Das pragmatische Fantasiekino des Terry Gilliam

Amerika, das ist das Abgespaltene eines alten, teils verträumten, teils reaktionären Europas, und Europa, das ist das Verlorene einer teils pragmatischen und teils bigotten amerikanischen Gesellschaft. Reisen hin und herüber sind etwas seltsam Romantisches, nicht ins Fremde und nicht ins Vertraute, sondern ins verführerisch Missverständliche. Ohne Gelächter und ohne Gespenster geht das selten ab, von Mark Twain von dieser und Oscar Wilde von jener Seite wissen wir’s, vom American in Paris wie von den Versuchen der John-Ford-Helden, im Monument Valley ihr verlorenes Irland wieder zu finden. Europäer, die ins Amerikanische verknallt sind, Amerikaner in love mit allem Europäischen – das ist ein sehr lebendiger Gespenster-Transfer zwischen den Kulturen, die aneinander auch verrückt werden können.

Terry Gilliam ist so ein Amerikaner, der feststeckt in seiner Liebe zur europäischen Fantasiewelt, in der sich nicht notwendig der Zauberer von Oz als Schwindler herausstellt, in der sich vielmehr hinter jedem faulen Zauber noch die wirkliche Magie verbirgt. Gilliam, der „der Amerikaner“ in der erzbritischen Komiker-Truppe Monthy Python war, steckt aber genauso gnadenlos in seinem amerikanischen Pragmatismus, in jener Form von Aufklärung fest, mit der man einst dem Gespenst von Canterville den Garaus machte. Gilliam schlägt in jedem seiner Filme eine Brücke zwischen den Kulturen, der pragmatisch-materialistischen der Neuen und der fantastisch-spirituellen der Alten Welt – und in jedem seiner Filme schaut er vergnügt oder entsetzt dabei zu, wie diese Brücke zusammenbricht.

Ursprünglich traf sich das gut: Bei den Wort- und Gesichtskomikern von Monty Python war er zuständig für die Animationssequenzen, in denen sich das Groteske der Sketche in surrealen Nonsense auflöste. Schon das sah manchmal aus, als hätte ein Märchenbuch-Illustrator bei seiner Arbeit gewisse Substanzen zu sich genommen. Gilliam steckt nämlich noch einmal fest: zwischen den Bildern und den Erzählungen.

Von Rittern und Monstern

Geboren wurde Terence Gilliam 1940 in Minneapolis, aber der Weg führte ihn schon bald in die Metropolen an den Küsten; er arbeitete als Grafiker und als Redakteur der satirischen Zeitschrift „Help“ in New York. Zu Beginn der sechziger Jahre begab er sich auf Europa-Reisen, und irgendwie ließ ihn der alte Kontinent nicht mehr los. Auch als er 1966 zurückkehrte, um als Grafiker und Werbetexter zu arbeiten, fühlte er sich „kulturell gespalten“. Schon im nächsten Jahr übersiedelte er wieder nach London („aus Liebe, und weil ich die USA satt hatte“), wo er beim „London Magazine“ als Grafiker arbeitete. Seine TV-Karriere begann 1968, als er die Zeichentrick-Sequenzen für verschiedene Comedy-Serien gestaltete, darunter Marty Feldmans Show oder „Ways of Making You Laugh“. Dann kam die Zeit mit Monty Python’s Flying Circus und die Zusammenarbeit mit Terry Jones, Michael Palin, Eric Idle und den anderen. Terry Gilliam hat das Handwerk des komischen Bildes weiß der Himmel von der Pike auf gelernt.

