Die Stadt hat sich mit international viel beachteten Schauen zur Kunstmetropole entwickelt. Jetzt machen sich Angst und Selbstzensur breit

Allahu Akbar. Mit diesem Schlachtruf stürmten religiöse Fanatiker Ende vergangenen Jahres die Kunstmesse Contemporary Istanbul (CI). Eine Frauenstatue des Istanbuler Künstlers Ali Elmaci mit dem Porträt Sultan Abdülhamids II. auf dem Badeanzug hatte ihren Unmut erregt. Dass der Künstler die Arbeit schließlich dauerhaft vom Stand der chilenischen Isabel Croxatto Galleria abzog, war ein Zeichen für den neuen Aggregatzustand, der die türkische Kunstszene derzeit durchzieht: Angst und Selbstzensur. Spätestens mit dem versuchten Ikonoklasmus dürfte die „Art Boom“-Blase, welche die New York Times 2012 am Bosporus entdeckt hatte, erst einmal geplatzt sein.

Ihren Urknall darf man auf das Jahr 1987 datieren. Mit der damals von einer Gruppe Unternehmer ins Leben gerufenen „Istanbul Biennale“ versuchte das Land am Bosporus Anschluss an das internationale Kunstgeschehen zu gewinnen. Kuratoren wie Beral Madra, die 1942 geborene Grand Dame der Istanbuler Kunstszene oder Vasif Kortun, Jahrgang 1958, entwickelten die junge Biennale zu einer viel beachteten Alternative zum Biennale-Modell a la Venedig. Für die 3. Ausgabe 1992 wählte Kortun das Motto: „Produktion kultureller Differenz“. Er schaffte die nationalen Pavillons ab und lud junge Künstlerinnen aus dem Balkan und Osteuropa ein. 2005 verließ er mit der Biennale die historischen Sehenswürdigkeiten am Goldenen Horn und öffnete Alltagsräume im europäischen Teil Istanbuls für die Schau. Organisiert wurde die Biennale von der „Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV)“, einer privaten Initiative der Pharmaunternehmer Eczacibasi. Neben der alle zwei Jahre stattfindenden Kunstschau organisiert die IKSV außerdem ein Theater-, ein Jazz-, ein Filmfestival und seit 2012 auch eine Design-Biennale.

Erosion Die Kunstbiennale wurde zum Kristallisationspunkt und zum Katalysator einer neuen Künstlergeneration. Zu den Gründerfiguren dieser „Generation der 1990er“ zählen mit Hale Tenger, Gülsün Karamustafa und Ayse Erkmen drei Frauen. Nationale Identität, die Beziehung der Geschlechter und die Rolle des Staates waren ihre Themen. Im historischen Moment der Erosion des kemalistischen Systems kam der Kunst dabei die Rolle einer Ersatzöffentlichkeit für solche lang tabuisierten Fragen zu. Mit allen Konsequenzen: Wegen ihrer Installation „Ich habe solche Freunde“ – die türkische Nationalfahne, zusammengesetzt aus Hunderten kleiner Bronzepenisse – wurde Tenger 1992 vor den Kadi gezerrt.

Um diesen „kritischen Kern“ lagerten sich eher klassische Kunst-Institutionen an. Getragen werden sie – wegen des Fehlens einer staatlichen Kulturpolitik – allesamt von wohlhabenden, liberalen Unternehmerdynastien, die sich davon nicht nur Prestige, sondern den Erhalt einer liberalen Öffentlichkeit versprechen. 2002 öffnete zum Beispiel die Unternehmerfamilie Sabanci ihr Privatmuseum mit Schwerpunkt Klassische Moderne und ottomanischer Kalligraphie im Nobelvorort Emirgan. 2004 gründeten die Pharmaunternehmer Eczacibasi zusätzlich das private Kunstmuseum „Istanbul Modern“ im alten Istanbuler Hafen.

2010 zog Ömer Koç, kunstsinniger Spross einer der vermögendsten Clans, mit dem Kunstraum „Arter“ auf Istanbuls Shoppingmeile Istiklâl Caddesi nach. 2011 öffnete die rund 600 Werke starke Kunstsammlung der Borusan-Holding im Firmensitz des Unternehmens in dem mehr als 100 Jahre alten, osmanischen Baudenkmal Perili Kösk ihre Pforten. Ihr Schwerpunkt: Zeitgenössische Medienkunst. Auch die Galerienszene florierte. Gab es zu Beginn der 1990er Jahre gerade einmal eine Handvoll Galerien, stieg ihre Zahl bis zum Jahr 2010 auf fast 200.

Flaggschiff dieser ausgeweiteten Kunstzone ist das 2011 eröffnete Salt-Kunsthaus. Um das, 2001 von Vasif Kortun zunächst als „Garanti-Platform“ gegründete, innovative Kunstzentrum mit Archiven, Bibliothek, Ausstellungsräumen und Forschungszentrum dürfte manche europäische Metropole Istanbul beneiden. Träger ist die Garanti-Bank, eines der größten Geldinstitute der Türkei. Die Initiativen und Ausstellungen, die Vasif Kortun von hier aus lancierte, begründeten seinen Aufstieg zum einflussreichsten Matador der türkischen Kunstszene. In Salt organisierte er nicht nur Retrospektiven türkischer Künstler wie Hüseyin Alptekin. Salt wurde auch bekannt wegen kulturgeschichtlicher Querschnittsschauen – zur außerparlamentarischen Bewegung der 1970er Jahre in der Türkei, zur Baugeschichte des umkämpften Symbolplatzes Taksim im liberalen Stadtteil Beyoglu oder zur Kultur der Sommerhäuser an der Ägäis.

