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The Master of Meaning

Mit „Kultureller Hegemonie“ gegen Rechtspopulismus und Neoliberalismus? Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ und die Perspektiven der europäischen Linken.

Ein ausgestreckter Mittelfinger, nur verwackelt zu erkennen, in einem sekundenlangen Video. Der Frage: Gibt es eine Ästhetik des Widerstands, und wenn ja welche? könnte das ikonische Bild als Antwort dienen. Je mehr sich der politische Mainstream von dem knöchernen Stützelement des griechischen Finanzministers bannen ließ, umso stärker sah man in dieser Obsession auch ein Stück Furcht vor dem kommenden Aufstand glimmen. Der politprofessorale Finger als Zeichen an der Wand. Frei nach Bill Clinton ließe sich angesichts dieses denkwürdigen Vorgangs die gute alte Peter-Weiss-Frage mit dem Satz erledigen: It’s the semiotics, stupid!

Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Politische Macht, gar die berüchtigten „Produktionsverhältnisse“, sind immer auch hard- und nicht nur fiktionale software, die sich einfach umcodieren ließe. Trotzdem hat Srećko Horvat nicht ganz Unrecht, wenn er zurück zu Antonio Gramsci will. Bei einer Diskussion zur Aktualität von Weiss‘ 1975 erstmals publiziertem, berühmten Romanepos „Ästhetik des Widerstands“ vergangenen Samstag im Berliner Hebbel am Ufer (HAU) plädierte der kroatische Philosoph dafür, das Konzept der „Kulturellen Hegemonie“ des legendären italienischen Kommunisten wieder zu beleben, der 1937 in Rom starb.

Wer den aggressiven Rechtspopulismus sieht, der sich derzeit in Europa derzeit ausbreitet, wird solche Überlegungen als intellektuelle Spielerei und vergebene Liebesmüh abtun. Aber der rituelle Antifaschismus, den die Belgrader Theaterlegende Borka Pavićević der europäischen Linken empfahl, dürfte gegen diese reale Gefahr genauso ins Leere laufen wie das Plädoyer des kroatischen Philosophen und Regisseurs Oliver Frljić für einen radikalen Bruch mit dem System. Man dürfe sich nicht länger mit der Normalität des Abnormen in Gestalt der europäischen Postdemokratie abfinden, fand der derzeitige Intendant des kroatischen Nationaltheaters in Rijeka.

Pavićević ging ein wenig freigiebig mit dem Wort „Faschismus“ um. Von Viktor Orbans „illiberalem“ Ungarn über Recep Tayyip Erdoğans autoritärer Türkei bis Marine Le Pens xenophobem Front National subsumierte sie so ziemlich alles darunter. Ihrem resignierten Weckruf zur antifaschistischen Front dürften freilich kaum die (proletarischen) Massen folgen, die sie mit dem Wort „Aufruhr ist besser als Widerstand“ beschwor.

Der Rat Frljićs dagegen, erst die alte Gesellschaft zu zerstören, bevor man eine neue aufbaut, wirkte seltsam unbeleckt von historischen Erfahrungen. Bekanntlich schlug der anfangs linke „Veränderungswille“ von Gruppen wie der Rote-Armee-Fraktion (RAF) in Deutschland am Ende in offenen Terror um. Mit dem Rückgriff auf diese Konzepte kämen die neuen linken Bewegungen, die sich derzeit in Europa Gehör verschaffen, in ein überwunden geglaubtes Dilemma.

Der Kapitalismus heute ist längst nicht mehr der Kapitalismus, wie ihn Gerhart Hauptmann in seinem Drama „Die Weber“ zeichnete. So wie in dieser hochtechnisierten Gesellschaftsformation der Gegenwart die Wissenschaft zu dem aufgerückt ist, was man einst „unmittelbare Produktivkraft“ nannte. Da nützt es wenig, den nostalgischen Fetisch der „werktätigen Massen“ samt Barrikaden und Streikposten zu beschwören. Vielleicht helfen dagegen eher intelligente, sprich: kulturelle Strategien.

So oft, wie die vielen Versuche des 20. Jahrhunderts, so etwas wie „kulturelle Hegemonie“ zu etablieren, blutig endeten, lässt sich natürlich fragen, ob das von Horvat wieder hervorgekramte Institut überhaupt noch ein praktikabler Begriff ist. Und die Versuche der europäischen Sozialdemokratie, allen voran der einstige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz, die konservative Welle der 80er Jahre mit einer Art „Gramsci light“ zu stoppen, konnten den den Neoliberalismus Margaret Thatchers und Ronald Reagans nicht verhindern.

Doch wer heute nicht nur in den bösen Medien verfolgt, wie über wirkmächtige Begriffe wie „Griechenland-Misere“, „Grexit“ oder „Schuldenstaat“ nationale Stereotypen geprägt, also semantisch über das Schicksal ganzer Länder entschieden wird, weiß wie wichtig es ist, zu so etwas wie Horvats „Master of Meaning“ zu werden: Jemand, der die Meinung und Bedeutungen zu prägen vermag.
Welche Rolle bei dieser Art von „Widerstand“ die Kunst konkret spielt – denn um sie geht bei Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ mehr als um Strategien der politischen Gegenmacht – blieb auch nach dem Berliner Diskussions-Abend eine offene Frage. Varoufakis Stinkefinger dürfte gewiss nicht die die ultimative Antwort auf die „subversive Ästhetik“ sein, die Srećko Horvat vorschwebt. Und die er jedes Jahr in seinem „Subversiven Festival“ in Belgrad demonstriert. Auch nicht die “kuratierte Subversion”, als die die Teilnehmer den mitunter etwas außer Rand und Band geratenen Debattenabend ironisch titulierten.

Wirklich tiefe „Risse im System“, das zeigte die erregte Diskussion um das inzwischen legendäre Video, hat der unverhoffte Staatsschauspieler mit seiner semiotischen Strategie zwar nicht bewirkt. Immerhin hat sein Finger sie sichtbar gemacht. Insofern war diese somatische Horizontale ein guter Anfang. Auch für Gesellschaftsveränderung gilt nämlich die Maxime: It’s the performance, stupid!

Ingo Arend

Bild: screenshot (Ausschnitt) website hebbel-am-ufer.de