Die Ritter der Kokosnuss von 1975 war der erste Versuch, den Python-Humor in so etwas wie eine durchlaufende Geschichte zu übertragen; immer noch aber wurden die Realaufnahmen von Tricksequenzen unterbrochen, und natürlich war die Geschichte von König Artus nur der rote Faden für noch sehr unterschiedlich gelungene Episoden. Jabberwocky (1977), Gilliams erste alleinige Regie-Arbeit, sollte eine „Antwort“ auf die amerikanischen Monsterfilme in der Art des Weißen Hais sein, die Fortsetzung der Mittelalter-Fantasie und eine erste Exemplifizierung eines seiner späteren Leitmotive: Angst als Motor für Macht und Bereicherung. Das Monster Jammerwoch (sehr frei nach Lewis Carrols Gedicht) macht in Terry Gilliams Mittelalter alles, was schon schlimm genug ist, noch schlimmer, aber nicht schlimm genug, als dass man an den Opfern nicht auch noch verdienen könnte. Einen „Monsterfilm mit Herz“ nannte Vincent Canby damals in der „New York Times“ Gilliams Film. Das wäre durchaus ein gefälliges Programm gewesen. Das Herz aber war, so sah es die Kritik in Europa, „antikapitalistisch“. 1979 folgte jener Film, der Gilliam als den Retter der verlorenen Fantasie in der Fantasy etablierte. Time Bandits erzählt von sechs Kleinwüchsigen, die eines Nachts im Schlafzimmer des zehnjährigen Kevin landen und ihn mit durch Zeit und Raum nehmen, zu Agamemnon, Napoleon oder Robin Hood. Es war die Mischung aus Bildmächtigkeit, kindlicher Erzählfreude und erwachsener Ironie, die man fortan von Gilliam-Filmen erwarten und manchmal auch bekommen sollte.

Die Formel war eine Weiterentwicklung der Python-Ideen: Slapstick und Nonsense auf der ersten Ebene, liebevolles Design mit Anklängen an Bildkompositionen des 19. Jahrhunderts auf der zweiten Ebene und ein merkwürdiges Faible für das Durchschimmern „schmutziger“ Wirklichkeit auf der dritten. Stets versucht Gilliam in einem zentralen Punkt mit den Konventionen einen radikalen Bruch zu inszenieren: Nicht so sehr, dass die Helden von Time Bandits kleinwüchsige Männer sind, die einen Jungen mit auf ihre Freibeuter-Reisen nehmen, provoziert diesen Bruch, sondern dass ihre Mission so sympathisch selbstsüchtig ist: Gilliams Fantasy-Reich verweigert sich der pädagogischen Melodramatik.

Mit seinem nächsten Film ging Gilliam einen entscheidenden Schritt weiter. Im Wesentlichen ist Brazil eine Variante von „1984“ in Gestalt einer Groteske, und Gilliam lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart meint mit seinem Bild der bürokratisch-terroristischen Gesellschaft, in der dem Einzelnen nur das Träumen bleibt. Es ist eine Welt der düsteren Büros, der Autobahnen, die mit Reklametafeln zugestellt sind. Und für jede noch so kleine Lebensäußerung gibt es einen Verwaltungsakt, der sie begleitet: Kein Wunder, dass eine Fliege, die in eine Schreibmaschine gelangt, ausreicht, um ein persönliches Drama in einer Gesellschaft vollständiger Gleichgültigkeit zu provozieren. Das Verspielte der Time Bandits schien einem klaustrophobischen Zorn gewichen, der in Twelve Monkeys noch einmal, und diesmal sogar ohne Abweichung in die Groteske, wieder aufscheint. Unnütz zu sagen, dass Gilliam mit Brazil trotz wohlwollender Kritiken den kommerziellen Erfolg von Time Bandits nicht wiederholen konnte.

Brazil gelang es nicht einmal, die zwölf Millionen Dollar Herstellungskosten wieder einzuspielen. Zu einem richtigen Desaster indes wurde Gilliams folgende Produktion. Münchhausen schien förmlich zu zerbersten zwischen der doppelten Belastung der bis dahin teuersten Produktion in Europa (mit Hollywood-Geld) und Gilliams Anspruch, seine Motive von Traum, Schwindel und Wahn weiterzuentwickeln. Man kann wohl Time Bandits, Brazil und Münchhausen als eine Art Trilogie ansehen. Immer geht es um einen kindlichen Helden (in Münchhausen wird der Titelheld von einem Mädchen begleitet), dem die Gegenwart so schrecklich erscheinen muss, dass nur die Flucht in die Fantasie, die Kreation einer mythischen Gegenwelt, bleibt. Gilliam entwickelt dieses Thema von Film zu Film genauer, wenn man so will: erwachsener, und Münchhausen ist der melancholische Schluss zur Untersuchung über den Sieg und das Scheitern der Fantasie. Diesmal folgten nicht einmal die Kritiker Gilliams verschlungenem Pfad zwischen Aufwand und Philosophie.

