Die Begegnung von Kino und Moderne vor einer Kamera, die beim Beobachten neurotischer Rebellen die Grenzen der Wahrnehmung erforscht

„Das ist der Moment der mich im Kino fasziniert: Wenn ein Film plötzlich explodiert und sich total öffnet“.
Arthur Penn

Die diesjährige Berlinale 2007 widmete ihre Hommage einem Regisseur, der nicht weniger im Sinne hatte, als das Kino für die Moderne zu öffnen. Dabei hat er ein paar großartige, maßlose, unbalancierte, gewalttätige, manieristische und selbstreflexive Filme geschaffen, bevor sein Projekt in der Renaissance des Popcorn-Kinos und im digitalen Bildersturm unterging. Wenn wir uns heute mit den Filmen von Arthur Penn beschäftigen, dann geht es nicht nur um ein schönes, heftiges Stück Kinogeschichte. Es geht auch um ein Kapitel Kulturgeschichte, um Gewalt, Rebellion und Gegenkultur in der Epoche vom Ende des Kalten Krieges bis Watergate.

Neunzehnhundertachtundfünfzig. Der Höhepunkt des Kalten Krieges ist erreicht. Man ist dabei, den McCarthyismus zu überwinden. In New York tritt eine Generation von Künstlern auf, die eine neue Form der Freiheit erproben. In den Augen der konservativen Kritik sind sie „halbgare Künstler mit eklektischer Technik, die im Strom eines geistig mittelmäßig ausgestatten Liberalismus schwimmen“, wie Manny Farber polemisierte, um hinzuzufügen, sie würden „die Kunst und Literatur als Flucht aus ihrer jüdischen Marginalität benutzten“. Dies war, das soll man nicht vergessen, die Sprache der Zeit. Zu den auf diese Weise attackierten Künstlern gehörten Jazz-Musiker wie Stan Getz und Dave Brubeck, Theaterleute wie Elia Kazan, Filmregisseure wie Sidney Lumet und Martin Ritt. Und Arthur Penn, der seine ersten Regie-Erfahrungen im neuen Medium, dem Life-Fernsehen sammelte. In diesem Jahr dreht er seinen ersten Kinofilm, wie viele seiner Arbeiten das Remake eines TV-Stücks.

Arthur Penn, der Sohn eines Uhrmachers in eher prekären ökonomischen und familiären Verhältnissen, teilte mit seinen Mit-Attackierten die Lebenserfahrungen: Aufwachsen in Familien, die auf der Flucht vor den Nazis in die USA gelangt waren, und denen der Holocaust traumatisch eingeschrieben war; die desillusionierenden Erfahrungen eines Krieges, der furchtbare Bilder hinterließ – viele davon tauchen in Arthur Penns späteren Filmen mehr oder weniger verschlüsselt wieder auf. Es gab die zerbrechenden Familien in den Überlebenskämpfen nach der Flucht, eine Hassliebe gegenüber dem Land, das neue Heimat werden sollte, und das sich zugleich abweisend zeigte. Es gab die entweder ökonomisch oder moralisch scheiternden Väter. Und es gab die soziale Heimatlosigkeit in einer Umgebung, in der der weiße angelsächsische, protestantische Mainstream Juden und Schwarze, die moderne Kunst und jede Form der Kritik als unamerikanisch ablehnte. Zu dem, was man in dieser Generation als Künstler lernte, gehörte es, den Status als Außenseiter zu akzeptieren.

Arthur Penns frühe Filme waren genau das, worüber sich das „gute Amerika“ aufregte: Ein freudianisch durchtränkter Kunst-Western, The Left Handed Gun (1958), eine so exaltierte wie mitfühlende Studie über die taubblinde Helen Keller in The Miracle Worker (1962) und eine Kafka-Variation in der Welt von Autowracks und Müllhalden: Mickey One (1965), versetzt mit der ebenso coolen wie aufsässigen Musik von Stan Getz. Und dann eine bittere Anklage gegen Rassismus und Gewalt in der Provinz, The Chase (1966). Film war für Penn immer eine Gelegenheit, aktuelle Bilder in einen fiktionalen Zusammenhang zu bringen. Die Dreharbeiten zu The Chase begannen eine Woche nach der Ermordung von Präsident Kennedy in Texas, und die Ermordung des von Robert Redford gespielten Außenseiter Bubber Reeves vor der Tür des Sheriffs erscheint nicht zufällig auf ganz ähnliche Weise wie die Ermordung von Lee Harvey Oswald durch Jack Ruby. Für den konservativen Amerikaner und seine Medien war Arthur Penn ein rotes Tuch, für die Kinokassen Gift.

