Die Zeit der Zärtlichkeit
Die Berlinale ehrt die Schauspielerin Shirley MacLaine mit einer Retrospektive

Jeder Kino-Star ist ein durch Kulissen, Situationen und Handlungen bewegter Essay über den Körper und seine Inszenierung, über das Verhältnis von Blick und Bild, und über männliche und weibliche Rollenmodelle. Shirley MacLaine betrat die Leinwand zu einer Zeit, als die klassischen Hollywood-Modelle erheblich an ihrer Verlässlichkeit eingebüßt hatten, ein radikaler Neuanfang aber noch nicht gewagt werden konnte. Sie ist in ihren Filmen der sechziger Jahre nicht mehr das Sex-Objekt für den männlichen Blick, aber auch noch nicht die selbstbestimmte Frau, keine femme fatale, aber auch kein Bild weiblichen Begehrens wie auf dem Kontinent Brigitte Bardot oder die italienischen Diven wie Sophia Loren oder Gina Lollobrigida. Sie ist die Frau, die sich in einer männerbestimmten Welt durchsetzen muss, die sich der Ausbeutung widersetzt und doch immer wieder hereinfällt, ein transparenter, zärtlicher, sehnsüchtiger Blick in eine Welt, die mehr noch als von den Männern vom Geld zusammengehalten wird. Die Frau in dem, was einige Zeit vorher Siegfried Kracauer die „Angestellten-Kultur“ genannt hat, und für die es kaum ein so treffendes Bild gibt wie Billy Wilders Film „The Apartment“ aus dem Jahr 1960 und Shirley MacLaines Portrait der Fahrstuhlführerin Fran Kubelik darin. Eine Frau, die nicht mehr, wie in der Eisenhower-Ära nur einen Mann sucht, sondern das Glück. Es ist nicht nur sozial, es ist auch sexuell. Vermutlich hat keine Schauspielerin im amerikanischen Film je so oft die unschuldige Hure, das tragikomische Opfer der sexuellen Korruption gespielt wie Shirley MacLaine. In nicht weniger als 14 Filmen spielte sie eine Prostituierte, die es irgendwie schafft, in den Männern weniger die Gier als den Beschützerinstinkt zu wecken, und auch diesen wohlfeilen Ausweg düpiert sie. Sie hat diesen Blick unter den langen Wimpern, der nicht fordert und nicht bettelt, ein Lächeln, das die Naivität des kleinen Mädchens, die Klugheit einer Frau, die zumindest ein paar der Regeln des Spiels durchschaut und die Natürlichkeit eines Menschen verbindet, der sich vor allem danach sehnt, sich nicht verstellen zu müssen. Ein wundervolles Strahlen geht von dieser Frau aus, eine Begabung zum Glück, so weit entfernt von der manischen Affirmation einer Doris Day wie von der erotischen Subversion einer Marilyn Monroe. Ein Versprechen, das sich noch nicht einlösen lässt. Die Happy Endings ihrer Filme sind oft verdrehte Kompromisse, die Flucht vor den gefährlichen großen Träumen in ein kleinbürgerliches Glück. Die eine, die große Liebe ist selten das, was das Kino Shirley MacLaine zu bieten hat, viel häufiger ist es eine Erweckung des bürgerlichen Mannes. Begehren, Macht, die Rückkehr zu Mutter? Da war doch noch etwas: Die Zärtlichkeit. Zärtlichkeit gegenüber einer Frau, die als Du erkannt wird.

Shirley MacLaine schrieb, auch in einer Reihe eher mittelmäßiger Filme, ein Kapitel in der Emanzipationsgeschichte, die Geschichte der Frau, die sich zur Wehr setzt, aber noch nicht wissen kann, wohin das führen soll. Ihre Weiblichkeit ist keine Naturgewalt, aber auch die ironische Berechnung ist ihr fremd. Und der erste Schritt zur Freiheit besteht schon darin, dass sie sich nie so auf ein Rollenfach festlegen ließ wie ihre Vorgängerinnen. Sie ist in nichts, was sie tut, perfekt, auch nicht als Schauspielerin, nicht als Tänzerin und schon gar nicht als Sängerin, es geht um Entwürfe, um Neugier. Einst schickten die Eltern, der Grundstücksmakler Ira Beaty und die Schauspielerin Kathlyn McLain, das unbeholfene Kind zum Bewegungsunterricht. Sie lernte nicht „richtig gehen“, sie lernte tanzen.

