Sechs Arten Fellini zu verehren

felliniNun ist sie also da, die „große“ Fellini-Biografie; Tullio Kezich, der mit dem Regisseur lange verbunden ist, bietet vermutlich als Autor die beste Garantie dafür, dass sie alles enthält, was gesagt werden kann, aber nicht viel mehr. Der Filmkritiker und Dramaturg aus Triest ist bei seiner umfänglichen Beschreibung den Weg einer gefährlichen, aber spannenden Gratwanderung gegangen: Distanz und Nähe, Ironie und Bewunderung, Mythenbildung und Mythenzerstörung halten sich nie die Waage. Eine „ausgewogene“ Biografie hätte Fellini auch wahrlich nicht verdient. Das Buch steckt so voller Details und genauer Beobachtungen, dass sich manches nicht jedem erschließen wird, aber das ist in dieser Fülle auch vollständig richtig. Der jahrelange Mitarbeiter des Regisseurs versucht, uns den Menschen Fellini näherzubringen, die Filme eines Menschen zu verstehen, der in all seinen Schwächen und Stärken erkannt wird (im übrigen ist es eine der Stärken Fellinis, seine Schwächen nicht allzusehr zu verbergen: er ist gewissermaßen ein geborener Gegenstand für Biografen).

WERK UND LEBEN. Abgesehen davon, daß kaum etwas so spannend ist, wie Einzelheiten, vielleicht sogar banale Einzelheiten aus dem Leben eines Menschen zu erfahren, der in einer besonderen Art bedeutsamer ist als man selbst, bleibt die Methodik der Künstler-Biografie, der wechselseitigen Erklärung von Leben und Werk, immer ein wenig zwiespältig. Die vier Formen der Fellini-Verehrung, die 1985 auf dem „Seminario Internacional Federico Fellini“ in Sevilla von den Teilnehmern definiert wurden (und denen ich mindestens zwei weitere hinzufügen möchte), werden ganz sicher auch einen jeweils anderen Zugang zum autobiografischen Aspekt in Fellinis Arbeit haben:

Die „Fellinisanten“, die große Masse der Bewunderer und Liebhaber der Fellini-Filme (und was sich sonst publizistisch darum herum bewegt), genießen die Stilisierungen des Regisseurs, das ganze Lügengewebe, das Fellini selbst und viele seiner Apologeten geschaffen haben, nehmen Korrekturen amüsiert zur Kenntnis, stellen aber nichts grundsätzlich in Frage. Die „Fellinianer“, das ist der nicht allzu kleine Kreis von Menschen, denen die eine oder andere Rolle bei der Arbeit und damit auch im Leben Fellinis zukam und die somit zum Teil des Fellini-Mythos oder der Fellini-Clownerie wurden, wissen immer alles am genauesten, aber sie wissen nicht genau, was es zu wissen geben soll. So ist ihre bevorzugte Ausdrucksweise der Fellini-Mythologie gegenüber bedeutendes Schweigen oder Schwadronieren, Gaukelei und Lüge.

„Fellinisten“ dagegen, Kritiker, Wissenschaftler, Studenten, Film-Aficionados, kennen die Wahrheit aus dem Werk des Regisseurs, das sie nach allen Richtungen hin vermessen haben, und empfinden die Kindereien aus dem Fellinianer-Clan gelegentlich als arg effekthascherisch.

Demgegenüber stehen die „Fellinologen“, die den Regisseur, den Menschen und seine Arbeit, zum Gegenstand grenzenloser wissenschaftlicher und mythologischer Durchforschung und zumeist ebenso grenzenloser Verehrung gemacht haben.

Ich für mein Teil würde noch die Felliniasten anführen, deren größtes Vergnügen es ist, die Welt, mit oder ohne Fellini, „wie in einem Fellini-Film“ zu sehen, sowie die Felliniden, die ganz einfach versuchen, über das „Verstehen“ und die Imitation selbst ein Stück Fellini, als Arbeit oder Leben, zu verwirklichen: Felliniden erkennt man an ihrer Kleidung, an ihren Gesten und, vor allem, an ihrer Sprache. Natürlich fordern sie für sich einen ebenso freizügigen Umgang mit der eigenen Biografie wie das Original.