Schöne Bilder, schäbige Wirklichkeit

Scheinbar vollzog Gilliam mit König der Fischer (1991) eine Kehrtwendung, schon weil er nun seine Geschichte in der amerikanischen Gegenwart ansiedelte, schon weil er diesmal mehr mit Schauspielern arbeitete als mit Masken und Bildern. Aber andererseits ist es auch nur ein Blick von der anderen Seite des Spiegels in die Mythenwelt. Jeff Bridges ist der Radiomoderator Jack, der durch seine Sprüche provoziert. Eines Tages geht er zu weit: Einer seiner Hörer richtet bei einem Amoklauf ein Blutbad in einer New Yorker Bar an, nachdem Jack behauptet hat, man solle die Yuppies aufhalten, solange es noch geht. Drei Jahre später wird er, zum Säufer heruntergekommen, von dem Obdachlosen Parry (Robin Williams) vor einer Jugendgang gerettet. Und er muss feststellen, dass Parry, einst ein renommierter Geschichtsprofessor, bei jenem Amoklauf seine Frau verlor und keinen Boden mehr unter die Füße bekommen hat. Er kämpft gegen den Roten Ritter und sucht in der Stadt den Heiligen Gral. Jack will seine Schuld wieder gutmachen und ihm beistehen. Auch König der Fischer ist eigentlich ein mittelalterlicher Mythenstoff; es ist die Parzival-Legende, der Mythos nun nicht mehr als kulissenreiche Projektion, sondern mittendrin in der erbärmlichen und sehr schmutzigen Wirklichkeit.

In König der Fischer tritt ein Motiv in den Vordergrund, das in den vorherigen Arbeiten im Hintergrund lauerte: die Schuld. Auch in Brazil geht es darum, dass der Held durch einen Fehler einen unschuldigen Menschen in Verdacht gebracht hat und beim Versuch, diesen Fehler wieder gutzumachen, erst recht in den Wahnsinn gerät. Noch verschlungener tritt das Schuld-Motiv in dem düsteren Science-Fiction- und Zeitreise-Film Twelve Monkeys hervor, einer Art Remake des legendären experimentellen Films La Jetée von Chris Marker. In der nahen Zukunft hat ein Virus die Menschheit fast vollständig dahingerafft, und Bruce Willis wird in die Vergangenheit geschickt, um den Beginn der Katastrophe zu erforschen. Eine dubiose Tierbefreiungsgruppe, eine Familiengeschichte und die Geheimnisse von Vorbestimmung und Zufall führen ihn schließlich zur eigenen, absurden Rolle im Drama. Ein reichlich schief gelaufener Prozess der Selbstschöpfung. Fear and Loathing in Las Vegas (1998) ist die Film-Wiedergabe der berühmten Drogentrip-Reportage von Hunter S. Thompson (Johnny Depp) für den „Rolling Stone“. Wieder könnte man die drei Filme als Trilogie begreifen. Wenn in der ersten die Märchenreise von den Partikeln der Wirklichkeit zersetzt wird, dann ist in diesen drei Filmen die Wirklichkeit durchlöchert von den Partikeln der Märchenreise.

Mit Brothers Grimm nun scheint Gilliam, nach einer längeren Pause, wieder bei den Motiven der ersten Filme angelangt; es ist, als würde er Jabberwocky, Time Bandits und Münchhausen so durcheinander wirbeln, wie der Plot die Grimmschen Märchen durcheinander gewirbelt hat. Zur gleichen Zeit arbeitete er aber auch schon an Tideland, den er selbst als „Mischung aus Psycho und ‚Alice im Wunderland'“ bezeichnete. Es ist das konzentrierte Gegenbild zum unterhaltsamen Märchenbild. Wieder geht es um ein Mädchen, das ohne Eltern in der amerikanischen Provinz aufwächst und für das der Horror Realität wird. „Und wie Alice findet auch unser Mädchen Schlupfwinkel in einer kollabierenden Welt“, bemerkt der Regisseur. Der Widerspruch zwischen schmutziger Wirklichkeit und Fantasiereise drückt einem schier das Herz zusammen: Jeliza-Rose will mit einem Sandwich ihren Vater aus dem Mittagsschlaf reißen, aber in Wirklichkeit ist er an einer Überdosis Heroin gestorben. Sie will und kann nicht wahrhaben, dass sie nun allein ist, und so werden aus Puppenköpfen auf ihren Fingern Freundinnen, und der tote Vater hat seine Rolle bis in die schrecklichen körperlichen Details der Verwesung in ihrem Lebenstraum.

Am Rande der Existenz

Der Tod ist immer sehr nahe in den Filmen von Terry Gilliam, hauchdicht und persönlich ist er hinter den Helden her wie in Münchhausen oder Fear and Loathing und gleich in doppelter Gestalt in Brothers Grimm (als Werwolf und Vater der Heldin im fantastischen, als sadistischer Besatzungsoffizier im realen Teil der Handlung). Die Heldenreise, der Trip, die Konstruktion der magischen Gegenwelt – ursprünglich ist es nichts als die Flucht vor dem Tod, und in Tideland hat sich der Kreis geschlossen, ist der Tod ist ganz buchstäblich zum Mittelpunkt des Märchens geworden. Die Frage ist, ob die Fantasie den Tod bezwingen kann. Man könnte jedenfalls meinen, sie überdaure ihn – wie in Brazil oder Tideland. Am Beginn von Gilliams Filmen sieht man Menschen, die am Rande ihrer Existenz stehen, die eigentlich nicht mehr weiterleben können. Sie sind leer wie Jonathan Pryce in Brazil oder Johnny Depp in Fear and Loathing, allein gelassen wie die Kinder in Time Bandits, Münchhausen oder Tideland, korrupt wie in König der Fischer oder Brothers Grimm. Die Fluchtreisen aus der unerträglichen Realität aber führen nicht zu wohlfeiler Läuterung wie in den Filmen von Gilliams Lieblingsfeind Spielberg. Sie machen alles nur komplizierter.

Die Zeit von Münchhausen wird sarkastisch genug bezeichnet: „18. Jahrhundert – Das Zeitalter der Aufklärung“. Die Aufklärung in Terry Gilliams Filmen hat nur zur Perfektionierung des Schreckens geführt, auch davon handelt Brothers Grimm. Die Kette von Wahn, Traum und Schwindel bleibt geschlossen: Gilliam widerspricht in seinen Filmen dem amerikanischen Märchen der Profanierung, The Wizard of Oz, und er dehnt das Konzept zugleich ins Kosmische aus. Was wäre, wenn wie in Time Bandits Gott selbst so ein Zauberer von Oz wäre, wenn jeder „Autor“ einer wäre, wie in Münchhausen oder Brothers Grimm, oder was wäre gar, wie in Twelve Monkeys oder Tideland, wenn jeder Mensch in seinem eigenen Leben ein solcher falscher Zauberer wäre?

Unerträglich ist die Wirklichkeit im Übrigen nicht nur, weil sie langweilig, terroristisch und schuldbeladen ist, sondern auch, weil sie nicht zu entschlüsseln ist. Gilliam bezieht sich immer wieder gern auf Kafka; wie Josef K. stehen seine Helden vor Situationen und Architekturen, die sie nicht decodieren können. Daher werden sie zu Erfindern, zu Träumern, Schwindlern und Wahnsinnigen. Weder die Schöpfer noch die Geschöpfe sind in der Lage, das komplizierte System der Schöpfung zu durchschauen oder gar zu kontrollieren. Deshalb ist es durchaus ein Segen, dass das Universum irgendwie durchlöchert ist. Fabulierer, die einen Teil Träumer, einen Teil Rationalist in sich haben, greifen zugleich in eine Erzählmaschine und einen historischen Ablauf ein. Terry Gilliam pflegt sich an dem Kuddelmuddel, das sie dabei anrichten, stets zu ergötzen, aber fast immer bricht er das Spiel ab, bevor es wirklich ernst zu werden beginnt. Viele von seinen Filmen haben den Keim zu wahren Ungeheuerlichkeiten der Bildphilosophie in sich. Aber um sie uns wirklich zuzumuten, dazu ist dieser Kerl dann doch zu menschenfreundlich. Denn Gilliam liebt seine Träumer, Schwindler und Wahnsinnige, auch wenn er sie durchschaut. Oder vielleicht gerade deswegen.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film  10/2005