Aber dann kam, 1967, Bonnie & Clyde, und mit diesem einen Film erlangte der Regisseur zur rechten Zeit Kultstatus, wenn auch nicht unbedingt bei eingefleischten Cineasten. Er hatte den Zeitgeist getroffen, gerade weil er dabei noch einmal heftige und wütende Kritik provozierte. Man nannte ihn einen amoralischen Regisseur, der sein Gangsterpaar mit dem Glamour einer Modezeitschrift ausstaffiere, sie mit ihren Pistolen wie spielende Kinder zeige und dem ganzen frivolen Spielen, einschließlich eines schrecklich schönen „Todesballetts“ am Ende, das Kunst-Mäntelchen der Nouvelle Vague umhänge. Aber diesmal war der Erfolg auch von der missmutigen Kritik nicht mehr zu vereiteln, die Penn neben des unamerikanischen Verhaltens auch noch der Gewaltverherrlichung zieh, was, nebenbei gesagt, auch auf der linken und liberalen Seite nicht durchweg ausblieb.

Bonnie & Clyde wurde zu einem Kultfilm und Auslöser einer ganzen Welle von rebellischen Filmen. Man konnte dabei leicht übersehen, dass durch den radical chic und die neuen Formen von Inszenierung und Montage auch eine ungewohnt präzise Darstellung der ruinösen Bankenpolitik im Westen der USA in den Depressionszeiten zu sehen war, eine Reflexion über die Macht der Medien, eine psychoanalytisch wie soziologisch unterfütterte Analyse der Gewalt: Das Gangsterpaar vermittelt zugleich Rebellion und Opfer, es schafft seine eigene Legende und ist als Sündenbock der Politik eine willkommene Ablenkung der Öffentlichkeit. Nicht nur die unschuldig brutale Geste der bewaffnete Kinder, sondern auch die brutale Überreaktion des Staates, die Hetzjagd der Medien, das Aufgebot an Spitzeln und Jägern erinnern an die sechziger Jahre und den Aufstand der ungehorsamen Jugend.

Deshalb ist Alice´s Restaurant (1969), der gleichsam eine Geschichte zu einem Song erzählt, auch als ein Gegenstück zu sehen: Die Gesellschaft benötigt gar nicht mehr den gewalttätigen Gangster; der friedfertige, aber eigensinnige Hippie reicht ihr als Feindbild schon aus. Beide, der Terrorist wie der Hippie, haben am Ende keine Chance. Sie scheitern an der Gesellschaft, und sie scheitern an sich selbst. Unübersehbar ist der Pessimismus in diesen Filmen, der in den kommenden Arbeiten von Arthur Penn noch eher zunehmen wird.

Little Big Man (1970) verfolgt dieses Scheitern bis zurück in den amerikanischen Gründungsmythos. Dustin Hoffman als buchstäblich kleiner Mann zwischen den Kulturen von weiß und rot, erlebt die Geschichte dieses Landes als wahrhaft gnadenloses Fortschreiten der ökonomisch-militärischen Interessen, und sein einziges Überlebensglück ist es, dass er zwischen den Kulturen von Weißen und Indianern wechseln kann, so wie der Hippie zwischen Bürgertum und Gegenkultur. Zur Zärtlichkeit des Blicks gehört es im Übrigen, dass Penn die Kultur der Indianer nie zum Mythos edler Wildheit missbraucht.

Nach diesem großen Anti-Western war es mit dem Karriereglück des Regisseurs Arthur Penn auch schon wieder vorbei. Als seine Filme eher noch düsterer, zerrissener und verzweifelter wurden, gelangen ihm immerhin noch zwei Achtungserfolge mit dem film noir-inspirierten Detektivfilm Night Moves (1975) und dem surrealistischen Spätwestern Missouri Breaks (1976). Sein Kult-Status und seine Stars retteten die Filme vor der totalen ökonomischen und kritischen Niederlage, und zumindest Night Moves wurde von späteren Generationen wieder entdeckt als einer der großartigsten Genre-Revisionen des amerikanischen Kinos.

In den achtziger Jahren allerdings hatte sich das allgemeine Klima schon wieder so geändert, dass Arthur Penns kritischer, eigenwilliger und moderner Stil nicht mehr gefragt war, und er selber schien nicht mehr die Kraft zur radikalen Dissidenz zu haben. Filme wie Target (1985) oder Dead of Winter (1987) verraten einen eher lässigen Umgang mit den Genreregeln, fast ohne die vordem so faszinierenden Brüche.

Wie sieht Arthur Penns Projekt der Moderne im Kino aus? Die dialektische Grundsituation der Penn-Filme ist die Konfrontation einer bürgerlich-geordneten mit einer anarchisch-freien Lebensweise. Sie vollzieht sich einerseits als wahrhaft monströser Gewaltakt, geht aber andrerseits auch als Bruch durch die einzelnen Charaktere: der Hippie mit der Sehnsucht nach der bürgerlichen Familie auf der einen Seite, der „gute Bürger“, der nach einer Gelegenheit zur Befreiung giert auf der anderen. Auch daher rührt in Penns Filmen ein für die achtziger Jahre schon wieder unerträgliches Interesse für das Scheitern: Es herrscht ein eigentümlicher Dilettantismus bei seinen Outlaws wie bei seinen Bürgern. Pferdediebe, Detektive, Gangster und Soldaten sind bei Penn darin vereint, dass sie nichts zustande bringen. „I Didn´t Solve Anything“, erkennt der Detektiv Moseby am Ende von Night Moves.

