So gerne ich mich heute an ein anderes Gefühl erinnern würde: Ich hatte Angst. Man konnte nicht sicher stehen, wusste nicht von welcher Seite der nächste Stoß kommen würde, der einem, vor allem wenn man ungefähr neun Jahre alt ist, permanent das Gefühl von Ohnmacht gab. Mein Vater hatte keine Sitzplatzkarten mehr bekommen können. Dazu kam eine ungeheure Lautstärke, die ich in dieser Form, einer seltsam bedrohlich-hymnischen Melodik, noch nie zuvor erlebt hatte. So hatte ich, auch weil mir nur selten ein freier Blick durch die sich vor mir aufgestellte Männermauer vergönnt war,  bei meinem ersten Besuch eines Fußballspiels kaum Augen und Ohren für Platz und Spieler. Ich bin nicht einmal mehr sicher, gegen wen es damals ging (Hannover 96, glaube ich); umso genauer habe ich das Bild dieses Stadions vor Augen, das meine Liebe zum Fußball mehr als alles andere geprägt hat: die „Alm“, das enge, dunkle und, wie ich später begreifen sollte, englische Stadion des DSC Arminia Bielefeld.

Damals, in der Saison 77/78, stieg der DSC mit Uli Stein, „Latscher“ Pohl, Eilenfeld, Pagelsdorf und Schröder aus der zweiten Bundesliga Nord direkt in die Erste Bundesliga auf, nur um ein Jahr später wieder abzusteigen. Als ambitionierte Fahrstuhlmannschaft musste man Bielefeld immer mit auf der Rechnung haben – in beiden Ligen. Nachdem sich „Der Club der Ostwestfalen“ (ich hasste diese Bezeichnung in ihrer armselig örtlichen Beschränktheit) dann für fünf Jahre in der ersten Liga etablieren konnte, kam der grausame und doch so verbindende Fall in die Bedeutungslosigkeit, ohne den man das ganze Ausmaß des diesjährigen Abstiegs in die zweite Bundesliga nicht erfassen kann.

1988 folgte der Zweitklassigkeit die siebenjährige Kerkerhaft in der Amateuroberliga Westfalen, bzw. der Regionalliga West/Südwest. Gegner wie ASC Schöppingen, VfR Sölde, Spvg. Marl und ewige, frustrierende Duelle gegen das widerwärtige Trauma Preußen Münster. Den „Quench“-gelben VW-Polo meines Onkels habe bei einem unwichtigen 0:0 in Paderborn-Neuhaus verschlissen, meine große Liebe habe ich bei kaltem Nieselregen auf den unmenschlichen Acker des SC Verl geschleppt, um den desolaten, vollbärtigen Libero Bodo Sievers und eine desillusionierende 1:2-Niederlage zu betrauern.

In dieser Zeit war ich mehr denn je mit diesem Verein verbunden, dessen Fan niemand aus freier Entscheidung, sondern einzig qua Geburt, familiärer Bindung und regionaler Zugehörigkeit wird. Der Erfolge wegen kam niemand zu Armina – es gab keine, vom mehrfachen Erringen der Westfalenmeisterschaft einmal abgesehen. Wir waren aus dem Olymp niedergefallene Provinzgötter, die der zynische Zufall in genau die Provinz zurückgeschickt hatte aus der sie hervorgegangen waren. Niemand glaubte einem damals das sich Saison für Saison wiederholende Gefasel von der Rückkehr des DSC, bis 1995 der Durchmarsch von der dritten in die erste Liga begann.

So sehr dieser glamouröse Siegeszug auch Balsam auf die Wunden der nationalen Missachtung war, so wenig tat diese Zeit für die emotionale Bindung. Es war, als ob einen der DSC nicht mehr brauchte, er hatte ja Eck, von Heesen, Bode, Walter und (wieder) Stein. Alles lief gut, man sprach wieder von der traditionsreichen Arminia und Preußen Münster war weit, weit weg. Manchmal gönnte man sich einen hämischen Blick auf den Tabellenstand der Regionalliga, um befriedigt festzustellen, dass Preußen durch den Verlust des großen Rivalen Bielefeld sämtliche Kraft verloren zu haben schien. Das zweite Jahr Bundesliga, die Saison 97/98, an deren Ende der erneute Abstieg in Bundesliga Zwei stand, war da anders. Alles ging schief, und mit den klassischen Tugenden eines Absteigers ist der DSC völlig zu Unrecht Tabellenletzter geworden: gut gespielt, vielleicht sogar geführt, aber am Ende immer 2 bzw. 3 Punkte verloren. Anders als früher, mit geschickterem Management, größeren Namen und besseren Spielern (allen voran Rob Maas, Jörg Reeb, Ali Daei und „Billy“ Reina), scheint die ewige Wiederkehr des Immergleichen ihren Anfang zu nehmen.

Es geht hier nicht um den Allgemeinplatz (der zudem nicht stimmt), in der Not sei der Zusammenhalt einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft am größten. Es geht um das über die Maßen irrationale und letztlich auch zumeist konsequenzlose Gefühl, gebraucht zu werden. Und es geht darum, sich gegen das himmelschreiende Unrecht zu stellen, mit dem das Schicksal ein Familienmitglied bestraft. Das ist keine witzige, nicht einmal eine humoreske Angelegenheit. Dieser Spaß tut weh und nimmt genau in diesem Augenblick wieder die Gestalt der griechischen Tragödie an, an deren happy end man zu glauben verdammt und beschenkt ist.

Autor: Jan Distelmeyer

Text geschrieben: 1998

Text: veröffentlicht in Junge Welt