Ein Gespräch mit der documenta-Professorin Nora Sternfeld über Kunst-Großausstellungen als umkämpftes Feld, den Spielraum der Documenta und das Paramuseum.

„Kunstwissenschaften/documenta“ – das ist die genaue Bezeichnung der Professur, mit der Nora Sternfeld die weltweit bedeutendste Schau für zeitgenössische Kunst an der Universität Kassel wissenschaftlich begleiten soll. 2013 hatte die Universität Kassel eine zunächst zweijährige Gastprofessur eingerichtet, die 2017 neu besetzt wurde. Sternfeld ist neben Forschung und Lehre eingebunden in die Konzeption eines documenta-Instituts, das auch das bestehende documenta-Archiv umfassen soll. Angesiedelt ist die Stelle an der Kunsthochschule Kassel, die ein teilautonomer Bereich der Universität ist. Die gebürtige Wienerin kennt Stadt und Universität bereits von einem Lehrauftrag, den sie 2009 an der Kunsthochschule hatte.  

Ingo Arend: Frau Sternfeld, waren Sie vergangenes Jahr auf der documenta?  

Nora Sternfeld: Selbstverständlich. Sie hat viel in mir ausgelöst.  

Was hat Ihnen am besten gefallen?  

Ich beschäftige mich seit langem mit der Frage nach dem Postrepräsentativen: Welche Möglichkeiten gibt es für eine künstlerische Form, mit der Realität zu verhandeln? Da haben mich zwei Arbeiten besonders beeindruckt. Einmal der Raum, der der Society of the Friends of Halit gewidmet war und der Kooperation mit der Londoner Gruppe Forensic Architecture. Darin ging es um die antirassistische Forschung und Auseinandersetzung mit den NSU-Morden. Und zum anderen Maria Eichhorns Rose-Valland-Institut, das die Enteignung der jüdischen Bevölkerung Europas erforscht. Zwei große Projekte: Sie wollten nicht nur repräsentieren oder den Diskurs verschieben, sondern in reale Bedingungen eingreifen.  

Die beiden Arbeiten kamen einigen Kritikern sehr dokumentarisch vor …  

Ich sehe sie nicht dokumentarisch. Gerade, dass sie in reale Bedingungen eingreifen wollten, macht den interessanten Unterschied zum Dokumentarischen. Sie schaffen gleichzeitig eine reale Intervention und öffnen auch den Raum für mögliche Imaginationen: Sie verschieben das, was gesagt und gesehen werden kann und fragen über ihren eigenen realen Eingriff hinaus: Wie würde eine andere Welt aussehen, in der ein anderes Recht gelten würde?  

Ist es die Aufgabe von Kunst, in Realitäten einzugreifen?  

Ich glaube, dass Kunst auch immer darin besteht, das zu verlassen, was sie gerade als solche ausmacht. Dieser Moment, wo der Rahmen nicht mehr den Rahmen bildet, dies kann mit performativen Mitteln geschehen, oder eben auch mit rechtlichen, kommt mir im Moment sehr spannend vor. Eine Herausforderung der Repräsentation von der Realität her.  

Ich glaube, dass Kunst auch immer darin besteht, das zu verlassen, was sie gerade als solche ausmacht.

Sie sind zwar seit einiger Zeit in Kassel. Arbeiten aber auch in Wien und Helsinki. Wie stellt sich für Sie aus dieser Außenperspektive der letzte Streit um die documenta vor?  

Die documenta ist, wie jede Großausstellung, ein umkämpftes Feld, an der Schnittstelle verschiedener Zielkonflikte: Ökonomische Interessen, Standortfragen, Lokalpatriotismen, Ressentiments, kulturtheoretische Diskurshoheiten, aber auch künstlerisch-kuratorische Rigorosität und intellektuell-politische Ansprüche. Einerseits wurde die documenta von einem globalen Kunstfeld mit seinen Einsätzen, Diskursen und Märkten beansprucht. Andererseits wurde sie in Medien und Politiken als deutsche Marke – vielleicht so wie VW, Nivea oder die deutsche Fußballmannschaft – promotet und verteidigt. Diese komplexe Gemengelage ist die Matrix dieses Streits.  

Haben Biennalen wie die documenta eigentlich noch kritischen Manövrierraum zwischen Standortinteressen und autoritär-populistischer Formierung im politischen Umfeld?  

Ja, es gibt ihn noch, aber vielleicht bald nicht mehr. Schauen Sie sich das Beispiel Istanbul an. Und wie groß ist der kuratorische Spielraum in Venedig? Die documenta hat ihn immerhin genützt. Da gab es den Spielraum noch. Und es wäre schade, wenn es ihn nicht mehr gäbe. Es ist offen, wie groß er bei der nächsten documenta sein wird. Ich hoffe, so groß wie möglich.  

Sehen Sie die documenta in Gefahr?  

Was in Gefahr ist, ist der Spielraum. Die documenta als documenta ist genauso wenig in Gefahr wie die Venedig-Biennale als Venedig-Biennale. Aber was ist uns an der documenta wichtig? Eben dieser Spielraum.  

Ist die documenta nicht ein anachronistisches Ritual? Die Versöhnung mit der von den Nazis verfemten Moderne, die Arnold Bode wollte, ist doch längst abgehakt.  

Gute Frage. Aber müssen wir diese Idee von der Versöhnung heute nicht neu definieren? Diesen Auftrag muss jede documenta neu auslegen für ihre eigene Zeit. Und selbst Bodes Idee ist nicht abgehakt. Wir leben in einer Zeit, die sich vielerorts wieder faschisiert. Wenn heute rechte Politik wieder von entstellter Kunst spricht, braucht man die documenta eigentlich mehr denn je.  

Sehen Sie auch einen neoliberalen Angriff auf das Kunstsystem wie die Unterzeichner eines Protestbriefs aus dem Kunstbetrieb kürzlich gegen die ursprünglichen Pläne der Stadt Kassel?  

Mit der Ökonomisierung haben wir es in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu tun. Das Kunstfeld war aber nie frei von Ökonomie. Zum immer schon präsenten Kunstmarkt ist aber heute die Standortökonomie hinzugekommen, Immobilien, Tourismus. Dazu kommen die Interessen der Künstler selbst, der Kunstwissenschaft, selbst solche des Aktivismus. Alle diese Akteure kämpfen mit um die Deutungshoheit über den State of the art. So schnell kann man das nicht zurückdrehen.  

Zum immer schon präsenten Kunstmarkt ist aber heute die Standortökonomie hinzugekommen, Immobilien, Tourismus.

Ein großer Streitpunkt seit Jahr und Tag ist die Frage nach dem Standort. Darf die documenta auch weiterhin außerhalb von Kassel stattfinden? Wie wichtig ist ihr Geburtsort für die Schau?  

Wir leben heute in einer Welt, in der es nicht mehr nur ein Archiv gibt. Es gibt nicht mehr nur eine Grenze für das, was gedacht und gesagt werden kann, sondern mehrere und widersprüchliche. Und es gibt auch nicht mehr nur einen Kunstmarkt, sondern mehrere und widersprüchliche, genauso bei den Kunstgeschichten.Es gibt auch nicht mehr ein Zentrum. Dezentrierung ist ein kuratorisches Mittel, darauf zu reagieren. Und die findet ja schon auf unterschiedliche Weise seit der documenta 11 statt. Wir können natürlich den Anspruch aufgeben, Welt, Kunst und Ausstellung aufeinander wirken zu lassen. Dann können wir uns auf ein System beschränken. Oder wir beziehen diese Widersprüche aufeinander.  

Selbstbeschränkung geht doch eigentlich nicht mehr …  

Es geht. Aber um den Preis der Provinzialität. Um es in der Fußballsprache auszudrücken: Wenn Deutschland nur in Deutschland Fußball spielen will, kann es sich nicht mehr an der Weltmeisterschaft beteiligen.  

In Kürze wird eine Findungskommission eine/n neue/n künstlerische/n Leiter/in für die 15. documenta 2022 berufen. Haben Sie eine/n Wunschnachfolger/in für Adam Szymczyk?  

Die nächste documenta braucht jemanden, der oder die auf der künstlerischen Freiheit besteht und auf Basis dieser Freiheit eine Position entwickeln kann, die sich traut, etwas in die Welt zu rufen und nicht nur etwas abzubilden.  

Sie vertreten in Bezug auf die Frage nach der Zukunft des Ausstellungswesens die Idee eines Para-Museums. Was ist damit gemeint?  

In der kritischen Museologie ging es lange Zeit um Museumskritik. Der Neoliberalismus will das Museum verändern, privatisieren. Mit dem Para-Ansatz geht es mir darum, ernst zu nehmen, was ein Museum kann. Und zugleich die Kritik an der Gewaltgeschichte ernst zu nehmen, die das Museum auch ist. Es geht darum, im Inneren von etwas, was problematisch ist, eine Veränderung zu denken. Aber nicht, indem ich mich mit diesem Innen total identifiziere. Eine Mischung aus Kritik und Aneignung, wenn Sie so wollen.  

Was könnte diese Konzeption für die nächste documenta bedeuten? Schließlich versteht sich die documenta als „Museum der einhundert Tage“.  

Das Interessante an der documenta ist ja diese Dialektik aus Dauer und Veränderung. Ihre lange Kontinuität besteht aus einer Aneinanderreihung von temporären Momenten. Ihr müsste etwas zur Seite gestellt werden, das beide Möglichkeiten ernst nimmt. Ich glaube, dass das documenta-Institut, das jetzt in Kassel eingerichtet wird, eine Institution sein könnte, das die Kraft der jeweils aktuellen documenta, die sich immer selbst neu erfindet, genauso ernst nimmt wie die Tatsache, dass documenta mittlerweile eine Kontinuität hat und diese auch braucht.  

Seit Beginn dieses Jahres sind Sie die neue documenta-Professorin. Was machen Sie selbst konkret an der Kasseler Universität?  

Ich unterrichte natürlich. In diesem Semester haben wir in einem kollaborativen Seminar neue Forschungsfragen für das Archiv entwickelt. Im nächsten Semester gebe ich eine Vorlesung zur Ausstellungsgeschichte. Wir arbeiten auch an einer Web-Plattform, die documenta-Studien öffentlich machen wird. Teil der Arbeit ist ein öffentliches Programm der internationalen und lokalen Debatte darüber, wie wir uns eine Institution wie dieses neue documenta-Institut imaginieren könnten, die nicht so auf der Hand liegend ist. Wir wollen das nicht vorwegnehmen, wir wollen uns überraschen lassen. Auf der Webplattform wird jedes Jahr auch ein post-digitales künstlerisches Rechercheprojekt lanciert, um zu zeigen, dass künstlerische Forschung ein wesentlicher Teil der documenta-Forschung sein muss.  

Welche Rolle kommt dem documenta- Archiv zu?  

Das Archiv hat eine Geschichte, die fast so lang ist wie die documenta selbst. Es ist eines der interessantesten Archive der Gegenwartskunst, eine vorzügliche Basis, um ein documenta-Institut zu denken. Das ist eine unglaubliche Chance: Die Gleichzeitigkeit von Sich-selbst-ständig-neu-erfinden und Kontinuität, die sich im Archiv materialisiert, ist eine Möglichkeit, um Institutionen anders zu denken.  

Viele documenta-Chefs beklagen ja oft die mangelnde Nachhaltigkeit der documenta auch in der institutionellen Praxis …  

Absolut. Und gleichzeitig sind dieselben Leute froh, dass sie alles selbst erfinden können. Wenn sie kommen, wollen sie eigentlich nicht auf dieses alte Wissen aufbauen. Wenn sie gehen, wollen sie ihr Wissen auf ewig konservieren. Ich wünsche mir, dass das künftige documenta-Institut ein Ort ist, an dem dieser Widerspruch zu einer Chance wird: Sowohl auf der Freiheit als auch auf der Notwendigkeit von Kontinuität zu bestehen.  

Schluss mit der documenta, und zwar für immer! schrieb eine Zeitung im letzten Jahr. Dem Satz würden Sie wahrscheinlich nicht zustimmen, oder?  

Die documenta wird weitergehen. Die Frage ist nur wie.  

Ingo Arend | BAND 253, 2018, KUNSTFORUM GESPRÄCHE, S. 318

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Nora Sternfeld, geboren 1976 in Wien. Studium der Philosophie an der Universität Wien, Promotion als Kunst- und Kulturwissenschaftlerin an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Lehraufträge in Wien, Berlin, Kassel und Zürich. Derzeit Professorin für Curating and Mediating Art an der Aalto University in Helsinki und ist seit Anfang diesen Jahres documenta-Professorin an der Kunsthochschule Kassel.

Sternfeld ist Teil des Wiener Büro trafo.K, das an Forschungs- und Vermittlungsprojekten an der Schnittstelle von Bildung, Kunst und kritischer Wissensproduktion arbeitet. Sie ist im Leitungsteam des /ecm – educating, curating, managing – Masterlehrgang für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien, Teil von Freethought, Plattform für Forschung, Bildung und Produktion und war in diesem Zusammenhang eine der künstlerischen Leiter*innen der Bergen Assembly 2016.

Zuletzt erschienen „Das Pädagogische Unverhältnis. Lehren und Lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault“. (Wien 2009) und „Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft“. (Wien 2013).