Dieser dialektische Held zwischen rebellischem Aufbruch und der Sehnsucht nach bürgerlicher Geborgenheit kann sich nicht mehr als „ganz“ empfinden, und deshalb gibt es in Arthur Penns Filmen auch immer wieder Verstöße gegen Story-Logik. Seine Helden sind aber auch in einem Psychodrama gefangen, das wir aus der modernen Literatur kennen: Der vaterlose Mensch auf der Flucht vor und der Suche nach dem väterlichen Imago. Penns Helden sind, da schließt sich dann wieder der Kreis von Geschichte und Psyche, eben jene Versager, die sie in den Augen der Väter gleichsam von Beginn an waren, und mit jeder „Abweichung“ (ein Lieblingswort des Regisseurs) werden sie es mehr.

So handeln Arthur Penns Filme von neurotischen Kindern in einer kranken Gesellschaft; sogar die „alten Männer“ in seinen Filmen, der Gene Hackman von Night Moves und Target und der Marlon Brando von Missouri Breaks sind nie wirklich erwachsen geworden, ganz zu schweigen vom hundertjährigen Erzähler in Little Big Man. Die Kindlichkeit der Helden verbietet den Blick zurück, ihre Neurose den nach vorn. Was bleibt, ist Gegenwärtigkeit.

Penns Helden sind außerstande, die Tragweite ihres Handelns zu übersehen, auch darin den Helden der modernen Literatur verwandter als denen der traditionellen Kino-Genres. Und wie sie, so sehen auch wir beim Zuschauen nie „the whole picture“, dafür wird um so mehr die Sensibilität für das Detail erhöht. Sichtbar wird, paradoxerweise, der Bruch der Wahrnehmung. Wir sehen in Penns Filmen besonders deutlich, was uns am Sehen hindert: das Licht, das uns blendet; die Fensterscheibe, die nur einen begrenzten Blick freigibt, die körperliche Behinderung, das gewaltsame Verstellen des Blicks.

Auf der anderen Seite aber sind es auch die fundamentalen Gefühle, die das Bild verzerren: die maßlose Trauer, der Zorn, aber auch Selbstüberschätzung und Anmaßung. Und schließlich sind es die Medien, die den Blick verändern, nicht nur Fotografien und Film, sondern ganz direkt auch die Bildmaschinen des Alltags. Bei Arthur Penn ist ein Blick in den Spiegel kein symbolischer Akt, sondern eine sehr konkrete Frage an die Selbstwahrnehmung, das Bild täuscht gerade durch seine Ähnlichkeit.

In vielen Filmen von Arthur Penn spielen Filme oder das Filmemachen eine bedeutende Rolle. Für Harry Moseby und den Stuntman in Night Moves ist zum Beispiel die Erkenntnis der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, dass sie die selben Filme gesehen haben, während umgekehrt nichts Harrys Entfremdung von seiner Frau deutlicher beschreibt als die Tatsache, dass sie Filme von Eric Rohmer liebt, die ihm erscheinen, „wie wenn man Farbe beim Trocknen zusieht“. Das ist so hübsch gesagt, man könnte es ebenso als Kompliment auffassen, und zeigt noch einmal auf, worum es Penns Filmen immer auch geht: die Zeit.

In Bonnie & Clyde ist eine der ersten Fragen Clydes an Bonnie, ob sie ein Filmstar sei, und das ist nicht nur eine Schmeichelei, genau das ist es, was sie in der einen oder anderen Form sein möchte. Wie man von außen identifiziert wird, und wie man sich als Subjekt sieht: Arthur Penns Filme behandeln die dialektische Beziehung von Kommunikation und Einsamkeit des modernen Menschen. Um „jemand zu werden“, muss er außer sich sein, er muss seine eigene Legende werden, wie Bonnie & Clyde, wie Billy the Kid in The Left Handed Gun. Die Wahrnehmung von außen beinhaltet aber auch immer schon die Kränkung; Penns zweifelhafte Helden sehen gern und sie sehen genau, aber sie werden nicht gern angesehen und sie versuchen, sich dem Blick zu entziehen oder ihn zu täuschen. Es ist diese beschränkte Wahrnehmung, die Begegnung von Blendung und Neurose, welche die eruptive, infantile Gewalt auslöst, deren Ur-Bilder in der Zerstörung liegen, die etwa Billy the Kid – nie wissend um eine Grenze zwischen Spiel und Realität – anrichtet.

Ohne dass er explizit politisch argumentierende Filme machte, wurde Arthur Penn einer der bedeutendsten Regisseure für die antiautoritäre Bewegung. Seine Filme beeinflussten die Haltung der kritischen Intelligenz in den USA gegen den Krieg, das Establishment, die Lügen des ökonomisch-politischen Komplexes. Sie beeinflussten die Stubenhocker wie die Straßenkämpfer der Zeit nach 68. Aber sie taten es nicht nur durch das, was sie erzählten, sondern auch dadurch, wie sie es taten. Als große Bilderzählungen über den Zweifel an der Bilderzählung.

Autor: Georg Seesslen