Kezich schreibt, nach eigenem Bekunden, als „Fellinist, der einmal beinahe Fellinianer geworden wäre und der jetzt versucht, sich zum Fellinologen zu erheben“; gelesen hat dieser Rezensent das Buch als Felliniast, der sich von der Notwendigkeit der Fellinologie überzeugen lassen will.

Die Notwendigkeit der Fellinologie ergibt sich aus den Aufgaben der Filmgeschichte; die Versuchung, „Fellini“ als Parallelkosmos zu erleben, ist übermächtig: Wenn von Fellini die Rede ist, dann ist meistens nur von ihm die Rede, und die reichhaltige Fellinianer- und Fellinisten-Literatur sucht keine Vergleiche, keine Beziehungen, keine Dialoge, sondern die Perfektion einer mythischen Welt, in der man nach Art eines fleißigen Müßiggängers lebt, also vollständige Identität von Denken, Leben, Arbeit, Liebe, Freundschaft und Phantasie. Fellinologie ist daher die Verteidigung der Fellini-Filme gegen alle Arten von fundamentalistischem Fellinismus: Fellini-Filme haben gewiss vor allem mit Fellini und mit „Fellini“ zu tun, aber auch mit Historie, Ökonomie, Kultur und Filmgeschichte. Die Arbeit beginnt also damit, die Einheit von Leben und Werk als Funktion darzustellen, die sich nicht nur glauben, sondern auch beschreiben lässt.

JUGEND UND FLUCHTEN. Über seine Kindheit hat Fellini, der am 20. Januar 1920 in Rimini geboren wurde, stets am meisten geflunkert. Er hat sich immer rebellischer, außergewöhnlicher, auch gepeinigter von Familie und Schule gemacht, als er gewesen sein muß, ganz so, als wollte er sich eine klassische Künstler-Biografie geben, in der die Kunst eine Geste aus Widerstand, Leid und Flucht ist. Sortiert man, wie Kezich es tut, sorgfältig die Details dieser Flunkerei, so wird ihre Technik deutlich: Sie besteht nicht so sehr aus dem Erfinden als aus dem Sammeln. Dabei scheut sich Fellini nicht, Erfahrungen seines Bruders Riccardo als die seinen auszugeben, den Familienroman nach Gutdünken umzuformulieren oder aus einem Besuch im Zirkus eine abenteuerliche Fluchtgeschichte zu zimmern. So hat es Fellini stets verstanden, um sich herum eine Welt zu schaffen, die ihn im Zentrum zu definieren scheint und ihm zugleich die perfekte Tarnung verleiht. Selbst die „große“ Flucht von Rimini nach Rom gestaltet sich offensichtlich nicht ganz so heroisch, wie es der Mythos will; die Ablösung von der Familie geschah eher in Etappen, und stets fand oder schuf er einen Kreis um sich.

Dieses biografische Detail soll keineswegs die Legenden „entlarven“ (dazu ging Fellini noch stets zu frivol und selbstironisch damit um), sondern vielmehr die Beziehung Fellinis zu seiner Umwelt klären; er ist das Gegenteil eines Rebellen, Außenseiters oder Eigenbrötlers, und seine „Privatmythologie“, in der es feste, immer wiederkehrende Gestalten und Situationen gibt, entstand aus gleichsam eingefrorener Beobachtung. Er hat seine Filme immer aus den Herzen der anderen gesprochen, auch wenn die es nicht merkten. Und die Aufnahmebereitschaft dieses Menschen ist groß genug, um vergleichsweise früh „satt“ zu sein, angesichts dessen, was sich in der Biografie oder in der Geschichte als „Katastrophe“ zeigen müsste: Die Welt von Fellini besteht aus Kleinigkeiten, die Welt ist ein Körper, der angesehen wird, und die Nebenwelten, Zirkus, Variete, Bordell oder Cafe, öffnen und schließen sich, die Gesellschaft ist in endlosen Abfolgen von Vorgängen der Geburt, der Ausscheidung, des Todes gefangen. Wir verstehen vielleicht nun eher, warum es zu dieser Ausbildung einer Fellini-Mythologie und eines felliniastischen Biotops kommen musste: Fellinis kindlicher Blick auf die Welt, die Körper und Gesichter einerseits, die Masken und Gesten andererseits, ist eine große Frechheit.

