Elf Vignetten zur documenta 14

I.  Die abgeschlagenen Rentierköpfe, ein ganzer Berg davon, schneebedeckt: soviel gehäufter Tod auf einem Foto, hingeworfen, anklagend. Daneben eine von der Samin Máret Ánne Sara geschaffene Halskette mit 500 winzigen Totenköpfen, die sie aus der Knochenasche dieser Tiere gefertigt hat. Und etwas weiter weg, groß im Raum, ein zartes, geisterhaft schwebendes Gespinst, ein weißer Vorhang aus an- und übereinandergereihten Rentierschädeln, vom Fleisch befreit und gereinigt: wegen des Geruchs, heißt es. Der Geruch, der Marina Abramovic auf der Biennale in Venedig 1997 nicht davon abhielt, sich in ihrer mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Performance ‚Balkan Baroque‘ auf einen riesigen Haufen von 2000 blutigen Rinderknochen zu kauern und sie eigenhändig von Fleisch- und Knorpelresten zu säubern, sie hat sich und den Zuschauern das zugemutet: die Verwesung, das zunehmende Gewimmel der Maden, den fürchterlichen Gestank. Dieser weiße Vorhang hier auf der documenta 14 hat etwas Anmutiges, Bewegendes, etwas, das an ein indianisches Totem erinnert, er ist, wie so vieles aus der Ferne, schön: erst, wenn man näher geht, davor steht und sieht: die Einschußlöcher, die glatten Durchschüsse und die mit den unsauberen Rändern, wo das Projektil größere Knochenstücke herausgebrochen hat, erst wenn man begreift: die Rentiere sind nicht einfach gestorben, sie sind abgeschlachtet worden, erst dann wird das Bild vollständig. Das Gefühl springt um: und in dem bleichen Traumfänger bleiben Ohnmacht hängen, Wut und Schmerz.

II.  Daß die Beschilderung während der Vorbesichtigung durch die Presse und noch Wochen danach mangelhaft war, unvollständig und voller Fehler, dürfte ganz im Sinne des künstlerischen Leiters (kL) sein: „die Dunkelheit des Unwissens“ (und damit bedient er sich desselben Herrschaftsinstrumentes, mit dem die Machtausübenden schon immer das Volk kleingehalten haben), in der sich die Besucher durch die Ausstellung bewegen sollen, ist eine der Forderungen, die er stellt. Der Blick auf das zu Betrachtende soll durch keine Information getrübt werden. Kann man unterschreiben: ein überzeugendes Kunstwerk spricht für sich. Fehlende Angaben als Nagelprobe auf die Kraft der Aussage. Doch dem Postulat des kL zum Trotz gibt es genau das eben nicht: die Chance, unvoreingenommen an die Sache heranzugehen (wobei unvoreingenommen nichts mit dem geforderten Unwissen zu tun hat): man wird von sattsam bekannten Schlagworten geradezu niedergeknüppelt: Rassismus, ökologische Krise, Ausbeutung, Diskriminierung, Kapitalismus, Globalisierung, Kolonialismus, Flüchtlingskrise, wird nachdrücklich angewiesen, wie man etwas wahrzunehmen, einzuordnen und zu verstehen hat. Wird wie ein Hund an der Leine hierhin und dorthin gezerrt. Danke, Leute, aber ich such mir den Laternenpfahl selbst aus, den ich anzupinkeln gedenke.

III.  Bruno Schulz in der GrimmWelt, diesmal nicht als der großartige Schriftsteller (‚Zimtläden‘): fünf Vitrinen zeigen u.a. eine Katze und eine Prinzessin, Malerei auf Putz (abgelöste Teile eines dürftigen Wandgemäldes), 1942, Kunst unter Zwang, unter Todesdrohung: denn der 1892 im damals polnischen Drohobycz geborene jüdische Lehrer und Zeichner mußte während der deutschen Besatzung für einen Gestapo-Offizier, neben der Verrichtung anderer Sklavenarbeiten, in dessen Haus die Wände des Kinderzimmers mit den hier in Fragmenten ausgestellten Märchenbildern schmücken. Nichts von dem, was man hier sieht, war von Bruno Schulz so gewollt. Welche Bedeutung haben die Exponate ohne diese Information? 

IV.  Ach ja, und der Rauch oben auf dem Zwehrenturm: was sieht man, wenn man ihn sieht und nichts darüber weiß, nichts vom Künstler und seinen Absichten, wenn man so unwissend ist wie vom kL verlangt. Rauch halt, wie er aus Schornsteinen steigt, im Winter, wenn’s kalt ist. Vielleicht denkt man auch an Krematorien, an Brandschatzung, an Indianer, die sich mit Rauchzeichen verständigen. Doch selbst diese Assoziationen im freien Fall beruhen auf sowas wie Vorwissen.

V.  ‚Abacus’ heißt die Installation von George Lappas im Fridericianum, vier notenlinienartige Metallgestänge mit aufgezogenen Kugeln, halb kreuz und quer durch den ganzen Raum gespannt: was wird hier berechnet? Von welchen Göttern? Und mit welch ungeheurem Gleichmut. Unser Schicksal könnte ihnen nicht weniger egal sein.

VI.  Die Herstellung der schwarze Seife sei einfach gewesen, verkündet die Künstlerin, aber hinter der Beschaffung der Bestandteile stecke ein Riesenaufwand und ökologische Probleme. Ein Bauchladenmann bietet die Seifen mit der akzentuierten, großspurigen Gestik eines Verkehrspolizisten an. „Die können Sie aber nur kaufen, wenn Sie auch die Erfahrung durchleben.“ Erfahrung? Die man aus den Belehrungen der Künstlerin gewinnen soll? Wo bleibt da die „Dunkelheit des Unwissens“. Schwarze Seife (für 20 Euro das Stück), schwarzes Bier (für 8 Euro die Flasche): auch das „inspiriert von der Erfahrung afrikanischer Migrant_innen in Europa“. Es wird während der d14 auf Litfaßsäulen beworben, die keiner mit Kunst in Verbindung bringt: drei schwarze Bierflaschen, kaum auszumachen auf dem schwarzen Grund, „Wer hat Angst vor schwarz“ steht in agressivem Weiß ganz unten, und oben das Wort „sufferhead“ in altertümelnder Zierschrift: mit „Suffkopp“ übersetzt das einer aus Frankfurt und hält es für eine Anti-Alkoholikerkampagne. So funktioniert das mit dem Unwissen.

VII.  Diese so hübschen goldfarbenen Objekte an einer Wand der Neuen Galerie, länglich, sakral, ein bißchen wie verwachsene Pflanzenschoten, ein bißchen wie der barocke Faltenwurf im Gewand eines Heiligen, etwas, das genausogut in Kirchen hängen könnte: und bei näherer Betrachtung stellt man fest: die Skulpturen sind zerknüllte Höschen. Sie stehen offensichtlich in Beziehung zu den Fotos gegenüber: weibliche Geschlechtsteile, zwischen himmelweit auseinandergerissenen Schenkeln herausfordernd gebleckt. Dasselbe Künstlerduo bietet übrigens Exkursionen in den Straßen von Kasselan, bei denen es darum geht, auf „25 verschiedene Weisen, Sex mit der Erde zu haben“.

VIII.  Mitgefühl, steht in einem alten Jugendbuch, ließe sich vielleicht nur lernen, wenn wir einer Fliege die Flügel ausreißen und dann begreifen, daß wir sie ihr nicht wieder einsetzen können. Oder wir liefern uns dem Anblick von Costas Tsoclis ‚Harpooned Fish‘ im Fridericianum aus: auf einem Video windet sich ein Fisch: aus seinem wild zuckenden Leib ragt eine Stange in den Raum. Das Tier schlägt mit dem Körper um sich, wieder und wieder und immer wieder, krümmt sich, schnappt mit dem Maul: nach Luft, nach Leben. Wird schwächer und kraftlos und gibt doch nicht auf: ein ums andere Mal dieses Zittern, das den Fisch durchläuft, ein bebendes Aufbegehren gegen den Tod, nochmal sein aufgerissenes Maul, und dann beginnt sein ganzer Leib erneut zu zucken. Da braucht es in der Tat kein erklärendes Wort. Wer das aushält, wer sich zwingt, dem qualvollen Verenden dieses Fisches beizuwohnen, dem beschert die Kunst eine Ahnung davon, was das für ein Lebewesen heißt: zu sterben.

IX.  So vieles auf dieser documenta jedoch ist nicht Kunst sondern gekünstelt, prätentiös präsentiert. Ist harmlos, trivial und tut keinem weh. Es bewegt nichts und stellt nichts in Frage. Im Gegenteil: es bestätigt den braven, engagierten Bürger in seiner moralisch aufrechten Haltung. Anstatt ihn zu erschüttern. Noch nie, sagt eine Kunsthistorikerin aus Wien, habe sie eine derartige Ansammlung schlechter Kunst gesehen. Auf der d14 kann sich jeder, der will, so herrlich nostalgisch fühlen, bei all den kindische Mitmachaktionen und Selbsterfahrungskursen, ganz wie in den späten 60er Jahren: da hatten wir das auch schon. Was aber ist heute von einer derart rückwärtsgerichteten Veranstaltung zu halten, die teilweise anmutet wie ein VHS-Kurs: „Wir stricken für den Frieden“. Einer Veranstaltung, die, obwohl sie die Globalisierung lauthals anprangert, nichtmal ansatzweise die Digitalisierung thematisiert, ohne die eine Globalisierung in diesem Ausmaß gar nicht möglich wäre. Ist das Blödheit oder Blindheit oder die Befürchtung, eine kritische Auseinadersetzung mit der Digitalisierung könnte den Großteil des Publikums, das ohne nicht mehr kann, verprellen. Also tut man lieber so, als seien Computer, Internet, Überwachung, Künstliche Intelligenz, Virtual Reality und was sonst noch mit dem Zerstieben der Welt in Nullen und Einsen zusammenhängt, inexistent: und inszeniert eine Weltkunstausstellung unter strikter, ja geradezu hysterischer Vermeidung jeglicher Art von Technik-Kritik. Das muß man in der heutigen Zeit erst mal hinkriegen. Der kL der d14 und seine Kuratorenriege schaffen das. Mit links.

X.  Es gibt, wie gesagt, natürlich auch auf der d14 Perlen, es gibt in der GrimmWelt Susan Hillers auf schwarzer Leinwand schwingendes grünes Stimmband, das eine Auswahl aussterbender Sprachen ins Sichtbare holt, es gibt in der Neuen Galerie die erheiternden Zeichnungen von Gianikians und Ricci Lucchis Rußlandreise auf der Suche nach der Avant Garde, im Gießhaus Angela Melitopoulos erkenntnisreiche Video- und Soundinstallation ‚Crossings‘ über ökonomische Kriege und den Verstrickungen von Schulden, Ausbeutung und Flüchtlingsströmen und im Stadtmuseum Hans Eijkelbooms ‚Photo Notes‘, die spielerisch auf die Defizite und Bestechlichkeiten der eigenen Wahrnehmung verweisen. Es gibt im ‚Gloria‘ die ungewöhnlich sanft und langsam und gründlich zur Sache gehenden Dokumentarfilme von Wang Bing, im Fridericianum Bill Violas Video von der Gewaltätigkeit des Wassers und so wunderbare Titel wie ‚The Archive of Silence‘. Und man wird während der hundert Tage immer mal wieder was finden, auf das man mit einem zusätzlichen Herzschlag reagiert: insgesamt jedoch ist die ganze Chose entsetzlich undurchdacht. Und unbedarft in Szene gesetzt. Dazu so uninspiriert, altbacken, stümperhaft, lustlos und zufällig, daß ein aufgerissener Gelber Sack an der Hauswand in der Jägerstraße, aus dem sich ein rosafarbenes Hosenbein windet und der zerrupfte Zweig einer nicht artgerecht entsorgten Zimmerpflanze, genausogut dazugehören könnte: ein weiteres hingepfuschtes Exponat. Was aber auch heißt: bloß ein Exponat und nichts als ein Exponat. Alles ist documenta. Irgendwie. Irgendwo. Oder nicht. „Da heirat’ ich lieber in Hückelhoven“, sagt irgendwer, als er an der ‚Mill of Blood‘ vorübergeht. Und auch das paßt ins Bild.

XI.  Die, die dem Konzept der d14 dennoch etwas abgewinnen können, sind meist jüngeren Jahrgangs oder im Denken ungeübt: selbstgefällige Mit-mir-beginnt-die-Welt-Posauner ohne Geschichtsbewußtsein, die es, um ihrem geistlosen Vergnügen zu frönen, mit einem oberflächlichen Blick gut sein lassen. Die sich nicht aufhalten mit Hintergründen und Herleitungen und von Ursachen nichts wissen wollen und erst recht nichts von Komplexität und komplizierten Zusammenhängen. Die jedes Ding für sich betrachten, unwillens oder tatsächlich unfähig, eins mit dem anderen in Verbindung zu bringen: so entgeht ihnen jede Ungereimtheit. Ja, sie sind leicht für dumm zu verkaufen und ein Wunschtraum jedes Machtausübenden: gefügige Untertanen, die sich „in der Dunkelheit des Unwissens“ bewegen.

© 2017  ingrid mylo

Bild ganz oben: 

13-07-2017 | Eigenes Werk | Urheber Amrei-Marie

Daniel Knorrs Rauch-Installation „Expiration Movement“ am Zwehrenturm anläßlich der Documenta 14 in Kassel

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