Alle gehen hin und jeder weiß Bescheid: Eine Minute nach Mitternacht startet der letzte Film um den Zauberschüler Harry Potter und seine Freunde. Derweil warten die Welt, die Verlage und Hollywood auf den nächsten Stein der Weisen, der Gold erschafft aus dem Nichts.

Als sie das Baby Harry Potter ablegte in dunkler Nacht, damals am Ligusterweg, vor der Tür der Dudleys, da hatte es Minerva McGonagall schon gewusst: „Er wird einmal berühmt werden. Wohin man auch kommt in unserer Welt, jedes Kind wird seinen Namen kennen.“

Professor McGonagall lehrt Verwandlung. Doch die wahre Meisterin im Fach Verwandlung heißt J. K. Rowling. Denn die Verwandlung einer stellungslosen, alleinerziehenden Lehrerin, die von der Sozialhilfe lebte, in die reichste und vorübergehend berühmteste Schriftstellerin dieser Welt, das scheint eine Leistung, zu deren Erfüllung es in der Tat magischer Fähigkeiten bedurfte. „Harry Potter und der Stein der Weisen“ erschien in einer Erstauflage von 500 Exemplaren, selbst Gedichte bringen es auf das Dreifache, die deutsche Startauflage begann mit 8000 Büchern. Es bedurfte wohl in der Tat des Steines der Weisen, der wertloses Metall in Gold zu verwandeln vermag, um nach diesem Start einen beispiellosen Welterfolg zu gewinnen. Was macht diesen Erfolg? Es sind das Talent der Autorin und das Bedürfnis des Medienzeitalters.

Harry Potter ist in sich nicht so gut, um eines der erfolgreichsten Bücher der Verlagsgeschichte zu sein, gemessen am bisherigen zeitlichen Rahmen indes das absolut erfolgreichste. Und er ist bei Weitem nicht so schlecht, wie jene – die dem Kommerz und jedem lancierten Trend skeptisch gegenüberstehen – das gerne hätten.

J. K. Rowling ist nicht originär in einem strengen, puristischen literarischen Sinne, aber sie ist von all denen, die es nicht sind, vielleicht die originärste und die originellste – denn sie war die Erste. Die eigentliche Qualität dieser Bücher sind weniger die dunklen Kämpfe mit den bösen Mächten, obgleich die Geschichte ohne Lord Voldemort und die Seinen nicht funktionieren würde.

Das Eigentliche, das, was auch erwachsene Leser dazu brachte, diese Bücher zu lesen ohne sich zu genieren, das ist nicht die Spannung, sondern: der Charme. Dieser Charme macht gleichsam die größere Hälfte der Bücher, ihr Eigentliches. Es sind die Figuren und ihre Beziehungen, der hell-heitere Witz von Schülern und Lehrern.

Und der eigentliche Witz ist, dass es diese Schule mit ihren Schülern und Lehrern im Prinzip tausendfach gibt, nur dass sie hier halt auf Besen fliegen und mit Flohpulver reisen. Jeder Lehrer dieser Welt, und Rowling war Lehrerin, kennt diese Geschichten, man musste sie nur mit Quidditch und Butterbier verbinden. Da aber nur Rowling es tat, weiß nun jedes Kind der Welt, wie man Quidditch spielt und wo der Sonderzug nach Hogwarts fährt.

Es nimmt J. K. Rowling nichts von ihrer Leistung und Harry & Friends nichts von ihrem Charme, darauf hinzuweisen, dass die eigentliche, die originäre Großtat im Genre Fantasy ein anderer geleistet hat. Und womöglich ist es kein Zufall, dass Rowling, wie dieser, ihren Vornamen als Abbreviatur drucken ließ. So wie J.R.R. Tolkien.

Einmal begegnen Harry, Hermine und Ron einem Troll. Um ihn zu finden, müssen sie die Tür der Mädchentoilette öffnen. Harry steckt ihm seinen Zauberstab in die Nase, woraufhin dem verscheidenden Unhold der Rotz herausläuft.