Aber Fellinis Selbstdarstellung im Mythos hat noch eine andere Komponente. Er versucht, alles in einem Bild darzustellen, und jedes dieser Bilder ist zugleich eine Art Geburt. So gibt es von ihm das Bild seiner „Geburt“ als Regisseur beim ersten Drehtag zu LO SCEICCO BIANCO, in dem sich ein völlig mit den Nerven fertiger, ängstlicher Debütant im Verlauf einiger Stunden in den selbstsicheren Diktator auf dem Set verwandelt. Freilich, Fellini hat ja schon vorher Regie geführt, nicht bloß zusammen mit Lattuada bei LUCI DEL VARIETÀ, sondern auch schon vorher, aushilfsweise, doch ohne Hilfe. Aber Fellini kann keine langwierigen Prozesse und Entwicklungen darstellen, weder im Leben noch im Film, und daher ist so ein Bild nicht nur eine weitere kleine Flunkerei, sondern auch eine Übersetzung in eine Sprache, die im übrigen stets eine journalistische bleibt: Der direkteste Weg vom Blick in die Sprache verlangt dem Bild ab, im Augenblick alles zu erklären (genauso funktionieren Fellinis Film-Bilder).

JOURNALISMUS. Die Fellini-Welt des Films besteht aus gegenläufigen Bewegungen von Demontage und Rekonstruktion. Ihre erste Form hat sie in Fellinis journalistischer Arbeit in den vierziger Jahren, nach Anfängen als Texter und Zeichner von Karikaturen, vor allem für seine Skizzen und Rubriken in der Zeitschrift „Marc‘ Aurelio“ gefunden, in denen die meisten der späteren Film-Motive in der einen oder anderen Form schon vorbereitet sind. Bedeutender noch ist vielleicht die journalistische Methode, das direkt episodische Übersetzen von Gesehenem und Erlebtem, die Fellini in der faschistischen Zeit als ein journalistisches Genre pflegte, das es so nicht mehr gibt, die Alltagsbetrachtung, Satire und Tagtraum miteinander verbindet (und ein Refugium des „Apolitischen“ schafft, das auch eine Flunkerei ist). In einer dieser Rubriken erfindet Fellini ein junges Ehepaar, das einerseits ganz alltägliche Probleme zu bewältigen hat, andererseits aber oft auch in einigermaßen surrealen Situationen gezeigt wird. Dieses Paar ließ Fellini auch in einer Reihe von Radio-Sendungen auftreten, in denen er im übrigen oft den „Autor“ selbst sprechen ließ. Biografisch gesprochen ist die Heldin eine Abbildung der ersten Geliebten ebenso wie die Vorwegnahme von Giulietta Masina, Fellinis Frau. Mir scheint im übrigen dieses Paar auf sonderbare Weise keusch, vielleicht auch nur ängstlich oder unbeholfen in Liebesdingen, was gewiss weniger mit Zensur zu tun hat (an anderen Stellen konnte Fellini auch recht derb sein) als mit einer besonderen erotischen Mythologie, der wir später immer wieder begegnen werden. Dieses Ehepaar schien Sexualität und Liebe noch nicht zusammenzubekommen.

