So ein Gefühl

Eine Ausstellung in Berlin stiftet derzeit Diskussionen. Gelegentlich der Präsentation „Kunst in der DDR“ geht es um die Frage, ob künstlerische Hervorbringungen als reine Ästhetik betrachtet und bewertet werden können, wie es diese Ausstellung unternimmt. Natürlich ist das möglich, und was sich im Gedächtnis späterer Generationen halten will, muss dieser Betrachtungsweise genügen. Niemand wird ein Bild Jahrzehnte später für Wert erachten, nur weil es einmal wichtig war. Doch wer einem Kunstwerk Gerechtigkeit widerfahren lassen will, der wird die Wirkung, die es einst auf seine Zeitgenossen hatte, nicht vollkommen außer Betracht stellen können. Wenn der heute in Weimar und kommenden Donnerstag in Erfurt zur Wiederaufführung gelangende Film „Blutige Erdbeeren“ ein Bild aus der DDR wäre, dann hätten ihn die Kuratoren dieser Ausstellung wohl nicht aufgenommen – denn ein Kunstwerk von bleibendem Wert ist er nicht. Dies wäre ein Bild für die Ausstellung „Kunst, die einmal wichtig war“. Solche Kunstwerke sind nicht bedeutsam aus eigenem Recht, doch erzählen sie uns, wer und wie wir einmal waren.

Stuart Hagmans Film von 1969, der 1970 sogar den Preis der Jury von Cannes erhielt, erzählt viel über die Zeit, über die Legende „68“. Simon, so nett wie unauffällig, studiert in San Francisco. Als er dem Mädchen, mit dem sein Freund gerade schlief, ins Kleid hilft, sieht er die rote Armbinde, die sie trägt. So erfährt er von der Revolution an der Universität, so erfährt er, dass sich dort paarungsbereite Mädchen aufhalten, so wird er ein Revolutionär. Lernt ein Mädchen kennen, wird von einer scharfen Revolutionärin, die ihn mitteilt, dass schon Lenin große Brüste liebte, für eine vermeintliche Heldentat belohnt und wandelt sich tatsächlich – ehe die Polizei die Revolution auf dem Campus mit einer Prügelorgie beendet.

Es ist dieses Bild, dass sich 1973 eingebrannt in die Erinnerung junger DDR-Menschen, das Bild der Widerständigkeit, der prügelnden Staatsmacht, während die jungen Menschen mit den nackten waffenlosen Händen auf dem Boden „Give peace a chance“ skandieren. Und ein Gefühl von Aufmupf, von Freiheit, Sex und Fun. Wir hatten versucht, mehrere Kulturmenschen im betreffenden Alter nach ihren Erinnerungen an diesem Film zu befragen – es gab sie nicht. Außer diesem Bild, außer der Musik von Crosby, Still, Nash & Young, außer einem sehr allgemeinen, sehr guten Gefühl. Diese Musik, dass wunderbare „Helpless“, das schöne „Our House“, ist, neben einem allgemeinen Gefühl, neben dem Bild der widerständigen Studenten, das Einzige aus diesem Film, das die Prüfung der Zeit bestand. Und es wird kein Zufall sein, dass dieser Film im Wester weniger erfolgreich war – die hatten das Erlebnis live.

„Blutige Erdbeeren“ ist, heute betrachtet, wenn man die Erinnerung daran beiseite lässt, todsterbenslangweilig. Stuart Hagman und Israel Horovitz sind keine großen Künstler, der Regisseur ging vollkommen verloren, der Autor ist ein Dramatiker mittlerer Bedeutung. Die Bilder, mit einem heute aufdringlich wirkenden Zoom, erscheinen naiv, viel Leere, viel grüne Wiesen, viel fröhliches Jungvolk. So könnte eine mittlere Highscool-Comedy beginnen, so pflegten die mittleren Kräfte damals bei der DEFA zu inszenieren, als man „filmisch“ sein wollte, über Pfützen sprang, in denen sich die Sonne brach, hier fahren sie Karussell. Viel quasipoetisch maskierte Didaktik, wenn Simon Kakerlaken in seiner Küche findet, füttert er sie als „Guerillas“, das war einmal ein gutes Wort. Bis auf den wirklich eindrücklichen Schluss, da hat der Regisseur außer einem allgemeinen Gefühl, etwas Konkretes zu erzählen.

Da sitzen die Studenten, die Kamera beobachtet es von oben her, in konzentrischen Kreisen. Es sieht ein wenig so aus, wie die geheimnisvollen Zeichen, die uns Herr von Dänicken gelegentlich zeigt, zum Beleg, dass da vor uns bereits etwas war. Diese kryptischen Zeichen erinnern hier tatsächlich, dass da lange vor uns etwas und jemand war: wir.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben November 2004

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine