Vom Sterben eines Prinzen, der sich nicht entscheiden konnte

Alles, was schön, interessant und neu ist, entsteht, indem Widersprüche aufeinander stoßen und auf eine unvorhergesehene, sublime und erhabene Weise vereinigt werden. Für den Augenblick einerseits, und für die Ewigkeit andererseits. In der Wissenschaft sind es Ideen, die als Widersprüche vereinigt werden, in der Kunst Formen, in der Geschichte Erzählungen und Interessen, und im Pop geht es, so oder so, um Widersprüche in Körpern und Bildern. Das ist so fundamental wie, gelegentlich, „oberflächlich“. Das Pop-Körperbild entsteht aus dem Widerspruch zwischen Maske und Spiegel.

Was aus Widersprüchen entsteht, ist als Spur unauslöschlich und muss als körperliche Bewegung verschwinden. Daher ist es kein Wunder, dass derjenige Mensch, dem es gelingt, Widersprüche zu vereinen, etwas fürderhin Unzerstörbares schafft, selber aber daran zerbricht. Damit, dass das „Genie“ leiden, dem Wahn oder der Verbannung anheim fallen müsse, hat das nichts zu tun. Es ist nur so, dass das Werk die Widersprüche eines Lebens, aus dem es entstanden ist, nicht wirklich lösen kann und auch die radikalste Verwandlung in der Kunst eine zeitlich befristete ist.

Wenn der Kuss den Frosch in einen Prinzen verwandelte, bleibt dem Prinzen dann die Erinnerung an seine Frosch-Haftigkeit? Wenn er mit dem entscheidenden Kuss auch die Erinnerung verliert, hat die Erzählung keinen Sinn mehr, ja, sie ist eigentlich nie erzählt worden. Wenn der Prinz aber den Frosch in sich stetig spürt, dann kann ich euch eines garantieren: Dieser Froschprinz wird nicht glücklich. Michael Jackson ist solch ein Widerspruchs-Frosch, der zu unserem Prinzen wurde, und der sich bei dem Versuch, nachhaltig Prinz zu bleiben, noch viel nachhaltiger in den Frosch zurück verwandelte.

Die unbarmherzigen Gegenwartsmedien gaben uns das als Groteske, jetzt liefern sie das tragische Lamento. Denn Michael Jackson hinterlässt ein letztes Geschenk: Er gehört offenbar zu jenen, an deren Grab wir lustvoll über uns selber weinen dürfen. Was da alles mit ihm gestorben sein soll: eine Epoche des Pop, der beste Teil meines Lebens, die Prophetie des obamistischen Amerika. Dabei steckt wie in jedem Märchen auch in diesem Grund für eine tiefere und ehrlichere Trauer. 

Das Märchen aber geht so: Aus einer inneren familiären Hölle, deren Formen von Missbrauch, Gewalt und Einsamkeit wir uns nur vorstellen können, wird der junge Michael Jackson, zusammen mit seinen Brüdern auf die Bühne gedrängt. Die „Jackson 5“ sind schon das freundlichste Angebot an den vornehmlich noch weißen Mainstream, sie machen weder politisch noch musikalisch noch sexuell irgendwie „Angst“. Zugleich aber ist ihre Botschaft, insbesondere an das neue schwarze Kleinbürgertum: Durch Können und Disziplinkannst du es zu etwas bringen. Und eben durch „Familiarität“. Die Jacksons denken, natürlich, nicht im Traum daran, ihre Blackness zu verleugnen, aber komplett mit der Übernahme von Codes der „Flower Power“ und der quicklebendigen Performance des kleinen Michael, genau zwischen black power und shoeshine boy, ergibt das, im Pop und weit darüber hinaus, einen dritten Weg.

