Nicht jeder Salafist ist ein potenzieller Terrorist. Wo dieser Unterschied verwischt wird, schlägt Kritik an religiösem Fanatismus in Rassismus um

Die Bärtigen sind da. Im Herzen deutscher Städte, in Einkaufszonen zwischen McDonald’s und H & M verteilen sie ungebeten den Koran. Was tun? Wegsperren? Ausweisen? Am besten, noch bevor sie irgendetwas Straffälliges getan haben?

Die Aufregung über die Verteilaktion des Geschäftsmannes Ibrahim Abou-Nagie ist groß, und viel zu viele finden sich im jüngsten Ausspruch des CDU-Politikers Volker Kauder wieder: „Der Islam ist nicht Teil unserer Tradition und Identität in Deutschland und gehört somit nicht zu Deutschland.“ Gönnerhaft rundet der christdemokratische Fraktionschef seine rhetorische Ausweisung von Nichtchristen aus Deutschland mit einem verfassungstreuen Hinweis ab: „Muslime gehören aber sehr wohl zu Deutschland. Sie genießen selbstverständlich als Staatsbürger die vollen Rechte, ganz klar.“

Vokabular der Kriminalistik

Auch Kauders Parteikollege Wolfgang Bosbach profilierte sich dieser Tage bereits eilfertig als wachsamer Handlanger der richtigen, der echten Deutschen – allein, die Religionsfreiheit hierzulande erlaube nun mal das Verteilen von heiligen Schriften. Das sind die Untiefen der Meinungsfreiheit, sie binden den Redlichen die Hände. Von wegen.

Nicht nur Vernünftiges, sondern sogar Pionierhaftes zur Salafistenfrage lieferte nun ausgerechnet das Wort zum vergangenen Sonntag. Der katholische Pfarrer Wolfgang Beck aus Hannover durchbrach ein verbreitetes Denkverbot und machte unerschrocken darauf aufmerksam, dass Piusbrüder, Evangelikale und Salafisten mehr gemeinsam hätten, als ihnen „wahrscheinlich lieb sei“. Evangelikale fühlen sich nun verunglimpft, der Dachverband Evangelikaler Christen hat unlängst Beschwerde beim NDR eingelegt. Sollen sie. Es ihr gutes Recht.

Beck aber ist mit dieser Analogiebildung einer der wenigen in der deutschen Öffentlichkeit, der die Salafisten nicht im Vokabular der Kriminalistik beschreibt, sie mithin pauschal als Terroristen diffamiert, sondern politisch kritisiert. Er setzt die ultrakonservativen und männerbundtrunkenen islamischen Gottesverehrer in eine Reihe mit ultrakonservativen und männerbundtrunkenen christlichen Gottesverehrern, den Piusbrüdern und den Evangelikalen. Diese These muss man nicht bis ins Detail teilen. Der Ansatz aber ist richtig.

Denn Beck behandelt die Salafisten mit seinem Vergleich nicht als das „ganz Andere“, als Menschengruppe, die man hierzulande nicht nur nicht kennt, sondern auch nicht verstehen kann, die einfach nicht hierhergehören. Siehe Kauder. Stattdessen holt der Theologe die Religionsfanatiker näher heran, er versucht ihre Denkhaltung transparent zu machen und kritisiert sie scharf.

Salafisten als Rechtspopulisten

Wolfgang Beck kommt mit dieser Herangehensweise dem Aufklärungsauftrag der Medien nach. Nicht jeder Sektenanhänger nämlich ist Straftäter und (zukünftiger) Terrorist. Wer diesen Unterschied verwischt, begibt sich auf die schiefe Bahn, die eine berechtigte Kritik an Religionsfanatikern in Rassismus wandelt.

Umso wichtiger ist es, diese reaktionäre Vereinigung und ihre Ideologie auf der Höhe aufklärerischer Standards zu kritisieren. Denn natürlich mischt sich in die wohlfeile, von Politikern umgehend instrumentalisierte Hysterie auch eine berechtigte Sorge. Rechtspopulisten, und dazu zählen die Salafisten zweifellos, sollten immer beunruhigen.

Die beste Maßnahme gegen die von den Golfstaaten mit viel Geld ausgestatteten und daher international zunehmend sichtbaren Salafisten ist aber nicht der uninformierte Generalverdacht, es handele sich um Gewalttäter. Sondern das Wissen um ihre krause Ideologie, darum, dass ihre Behauptung, es gäbe nur eine richtige Lesart des Koran – nämlich ihre – und damit auch nur eine richtige Lebensart, reaktionärer Unfug ist.

Und zwar schon deswegen, weil der Koran wie die Bibel als historische Überlieferung unterschiedliche Auslegungen zulässt. Das ist eine Binsenweisheit, die aber allzu gern vergessen wird, wenn es um Muslime geht und die Verlockung für Mitglieder der christlichen Kultur offenbar groß ist, sich als überlegen zu stilisieren.

Ganz konkret betreibt die Arabistin Angelika Neuwirth Aufklärung an der Koranfront. Seit Jahren arbeitet sie im Rahmen eines Forschungsprojektes namens „Corpus Coranicum“ an einer historisch-kritischen Ausgabe der Heiligen Schrift des Islams. Inzwischen liegt der zweite Band auf Deutsch vor. Neuwirth versteht den Koran, der im frühen 7. Jahrhundert nach Christus entstand, provokant als „Dokument einer Gemeindebildung inmitten einer christlich-jüdisch-synkretistisch geprägten Debattenlandschaft“.

Verwobene Religionskulturen

Für sie entspringt der Koran also nicht einer vollkommen anderen Sphäre. Im Gegenteil. Er reagiert auf eine spätantike jüdisch-christliche Kultur und bildet in der Folge ein eigenes Denk- und Textuniversum. In den Worten Neuwirths verleiht der Koran der spätantiken „Verwobenheit der Religionskulturen“ Ausdruck.

Diese Auffassung des Koran als gleichzeitig Teil der als europäisch reklamierten Kultur sowie eigenständiges Werk, das aber nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit der Bibel entstanden ist, diese komplexe, gegenüber Ambivalenzen sensible Auffassung widerspricht nicht nur dem eingangs zitierten Kauder’schen Populismus. Sie ist auch in der arabischen Welt äußerst umstritten. So stellt eine kultur- und literaturwissenschaftliche Lektüre die vorherrschende Idee in Frage, der Koran gebe 1:1 die Worte des Propheten wieder, verkünde damit die Wahrheit pur und sei mithin Anfang und Ende allen Denkens zugleich. Aber, so betont die Wissenschaftlerin stets, ein Gelingen ihrer Arbeit ist ohne den Wissensreichtum von KollegInnen im Nahen Osten nicht möglich. Glücklicherweise gäbe es inzwischen in der Türkei und Tunesien einige Projekte mit ähnlichen Ansätzen.

Die Salafisten indessen dürfte die textkritische Betrachtung des Koran nicht freuen. Es dürften auch einige unter ihnen sein, die Angelika Neuwirth ob so viel Ketzerei gesteinigt sehen wollen. Aber auf dieses Niveau muss man sich ja nicht begeben.

 

Ines Kappert, taz 20.04.2012