzeitigen Taktik der CSU wieder auf: Die Füllung der Provinz mit politisierter Folklore, die Reaktion auf ein „Trauma“ der Säkularisation, die direkte Verbindung von Obrigkeit und Volk gegen äußere und innere Kräfte, die diese mystische Einheit infrage stellen. Seehofers „große Koalition mit dem Volk“ ist unter anderem eine groteske Wiederkehr der monarchischen Identitätspolitik in Bayern.

Die Taktik bayerischer Antipolitik

Zu den Klöstern, die nach der Säkularisation ihren Zweck verloren und über Jahrhunderte verkamen, gehört im Übrigen auch jenes Kloster Seeon, in dem nun die CSU ihre Strategien ausarbeitet und einen Viktor Orbán freundschaftlich empfängt. Die Besetzung einst spiritueller Räume durch die Politik in Bayern setzt also schon sehr viel früher ein als es Söders Kreuz-Erlass vermuten lässt.
Womit wir bei der dritten Erscheinungsform von Bayern wären, nämlich einem politischen Zustand, der sozusagen die Postdemokratie schon in Deutschland einlagerte, als es das Wort noch gar nicht gab. Dieser Zustand ist im Inneren durch eine strukturelle Einparteienherrschaft geprägt, nämlich die einer Partei, die flächendeckend und tiefgreifend nicht nur Politik und Ökonomie, sondern auch Karriere, Alltag und Kultur bestimmt. Sie entstand, anders als in anderen Bundesländern, nicht in der demokratischen Konkurrenz von Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten, sondern durch Übernahme aller reaktionären und konservativen Strömungen (noch 1950 erreicht die Bayernpartei satte 17 Prozent der Stimmen, die sehr rechte Vereinigung Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten immerhin 12,3 Prozent). Die Herrschaft der CSU, die nur zu Beginn sowohl christlich als auch sozial zu verstehen war, basiert in der Folgezeit auch auf einem von Franz Josef Strauß entwickelten Dogma: Es darf rechts von ihr keine wählbare Partei geben. Die Besetzung des rechten Randes treibt die Partei selbst, und damit einen Teil der bayerischen Gesellschaft, sozusagen mechanisch nach rechts.
Nach außen hin wirkte die CSU, als hätte sie das Erbe der Wittelsbacher auch insofern angetreten, als sie ihr Land in der Schwebe zwischen expansivem Größenwahn und beleidigtem Rückzug auf das „Mia san mia“ hält. Mal droht man mit Separation, mal damit, die Macht in Deutschland zu übernehmen. Der bayerische Separatismus bleibt historisch-rechtlich ironisch, funktioniert ökonomisch unter der Hand (Stichwort „Spezlwirtschaft“), ist aber politisch durch die Dopplung der christdemokratischen Macht schizophrener Dauerzustand: ein instrumenteller Sonderfall. So wie sich die CSU daheim beständig weiter nach rechts entwickelt, entfaltet sie in allen Koalitionen in Berlin ihr Droh- und Erpressungspotenzial, um auch hier das Ganze nach rechts zu rücken. Die aufgrund des Strauß-Dogmas und der postfeudalen Identitätspolitik der CSU unvermeidliche Entwicklung nach rechts erweist sich als toxisch.
Nun könnte man sagen, dass sich die bayerische Dialektik auf zwei Köpfe verteilt hätte: Seehofer vertritt in Berlin den Anspruch auf bayerische Macht und Ausdehnung, Söder in München den reaktionären Eigensinn. Dass Seehofer „Heimatminister“ in Berlin geworden ist, das ist nur vordergründig ein Witz. Genauer besehen, ist es die neuerliche Besetzung eines Begriffs, den wir aus der bayerischen Geschichte kennen: Bayern soll Deutschland mit Heimatlichkeit in Form von politisch-folkloristisch gefüllter Provinzialität, aber auch mit einer ästhetisch-moralischen Repräsentation versorgen (wenn man schon selbst keine Großmacht werden kann). Es war Ludwig I., der das teure Aufbretzeln seiner Residenzstadt rechtfertigte: „Ich will aus München eine Stadt machen, die Teutschland so zur Ehre gereichen soll, daß keiner Teutschland kennt, wenn er nicht München gesehen hat.“