Fellinis Journalismus ist einer der Erfindung (und so ist es nur folgerichtig, daß er für das von Cesare Zavattini initiierte Projekt L’AMORE IN CITTÀ eine „vorgetäuschte wahre“ Geschichte erzählt, bei der er vielleicht sogar den Vorgang der Recherche, ein verdecktes Ermitteln in einem Heiratsbüro, erfunden hat, um Zavattini bei Laune zu halten. Journalist sein heißt für ihn nur, in der Stadt unterwegs zu sein, Gesichter zu lesen und dazu passende Geschichten zu erfinden: „Die Wirklichkeit ist ein Märchen“ (und umgekehrt). In seinen kleinen journalistischen Arbeiten tauchen immer wieder die Variete-Künstler des Avanspettacolo, des vor dem Film gebotenen Programms von Komik, Tanz und Travestie, auf, deren Stars er eine Portrait-Reihe widmet, eine fellinische Mischung aus Erfindung und Beobachtung. Dieser untergehenden Welt des Avanspettacolo ist sein erster Film als (Ko-)Regisseur, LUCI DEL VARIETÀ, gewidmet, Erinnerungen daran tauchen immer wieder auf. Die Faszination geht auch hier von den Gesichtern aus; ganz direkt sind diese Gesichter darauf gerichtet, das Publikum zu verführen, was nicht gelingen will. Aber sie sprechen auch, wie später alle Figuren in Fellinis Filmen, von der Mythomanie Italiens, die gerade im Untergang der volkstümlichen Kulturen im Zeichen der Industrialisierung zunimmt. Die großen Mythen zerplatzen in tausend kleine, und die zerplatzen noch einmal im Kopf des Zuschauers zu noch kleineren.

LEUTE-ANSCHAUEN. Fellini kommt als Journalist zum Film, der gewohnt ist, schnell, improvisiert, im Team und unter den verrücktesten Umständen zu arbeiten. Er lernt die „Musterung von Gesichtern“ als wesentlichen Teil der Filmproduktion kennen, und vielleicht ist eine Musterung von Männern und Frauen jeden Alters bei den Vorbereitungen zu Pietro Germis IL CAMMINO DELLA SPERANZA ein Modell für Fellinis spätere Veranstaltungen, bei denen er nichts anderes tat, als tagelang Leute anzuschauen, die in der Hoffnung auf eine Rolle in seinem Film sich in seinem Büro präsentierten. Diese Veranstaltung, eine nette Ungeheuerlichkeit, ist ohne den Mythos Fellini nicht zu denken; er schützt seinen Blick, der nicht nur einer künstlerischen Methode entspricht. Fellinis „Typen“ sind Karikaturen – er hat sich ja einmal als Schnell-Portraitist versucht; in den Gesichtern, die er auf die Leinwand bringt, geht es um das Wesentliche, und dieses Wesentliche des karikierten Gesichtes muss ja stets die signifikante Abweichung sein, was man, in anderem Kontext, auch als Hässlichkeit beschreibt – aber Karikaturen (das macht dann doch die Humanität seiner Kunst aus), die leben wollen und können, denen überraschenderweise stets eine große Würde zukommt. Denn diese Menschen, deren unvergleichliche Ausstrahlung, wenn man so will, ihre kindliche Dummheit auch, den Regisseur faszinieren, gehören zu dem, wovon Fellinis Filme der fünfziger und sechziger Jahre Abschied nehmen, dem alten Italien, der Kindheit, der Familie. Gegen diese Karikaturen des alten setzt Fellini seine neuen, bürgerlichen Helden, deren Gesichter ausgeglichener, erfolgversprechender sein mögen, auch weil es in ihnen so viel Unwesentliches gibt, auch weil sie mehr in Bewegung sind. So ist Fellini dann auch nicht nur der hemmungslose Voyeur, der auch noch seine Macht genießt, sondern auch ein Archäologe der Gesichter und Körper.