Auch Tolkiens „Gefährten“ begegnen einem Troll. Um ihn zu finden, müssen sie den Zauber der unterirdischen Hallen von Moria lösen, wo Balin, der Zwergenkönig, einst herrschte. Die Männer kämpfen lang mit dem Wesen, und dass Legolas, der unsterbliche Elb, dem Troll auf den Rücken springt und ihm seinen Pfeil in den Nacken schießt, das ist noch nicht das Ende dieses Kampfes. Das Vorkommen der beiden Trolle beschreibt den Unterschied.

J. K. Rowling hat hübsche, anmutige Kinderbücher, die dann auch Erwachsene lasen, über eine Zauberschule geschrieben, J.R.R. Tolkien zauberte die komplexe Geschichte eines neuen Kosmos für Erwachsene, die dann auch Kinder lasen. Wo die Lehrerin neu und originell zusammenfügte, was bereits an Geschichten und Geschöpfen in der Welt war, da stiftete der Professor als Schöpfer eine neue Welt mit eigener Geschichte und mit ihr beinahe eine neue Gattung.

Denn Tolkien, allein das erhebt ihn weit über Rowling, wurde durch „Der Herr der Ringe“ zu einem Ahnherrn der Fantasy, der Kosmos der Star-Wars-Saga ist kaum zu denken ohne den von Mittelerde. Tolkien hatte den Ehrgeiz der Stifter, sein Impuls war ein philologischer: neue Sprachen erschaffen, eine in sich geschlossene Welt mit einer eigenen Historie.

Es gibt wenig andere Fiktionen, die durch die sich zueinander fügenden Details eine solche Quasi-Realität und eine Art von Eigenleben entwickelt haben. Wenn auch dieser philologische Ehrgeiz eines Wissenschaftlers für die Mehrheit der Leser und Zuschauer weitgehend gleichgültig bleiben dürfte, so hinterlässt er doch seine Signatur: eine Art von Kraft, von dunkel grummelnder Mystik, ein Pathos der Bedeutsamkeit, die den „Herrn der Ringe“, als einzelnes Werk wie als wirkender Anreger, weit hinausheben über Harry Potter.

Das sagt, um den erwarteten Protest der wirklichen Fans zuvorzukommen, nichts gegen J. K. Rowling, es sagt nur sehr viel für J.R.R. Tolkien.

Warum aber war die Lehrerin dann um so viel erfolgreicher als der Professor?

Es ist die Gnade der späten Geburt. Es ist eine hypothetische, wenngleich interessante Frage, ob Tolkien, dessen „Herr der Ringe“ etwa vier Jahrzehnte älter ist als „Harry Potter“, als unser Zeitgenosse hätte ähnlich erfolgreich sein können.

Vermutlich nicht ganz, denn Mittelerde ist um vieles düsterer als Hogwarts und weniger kindgerecht, aber ganz gewiss wäre er erfolgreicher gewesen, global, als er es war.

Es ist die Medienwelt, es ist die Prägekraft des Bildes, die Sorge trugen, dass jedes Kind auf dieser Welt weiß, wie Harry & Hermine aussehen, was die Karte des Herumtreibers ist und was Bertie Botts Bohnen aller Geschmacksrichtungen. Allerdings, das musste sich jemand ausdenken können und das war die arbeitslose Lehrerin aus Edinburgh. In zehn Jahren, wenn kein Kind mehr mit dem Hype um Harry aufgewachsen ist, wenn Harry Potter ein Buch unter Büchern ist, dann werden J. K. Rowling und J.R.R.Tolkien auf Augenhöhe um die Herrschaft in den Bücherregalen kämpfen.

Denn Muggels mögens mystisch.