Der kulturelle Klimasturz begann zweifellos mit den Protesten von Gezi im Jahr 2013. Anfang 2016 musste unter ominösen Umständen eines der zwei Häuser des Salt-Kunsthauses schließen. Die private Akbank sagte im selben Jahr eine Woche vor der Eröffnung eine „Post-Peace“-Ausstellung ab, die sich mit Fragen von Krieg und Frieden befasste. Unmittelbar nach dem Putsch wurden zwei kleine Regional-Biennalen in Çanakkale an den Dardanellen und Sinop am Schwarzen Meer abgesagt. Und der Londoner Messe-Unternehmer Sandy Angus schloss die gerade erst gegründete Kunstmesse ArtInternational. Im Oktober 2016 kündigte die Türkei ihre Mitgliedschaft in dem EU-Kulturprogramm „Kreatives Europa“ auf, weil das Programm ein Konzert der Dresdner Sinfoniker zur Erinnerung an den Genozid an den Armeniern unterstützt hatte. „Der Hotspot Istanbul ist zu einem ‚Frosty Spot‘ geworden“. kommentierte Kuratorin Beral Madra den plötzlichen Niedergang der Szene.

Zwar macht die vorerst weiter wie bisher. Im neuen Hotspot Bomontiada, einer alten Bierfabrik im Stadtteil Sisli, hat der neue „Alt Art Space“ geöffnet – ebenfalls ein Projekt der Garanti-Bank. Im Stadtteil Dolapdere wächst das neue Museum für zeitgenössische Kunst der Koçs aus dem grauen Schlamm des ehemals proletarisch geprägten Bezirks. Es soll ebenso 2018 öffnen wie der Bau, den die verstorbene Architektin Zaha Hadid für die über 2.000 Werke umfassende Sammlung des Unternehmerpaars Demet und Cengiz Çetindogan entwarf. Zur letzten CI-Kunstmesse vergangenen November kamen mehr als 90.000 Besucher. Immer wieder gelingen den Häusern kritische Nadelstiche. Zur Jahreswende 2015/16 zeigte das die Schau „Bare, Naked, Nude“ zum Tabuthema Nacktheit in der türkischen Malerei. Das alles kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kunst am Bosporus in die soziale Defensive geraten ist.

Bildende Künstler hat Erdogans Säuberungswut zwar noch nicht erfasst – sieht man von der Internierung der Istanbuler Künstler Pinar Ögrenci and Atalay Yeni ab, die im Dezember 2015 an dem „I am walking for peace“-Marsch teilgenommen hatten, der sich gegen den Feldzug der Regierung gegen die Kurden richtete.

Es grenzt an ein Wunder, dass der unabhängige Istanbuler Kunstraum „Depo“ noch nicht geschlossen wurde. Das ehemalige Tabakwarenlager, 2005 für die Istanbul-Biennale erstmals als Kunstraum genutzt, ist seit 2009 der wichtigste „Independent“-Artspace Istanbuls. Getragen wird er von der „Anadolu Kultur Stiftung“, deren liberaler Chef Osman Kavala, einer der einflussreichsten Wirtschaftskapitäne des Landes, Spitzname: „Der rote Millionär“, inzwischen auch ins Visier der Herrschenden geraten ist. Im „Depo“ residieren zahlreiche Initiativen und das Acik Radyo, ein Sprachrohr vieler Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, das schon die Gezi-Proteste von 2013 begleitet hatte.

Exodus „Are you still alive“ hieß der Titel einer Ausstellung im vergangenen Herbst. Der kurdische Künstler Berat Isik thematisierte darin die Lebensbedingungen der Bevölkerung in dem von den türkischen Sicherheitskräften verheerten Diyarbakir. Den Satz kann man aber getrost auch über die Istanbuler Kunstszene insgesamt schreiben. Denn die über 150 inhaftierten Journalisten in der Türkei führen der Kunst drastisch vor Augen, dass auch sie jederzeit betroffen sein kann. Kein Wunder, dass viele Künstler und Kuratoren auf gepackten Koffern sitzen. „Exodus“, „Plan B“ und „Survivalmodus“ sind die meistgehörten Vokabeln derzeit in der Stadt. Die Video-Künstlerin Selda Asal, die 1999 mit „Apartman Projesi“ einen der ersten unabhängigen Kunsträume Istanbuls eröffnete, hat ihre Initiative in diesem Jahr endgültig nach Berlin-Neukölln verlegt. Der Istanbuler Avantgarde-Galerist Moize Zilberman eröffnete vergangenes Jahr eine permanente Dependance in Berlin-Charlottenburg. Auch CI-Chef Güreli hat sich ein Haus an der Spree gekauft.

Noch bereitet die IKSV-Stiftung trotz der angespannten Lage die 15. Ausgabe der Istanbul-Biennale im September unter dem Titel „A good neighbour“ vor. Fragt sich nur, ob man das offen schwule Kuratorenpaar Elmgreen & Dragset ungehindert arbeiten lässt – verprügelten doch einen Tag nach dem Terroranschlag im Istanbuler Nachtclub Reina zu Silvester Hooligans den homosexuellen Designer Barbaros Sansal auf dem Istanbuler Flughafen.

Kein Zweifel: Die Türkei ist auf dem Weg einer schleichenden Faschisierung. Umso wichtiger, dass europäische Kulturinstitutionen nicht nur von Solidarität reden, sondern den Austausch mit den Künstlern und Museen dort intensivieren.

Ingo Arend

Bild ganz oben: Ali Elmacıs heftig umstrittene Arbeit auf der CI | Foto: Galerie Croxxato

Das Parlament Nr 9-10 | 27-02-2017