Unentbehrlich wurde Fellini in den späten vierziger Jahren, weil er als improvisierender Reparateur von Drehbüchern jede beliebige Geschichte auf jeden beliebigen unvorhergesehenen Zwischenfall umschreiben konnte, vom gebrochenen Bein des Hauptdarstellers bis zu dramatischem Wetterwechsel. Schon hier gehört es zu seinen Techniken, die Geschichte kurzerhand in Episoden zu zerlegen, die man locker miteinander verknüpft, und es zeigt den geringen Wert, den er der Autorität der Geschichte beimisst: Fellini flunkert im Kino genauso wie in Bezug auf seine Person; und so ergibt erst die Zusammenarbeit mit Tullio Pinelli jene ersten Fellini-Filme, in denen das Geflunkerte mit poetischem Ernst verbunden ist. Bis zu GIULIETTA DEGLI SPIRITI hat Pinelli an allen Fellini-Filmen mitgearbeitet; der Bruch danach ist radikaler als andere Brüche in der Fellini Welt; das Leute-Schauen und die Selbstsuche werden nun bedeutender als die erzählerische Struktur. Pinelli bleibt in der Fellini-Welt, schreibt Drehbücher für Giulietta Masina und ist in GINGER & FRED, dem ersten Film, den Fellini nach GIULIETTA DEGLI SPIRITI wieder mit seiner Frau dreht, wieder dabei. Wir lernen, die Fellini Welt in die Elemente von „Fellini und …“ zu strukturieren. „Fellini und Pinelli“, das ist die Aufrichtigkeit in der Lügenwelt des Leute-Schauens.

Zwischen dem Drehbuch-Schreiben und dem Regie-Führen liegt das Auskundschaften der Welt im Dienst der Kino-Maschine: Fellini sucht Drehorte, wählt Prostituierte als Komparsinen aus, lernt, von Germi und Lattuada etwa, die Rolle des Diktators auf dem Set, der mit seiner Kamera zwischen die Menschen fahren kann, das Leute-Schauen nun in Bewegung, mit Trillerpfeife und Megaphon diese Leute aufzuscheuchen und zu gruppieren.

GIULIETTA. Giulietta, Cabiria, die kleine, sanfte Hure, die eigentlich ein Mädchen ist, das seinen Zauber nicht einmal in der Ehe ganz verlieren kann, taucht immer wieder in Fellinis Kurzgeschichten und Zeichnungen auf. Im Film wird sie von Giulietta Masina zum erstenmal in Lattuadas SENZA PIETÀ gespielt, dann in LO SCEICCO BIANCO und LE NOTTI DI CABIRIA, aber sie ist in dieser Rolle eigentlich keine Fellini-Erfindung, sondern eine des italienischen Geschmacks. Die Beziehung zwischen Federico Fellini und Giulietta Masina war immer auch eine mythische; sie ist das Gegenbild zu der mit Angstlust besetzten großbrüstigen, mediterranen, wilden Fellini-Frau, die immer aus den Augen eines Jungen gesehen scheint, und das Versprechen einer Vernünftigkeit, bürgerlichen Geborgenheit, künstlerischen Partnerschaft.

DIE STADT. In Germis LA CITTÀ SI DIFENDE kommt zum erstenmal die fellinische Welt einer Stadt aus einzelnen Räumen zum Vorschein, denen bestimmte körperliche und sinnliche Eigenschaften zugeordnet sind. Aus diesen Räumen wird man stets in die Nacht hinauseilen (so hat Fellini die Stadt erlebt, aber so zeigt sie sich, einmal mehr, auch als Körper spürbar), sie durchstreifen: Fellini und seine Helden leben in einer merkwürdigen Mischung aus Chaos und fixen Gewohnheiten. Jeder Raum wird zugleich Bühne. Und jede Bühne ist irgendwo auch ein Wohnzimmer.

Fellini gehört zu den wenigen Menschen, die sich eine (und nur eine) Stadt zur Heimat machen; in vielen seiner Filme erzählt er von seinem Rom wie von einer Frau. Das Weibliche der Architektur (und das Architektonische des Weiblichen, nebenbei) läßt darin nur das Fest zu, und wenn Federico Fellini auch niemals in Gefahr war, einer der Vitelloni zu werden, die das Leben in der Provinz so zukunftslos machten, so sind seine Bewegungen in dieser Stadt doch auch alles andere als „Arbeit“. Die Herstellung von Texten und Filmen ist ein Fest (und wie alle Feste ist es auch Kampf, bei dem es Gewinner und Verlierer gibt).