Aus der Falle von deutschem Nationalismus und bayerischer Identität befreit man sich also, indem man sich eine Aufgabe der Repräsentation anmaßt: Bayern existiert nicht in Deutschland, sondern vor Deutschland. Bis hierher könnte man die Taktik bayerischer Antipolitik als erfolgreich ansehen. Als hätte die CSU erreicht, woran die Wittelsbacher jahrhundertelang scheiterten, nämlich die bayerischen Aggregatzustände Größenwahn und narzisstische Kränkung gleichzeitig umzusetzen. Dagegen freilich spricht der ins Hysterische kippende Ton. Es deutet einiges darauf hin, dass sich die CSU bei ihren kannibalistischen Akten am Rechtspopulismus überfressen hat. Die große Einigung gelingt nicht mehr, die in der Nachkriegszeit die königlich-bayerische Gemütlichkeit ausgemacht hat, als Einlagerung nicht offensiver Rückständigkeit oder eben der gelungenen „Symbiose zwischen Laptop und Lederhose“, wie es Roman Herzog in unnachahmlicher Diktion formulierte.
Im Überlebenskampf greift die CSU und greifen Markus Söder als leider ganz und gar ungemütlicher, unmärchenhafter neuer Fürst und Seehofer als ein Innenminister, der eigentlich bayerischer Statthalter ist und der Republik sein Konzept von Heimatlichkeit aufdrängt, zum rechtspopulistischen Instrument par excellence: der Spaltung. Natürlich ist der unselige Kreuz-Erlass, durch den sich die Kirchen zu Recht entwürdigt fühlen, nach den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie und der obrigkeitlichen Identitätspolitik ein voller Erfolg. Trotzdem hätten wohl weder Max II. noch Ludwig I. Freude an der Wiederkehr ihrer Politik als Farce. Denn einmal mehr bedeutet dieser Vorstoß zur Ausdehnung der bayerischen Macht das Risiko ihres Verlustes.
Die Hoffnung auf die große Einigkeit ist verloren, also setzt Söder auf eine Spaltung, die dem antiliberalen Teil weiter entgegenkommt, als es eine Demokratie auf Dauer verträgt. Jede seiner Handlungen zielt darauf ab, Gegner und Befürworter zu erzeugen, jedes Unterfangen ist als provokante Frage an die Gesellschaft (nicht nur) in Bayern inszeniert: Wie weit wollt ihr gehen? Ist man ein wenig zu weit gegangen, macht man einen kleinen Schritt zurück, wie bei der ökologisch und kulturell rücksichtslosen Änderung des Alpenplans (die Skischaukel am Riedberg kommt erst einmal nicht) oder im Propagandabild des Heimatministeriums, das ausschließlich aus alten, weißen, christlichen Männern besteht (das Bild wird nach viel Spott aus dem Netz genommen) – und bereitet den neuen Coup vor (die Absage der Teilnahme an einem Girls’ Day zum Beispiel).
Wenn diese Strategie Erfolg hat und die eine Seite der gespaltenen Gesellschaft die Oberhand gewinnt, kann Bayern das erste Modell der Entdemokratisierung eines föderalen Bundesstaates werden. In einem weiter entdemokratisierten Deutschland spielt, so vermutlich die innere Logik, die CSU eine entscheidendere Rolle. Das Konzept aus politisierter Folklore, der Gleichzeitigkeit von Sonderweg und Expansion und der Kannibalisierung der extremen Rechten wäre dann aufgegangen. Und Bayern wäre indirekt zur Erfüllung der Großmachtträume gekommen. Wenn das wieder einmal nicht klappt, kann man sich in die politisierte Folklore, dahoam is dahoam, zurückziehen. Und das Spiel kann von vorn beginnen. Es sei denn (alter Kabarettistenwitz), in Bayern bricht doch noch die Demokratie aus.

Georg Seeßlen | DIE ZEIT Nr. 20/2018, 9. Mai 2018

Bild oben: Rautenflagge des Freistaates Bayern seit 1971. 

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung: Wappen und Flaggen der Bundesrepublik Deutschland und ihre Länder 3. Auflage. Magdeburger Druckerei GmbH, Bonn 1994, ISBN 3-89331-206-4 .

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