Fragen des Tages

1. Waren die bisherigen Harry-Potter-Filme allesamt Kinokassen-Knüller?

Ja. Allerdings war der erste Film der Serie, „Harry Potter und der Stein der Weisen“ (2001), zugleich der erfolgreichste. Bei Produktions- und Marketingkosten von 165 Millionen Dollar spielte er 975 Millionen ein. Den geringsten finanziellen Erfolg erzielte „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ von 2002: Er brachte an den Kinokassen „nur“ 879 Millionen Dollar ein. Zusammen sind die sieben Potter-Filme die erfolgreichste Filmserie aller Zeiten – noch vor James Bond.

2. Alle reden von Plagiaten – hat auch Joanne K. Rowling Ideen geklaut?

Ein Plagiat wurde ihr nie nachgewiesen. Zwei amerikanische Autoren, John Buechler und Nancy Stouffer, behaupteten unabhängig voneinander, Rowling habe sich bei ihren Büchern bedient. Vor Gericht verlor Stouffer 2002: Sie hatte offensichtlich Beweise gefälscht. Dass Joanne K. Rowling Anregungen aus der klassischen Kinderliteratur – vor allem der britischen – schöpfte, ist allerdings nicht zu bestreiten. J.R.R. Tolkien, Lewis Carroll und Roald Dahl lassen grüßen.

3. Was hat Bernd das Brot mit Harry Potter zu tun?

Im Prinzip gar nichts. In keinem der sieben Potter-Bücher kommt ein Kastenbrot vor, der Titelheld bevorzugt Ungesundes wie Siruptorte, Butterbier und Bertie Botts Bohnen. Bernd das Brot ist jedoch Protagonist des Kika-Fünfteilers „Berndi Broter und der Kasten der Katastrophen“ (2003). Während derlei Parodien rechtlich unproblematisch sind, zog Rowling gegen Plagiate stets juristisch zu Felde, etwa gegen das indische Nachahmer-Produkt „Harry Potter in Calcutta“.

4. War Harry Potter je in die Weltpolitik verwickelt?

Potter-Leser wissen, wie stark der Einfluss der magischen Welt auf die Muggel-Gesellschaft im Allgemeinen und den britischen Premierminister im Besonderen ist (siehe „Harry Potter und der Halbblutprinz“). Für ein bisschen reale Aufregung sorgte Anfang 2003 die frappierende Ähnlichkeit der Filmfigur Dobby mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die Zeitung „Nowaja Gaseta“ behauptete damals in einer Satire, Putin wolle die Produktionsfirma Warner Bros. wegen des kleinen Hauselfs verklagen. Mehrere internationale Zeitungen und Agenturen nahmen den Scherz ernst.

Es soll in Großbritannien Verlage geben, die das Manuskript von „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“ abgelehnt haben, als es ihnen 1996 vorgelegt wurde. Auch das Verlagshaus Bloomsbury wies das Erstlingswerk der damals 30-jährigen Joanne Rowling zurück, überlegte es sich dann aber doch anders.

Der Rest ist Geschichte, der Rest sind sieben Bücher – eines dicker als das andere –, sind Millionen Fans und Milliarden-Umsätze. Joanne Rowling, die ihren Namen auf Anraten von Bloomsbury um das Initial K erweiterte, soll an ihrer Schöpfung Harry Potter eine Milliarde US-Dollar verdient haben – mehr als jeder Buchautor vor ihr.

Geboren wurde sie 1965 im südwestenglischen Yate. Sie studierte Französisch und Altertumswissenschaften und zog 1991 nach Portugal, um dort Englisch zu unterrichten. Nach der Trennung von ihrem portugiesischen Mann kehrte sie nach Großbritannien zurück und lebte mit ihrer kleinen Tochter von Sozialhilfe.

In einem Café in Edinburgh soll die Alleinerziehende den ersten Harry-Potter-Band verfasst haben. Dass sie sich kein Papier leisten konnte und auf Servietten schrieb, ist allerdings nur eine hübsche Legende.

Henryk Goldberg

Text erschienen in Thüringer Allgemeine (12.07.)

Tschüss, Harry: Der letzte Harry-Potter-Film startet in den Kinos

Bilder: 2011 Warner Bros. Entertainment Inc. Harry Potter Publishing Rights