Für Michael Jackson bleiben die beiden einzigen wahren Lebensorte, das Innen der Familienhölle in dem der monströse Vater herrscht, dem offenbar jedes Mitglied mit der Ausbildung einer eigenen Psychose antwortet, und die Bühne, auf der er Befreiung, Zuwendung und Erfahrung findet, auf tückische Weise miteinander verbunden. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben, es produziert sich gegenseitig. Das Glück, das Michael Jackson auf der Bühne und dann auch in seiner eigenen Musik ausdrückt, ist immer Dokument der Befreiung und der Rückbindung. Das was Michael Jackson singt und tanzt, das ist verdammt noch mal sein ganzes Leben: Michael Jackson singt und tanzt die Marionette, die dem Puppenspieler entkommt, jeder Schritt, jede Geste zugleich Drill und der Protest dagegen, Mechanik und Rebellion. Leben und die Gewissheit, dass es einem gleich wieder genommen wird. Aber die Bühne kann das nicht verlassen, ein Kreislauf wie ein Gefängnis.

Aus genau diesem entfaltet sich Michael Jacksons großartige Verbindung des Widersprüchlichen: Er ist der erste afroamerikanische Künstler, der jenseits der schwarzen Musik-Genres Jazz, Blues, Soul, in einer Art funky Universal-Pop, den Mainstream nicht nur erreicht, sondern zeitweise dominiert. Platten wie „Thriller“ und „Bad“ sind wesentlich mehr als „Konsensalben“ ihrer Zeit; trotzdem diese Musik unter den Händen von Quincy Jones (natürlich, logisch, sowieso klar: Auftritt des „anderen Vaters“) eine klassische Raffinesse und Ideendichte hat, hat sie noch nichts vom Drängenden, Utopischen und Rebellischen verloren. Es ist indes Musik des Drinseins, nicht Musik des Draußenseins. Von draußen hört sich und sieht sich das auch ungeheuer künstlich an, ein Projekt, ähnlich dem von „Madonna“, die Biographie in der Selbsterfindung aufzulösen. Es ist das Traumpaar der Me-Generation, das fundamental-narzisstische Gesamtkunstwerk. Michael Jackson ist nicht weiß und ist nicht schwarz, ist nicht männlich und nicht weiblich, ist nicht Kind und ist nicht Mann, ist nicht Darsteller und nicht Autor, ist nicht simpel und nicht sophisticated, ist nicht sexuell und nicht unschuldig, nicht imaginär und nicht authentisch, nicht geplant und nicht spontan. Michael Jackson ist Michael Jackson.

So ist es zunächst kein Wunder, dass Jackson zum Prinzen der globalen Kleinbürger-Kids wird. Für sie singt und tanzt er ganz einfach ihr Leben, ihren Befreiungstraum, ihre Regression, ihre Dialektik zwischen familiärem Innenraum und Bühne der Emotionen. Wie präzis er deren Ängste und Hoffnungen wiedergibt, zeigt sich mehr noch als in der perfekten Produktion von Musik und Bühnenshow in den Videos, im Zombie-Traum von „Thriller“, in „Bad“ von Martin Scorsese, der die Emanzipation vom Ghetto erzählt. Auch das Duett mit Paul McCartney ist das Statement einer Überwindung von Konkurrenz. Michael Jackson zeigt, was Pop bei der Überwindung von Widersprüchen leisten kann; der Preis dafür ist eine Grenze der Verbindlichkeit, nicht nur in der öffentlichen Aussage, sondern auch in der Musik und in der Performance. Lange bevor man zu bemerken schien, dass dieser Sänger irgendwie den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte, hatte das auch seine Kunst getan. Sie nahm vieles auf, aber sie hatte mit wenig zu tun. Es war eben moonwalking, Harlekin auf dem Drahtseil, die Art von Zauber, bei dem man hin und weg ist, und bei dem man nachher auch nicht besser weiß, wie weiter. Michael Jackson hatte in den späten neunziger Jahren gewiss noch eine treue Gefolgschaft. Außerdem schaut man einem Prinzen immer zu, sogar wenn man ihn nicht besonders mag. Aber es war wohl nicht nur sein gelegentlich mehr als sonderbares Verhalten, das sein Pop-Projekt zur Weltrettung als Selbstrettung (oder umgekehrt) als gescheitert erscheinen ließ.

Im Märchen hieß das: Der Prinz wollte nicht erwachsen werden. Michael Jackson errichtete ein Traumreich als Museum jener Kindheit um sich, um die er sich betrogen wähnte, vor allem durch seinen Vater, den er so abgründig hasste, dass er sich auch körperlich so weit verwandeln wollte, dass nichts an ihm und in ihm an ihn erinnerte. Dass er ein Opfer der plastischen Chirurgie und der Kosmetik wurde, ein Opfer seiner Leibärzte, seiner Berater, seiner Manager, seines „Hofstaates“ (wie alle tragischen Prinzen), das erzählt sich so dahin, ebenso wie die dark side dieser Verwandlung. Aus Furcht vor dem Vater in sich verwandelte sich Michael Jackson in ein Monster, und der paradoxe Narzissmus hatte ihn geradewegs in die Identitätslosigkeit geführt. Den größten Skandal dabei bildeten natürlich die Seiteneffekte der Sexualität. Der Prinz heiratete die Tochter des Königs (Presley); daraus konnte nichts werden. Der Prinz, das ewige Kind, nahm Kinder zu sich ins Bett; begehrte er das Kind, das in ihm verloren war? Was hatte die Entourage des Prinzen tun müssen, damit die Anklage gegen ihn fallen gelassen wurde? Der Prinz wurde Vater (auch dass die Mutter seiner – seiner? – Kinder eine Krankenschwester war, passte in die Erzählung vom gefährlich kranken Peter Pan), und er hielt einen Säugling so aus dem Hotelfenster, dass die Welt den Atem anhielt; da war der schrecklichste aller vorstellbaren Kindestode nur einen Hauch entfernt.

Die Frage war nie: Ist Michael Jackson verrückt? An Verrückten haben wir keinen Mangel, und wer, zum Beispiel, gute Musik macht, so sind wir übereingekommen, darf auch verrückt sein. Die Frage war: In welcher Geschichte ist Michael Jackson verrückt? In welchem Märchen ist dieser Prinz zur Gefahr für sich und andere geworden?

Nun wollte er zurück auf die Bühne. Sein Zustand war, wie man so sagt: „angegriffen“. Wir verdächtigen nun gern böse Ärzte, ihn mit Medikamenten vollgepumpt zu haben. Wieder ist es die höllische Familie, die ihre Netze noch um den Toten wirft. Man deutet an. Man beginnt, sich schon wieder des Märchens der gescheiterten Befreiung des Michael Jackson zu bemächtigen. Wir können uns vorstellen, dass dieser Michael Jackson an den Medikamenten starb, die er mit Hilfe seiner Ärzte in sich stopfte wie ein einsames, trostloses Kind Bonbons in sicht stopft. Aber können wir uns diesen Michael Jackson vorstellen, der ohne sie Kontakt mit der realen Welt aufnehmen müsste?

In einer Weise ist Michael Jacksons Tod sehr verwandt dem anderer Meta-Stars des Pop, dem von Marilyn Monroe und Elvis Presley, die nicht, wie ihre Gegenbilder, in den heroischen Drogen- oder Unfalltod gingen, sondern offenbar in ihrer Einsamkeit einer großen, unwiderstehlichen Müdigkeit anheimfielen. Aber andererseits ist dies auch eine ganz und gar eigene Geschichte. Vom Traum der Überwindung der Widersprüche, der in einem hoffnungslosen Steckenbleiben zwischen allem führte. Von der Ambiguität, die wahrhaft zum Gesichtsverlust führte. Das dunkle Märchen davon, dass jeder, der die Mitte erobert, früher oder später bemerken muss, dass es sie nicht gibt. Weder im eigenen Leben noch im Zuschauerraum.

Schlafen Sie wohl, mein Prinz. Das Herzweh soll nun enden.

Autor: Georg Seeßlen

Text geschrieben 01.07.2009  

Text veröffentlicht in Freitag