Aber es gibt stets auch die Geste der Rückkehr, die Heimkehr nach Rimini, 1965 „wirklich“ unternommen, beim Tod des Vaters, im Konzept des Filmes „Viaggio con Anita“, den Kezich einen schamhaft an eine falsche Adresse gerichteten Liebesbrief nennt, und in AMARCORD später. Auch diese Kindheits- und Erinnerungsstücke gibt es schon in den journalistischen Arbeiten Fellinis; der Weg von Rimini nach Rom markiert eine mythische Reise, die für das Leben und Wachsen, die Geschichte Italiens, die Wandlung der Kultur steht. Aber diese Bewegung ist nicht einfach und linear; Rom, zum Beispiel, ist nicht nur die neue Mutter, sondern auch die viel ältere, umfassendere, und Rimini ist nicht nur Provinz, sondern gehört auch dem avancierteren Norden an: Die Reise nach Rom führt nach vorn und zurück gleichermaßen, bis in Höhlen darunter, wo man in archaischer Polyphonie der Begierden das SATYRICON gibt.

TRAUM. Wenn Fellinis Filme bis LA DOLCE VITA „Abschiedsfilme“ sind (gewissermaßen Mutter-Filme), so wird ein großer Teil seiner folgenden Filme von der Begegnung mit dem Jung-Schüler Ernst Bernhard geprägt, der für ihn ein „Vater im wahren Sinne“ wird. Und wie über „Mutter“ endlos gelogen und mythisiert wird, so wird nun über „Vater“ ernst und beharrlich – allerdings nicht auf ewig – geschwiegen. Bernhard, der sich zur Zeit der Dreharbeiten von GIULIETTA DEGLI SPIRITI das Leben nimmt, hat Fellini gelehrt, den Traum als Instrument des Lebens zu benutzen, und seine Filme werden zu Träumen, die eine schöpferische, verantwortliche, freilich gelegentlich auch erschrockene Person „inszeniert“. Während die Mutter (das Weibliche) in den „Abschiedsfilmen“ allmählich ersetzt und verallgemeinert wurde, steht dem Vater (dem Männlichen), der nach strenger Erforschung und Dokumentation des Traumes und nach Selbstprüfung verlangt, das Schicksal des Verblassens bevor. So wie sein „geheimes“ Traumtagebuch (das wie nichts bei Fellini wirklich geheim bleiben konnte) ganz allmählich seltener geführt wird (um offensichtlich im Jahr 1984 zu enden), kehren in seine Filme Erinnerungen, das sanfte Licht, die Verallgemeinerung zurück. Wirklich abgeschlossen ist der Prozess vielleicht erst, als Giulietta Masina wieder auftritt. So ist sein spätes Werk das, was Tullio Kezich „das weltumspannende Spettacolo“ nennt, die endliche Vereinigung beider Prinzipien, und zugleich der Beginn eines langen, letzten Abschiedes.

Wenn ich dieses Modell aus Kezichs Materialfülle entwickele, so nur, weil es das Allgemeine betrifft, die Lebensgeschichte vieler Menschen, die den Vor- oder Nachteil haben, keine Filme zu drehen. Die mehr oder minder behutsame Annäherung an den Mythos bringt dabei gewiss nichts anderes als einen neuen Mythos hervor. Noch näher (wie es Kezich in einigen Momenten tut) will ich Fellini nicht treten, schon weil ich der Fellinologie nicht gestatten will, meinen Felliniasmus zu zerstören. Und im übrigen bin ich Fellinide genug, auch dies zur Flunkerei zu erklären, eine Flunkerei mit der ernsten Absicht, um mit Tullio Kezichs Schlusswort zu sprechen, „einen Augenblick die Illusion zu genießen, vom Leben der Kunst zur Kunst des Lebens zu gelangen“.

Autor: Georg Seeßlen