Die Frau, der man „die schönsten Beine Hollywoods“ nachsagte, begann also ihre Karriere als Ballett-Tänzerin. Im Sommer 1954 war sie die zweite Besetzung in der Broadway-Inszenierung von „Pajama Game“ und erhielt, klassische Showbusiness-Legende, ihre große Chance, als sich die Solo-Tänzerin ein Bein brach. In solchen Fällen pflegt ein Hollywood-Mogul im Zuschauerraum zu sitzen, im Fall Shirley MacLaines war es Hal Wallis, der sie für ihr Film-Debüt engagierte: Alfred Hitchcocks schwarze Komödie um den „Trouble with Harry“. Eine Hitchcock-Frau wurde sie dennoch nicht. Nichts bleibt verborgen, nichts ist unter einer kühlen Oberfläche versteckt, alles an Shirley MacLaine spricht von der offenen Lust am Leben, von der Neugier, von der Ehrlichkeit. Und auch da gibt es eine enge Beziehung zwischen der Biographie und der Leinwand-Präsenz. Shirley MacLaine gehörte zu den Hollywood-Stars, die nie ihren persönlichen und moralischen Anspruch hinter die Karriere stellten. Sie ließ sich nicht dirigieren, engagierte sich gegen den Krieg in Vietnam und für soziale Gerechtigkeit, „Politik“ hat sie einmal gesagt, „lässt sich nicht vom übrigen Leben abtrennen“. Deshalb war sie Zeit ihres Lebens auch eine begeisterte Reisende, eine Frau, die sehen wollte, wovon ihre Filme handelten. In ihrer Fernsehserie „Shirley’s World“ (1971/72) spielte sie eine Fotoreporterin, unterwegs an die so genannten Brennpunkte der Welt. Da hätte sie vielleicht bessere Drehbücher und Regisseure verdient. Zusammen mit der Regisseurin Claudia Weill drehte sie 1973 den Film zu einer asiatischen Reise: „The Other Half of the Sky: A China Memoir“. Die Möglichkeit eines Blickwechsels. Ihre Bühnenshow, mit der sie Mitte der siebziger Jahre das Publikum erreicht, das auf das Hollywood-Kino keine allzu großen Hoffnungen mehr setzte, ist nichts anderes als eine getanzte, gesungene, geplauderte Autobiographie.

Sie schaffte es nie, wirklich frivol zu sein; etwas blieb immer grundanständig in ihr, nicht im Sinn der Puritaner dieser Welt, eher in dem von einem Sozialismus der Herzen, Körper; Blick und Bild einer Sexualität, die sich von der Macht befreit, auch und gerade dort, wo sie die Hure spielte, in Billy Wilders „Irma La Douce“ oder in Don Siegels „Two Mules for Sister Sarah“, selbst noch in den Mainstream-Produktionen, etwa als vernachlässigte Ehegattin eines Büstenhalterfabrikanten in „The Bliss of Mrs. Blossom“, die sich erst einen Hausfreund hält, und dann, als sie den geheiratet hat, wieder den Ex als Geliebten wählt. Beinahe nie ist sie die Erfüllung eines amerikanischen Macho-Traumes; auch wo sie die Ehe- und Hausfrau spielt, geht selten alles glatt. Sie will nicht verschwinden in der Inszenierung und im Blick. In Shirley MacLaine-Filmen sind Männer auch wichtig, aber sie sind nie die Helden. „Ich bin auch wer.“, sagt Irma La Douce, und eben das ist die Utopie ihres Spiels: die Frau, die weder mit Unterwerfung noch mit Zerstörung dem männlichen Blick begegnet, sondern mit der unerschütterlich optimistischen Hoffnung, in ihm auch als Mensch erkannt zu werden. Das ist weder besonders radikal noch besonders aussichtsreich; der Blick auf Shirley MacLaine und ihre Leinwand-Persona hat längst etwas nostalgisch-märchenhaftes, die Erinnerung an eine Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat. Ihre Altersrollen erzählen von ebenso eigenwilligen wie verschrobenen Frauen, das „Ich bin auch wer“, behauptet sich in der Welt des Neoliberalismus nur als individuelle Geste, so wie sich die weltoffene Neugier des Menschen Shirley MacLaine in ihrer Hinwendung zur Esoterik von der „sozialen Demokratie“ zu entfernen scheint, die sie einmal als ihr Ideal formulierte.

Als Shirley MacLaine 1983 endlich für ihre Rolle der leicht nervigen Mutter in „Zeit der Zärtlichkeit“ mit einem Oscar geehrt wurde, nachdem sie bereits vier mal nominiert worden war, kommentierte sie vor einem sichtlich konsternierten Publikum: „Den habe ich auch verdient“. Erste Person, Einzahl. Shirley MacLaine gehört zu den ersten Frauen des Hollywood-Films, die sich auf der Leinwand und darüber hinaus, nicht durch den Blick der Männer, im Guten wie im Bösen, definieren lässt. Sondern durch sich selbst. Das hätte der Beginn der Zeit der Zärtlichkeit werden können. Wurde es aber nicht.

Autor: Georg Seesslen

Text geschrieben: 1999