Die weite Welt spricht deutsch im Fernsehfilm: Wie der Heimatfilm auch unter globalen Vorzeichen weiterbesteht – Ein aktuelles Beispiel und eine Bestandsaufnahme typisch deutscher Sehnsuchtsfilme

Will der deutsche Fernsehfilm Weltläufigkeit zeigen, dann verhält er sich so wie die deutsche Tourismusbranche. Beide nehmen sie ihre Kunden an die Hand, führen sie an vertraut-exotische Schauplätze und zeigen doch nur eine Welt, die eine Projektion deutscher Verhältnisse auf die Fremde ist. Der Fernsehzuschauer wird in seinen Vorlieben und Gewohnheiten so eingeschätzt wie der Pauschaltourist: Er trifft auf eine Welt, in der Deutsch gesprochen wird. Er begegnet den Problemen von Liebe und Herzschmerz, aber auch von Krankheit und Gesundheit. Ewige Themen, die eigentlich genauso gut in Gelsenkirchen oder sonstwo in der Heimat abgehandelt werden könnten.

Wo der Fernsehfilm zum Fernwehfilm wird, bietet er den unschätzbaren Vorteil, Banales und Tiefsinniges vor der Kulisse gleißender Strände oder bizarrer Naturlandschaften inszenieren zu können. Film hat immer mit Weltaneignung zu tun. Diese Filme sind jedoch eine Mogelpackung. Sie geben vor, uns Weltkenntnis zu vermitteln. In Wirklichkeit erscheint unsere Weltsicht nur in neuer Verpackung. Deutschland, das unverbesserliche Land der Synchronisation ausländischer Filme, findet ein weiteres Mal falsch zu sich. Andere Sprachen sind nur in Stummelform oder Versatzstücken zugelassen. Die Art Filme heucheln. Sie geben sich größer, als sie es sind und jemals sein werden. Sie spielen ein wenig Hollywood, das sich bei seinen internationalen Produktionen leisten kann, andere Sprachen souverän zu ignorieren. Die Amerikaner können das, ihnen gehört immer noch der Weltmarkt. Aber, wenn Deutsche in ihren Filmen es ihnen gleichtun, und beispielsweise Norweger in der ARD zu deutschen Sprachbürgern werden: Womit hat das zu tun? Mit Angebertum oder der geistigen Bequemlichkeit des eigenen Publikums? Es ist jedenfalls kein Ausrutscher, diese Filme haben genreübergreifend System und Tradition.

Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der ARD ist die Produktionstochter Degeto seit Jahren als mediale Reiseagentur unterwegs. Das war schon zu Zeiten der Geschäftsführer Jurgan und Klamroth der Fall. Die haben diese Sparte mit der Reihe „Traumhotel“ und Christian Kohlund als globetrottenden Hoteldirektor bis zum Exzess abgegrast. Daneben haben sie aber auch Zeit für Abstecher zu „Liebe im Fjord“ und vor allen Dingen ins romantisch-düstere Venedig der Donna Leon und ihres Kommissars Brunetti gefunden. Für diese Programmpolitik haben sie viel Schelte einstecken müssen und sind am Ende gescheitert. Dabei waren sie im Grund doch nur Plagiatoren des ZDF. Die Mainzer Anstalt setzte die Maßstäbe im seichten Fahrwasser. Mit Wolfgang Rademanns ewigjungen „Traumschiff“, mit den zigfach in Cornwall oder anderen lieblichen Grafschaften spielenden Romanzen frei nach Rosamunde Pilcher oder mit Christiane Sadlos schier endlosen Schweden-Liebesfilmen „Inga Lindström“.

Ein Ende ist bei diesen Fernwehfilmen nicht in Sicht. Beim ZDF beispielsweise hat der Fiction-Eskapismus mit „Kreuzfahrt im Glück“ noch einen Ableger bekommen. Zweimal im Jahr gehen neue Produktionen auf Reise. Dabei bescheidet man sich auch mal mit einer „Hochzeitsreise an die Loire“. Wo die Ruinenromantik des Rheins obsolet geworden ist, da müssen die Königsschlösser der Loire als Schauplatz neureicher Bürgerdramen einspringen.

Die Degeto versprach 2012, unter der frisch installierten Leitung der Christine Strobl, sich selbst neu zu erfinden, alte Zöpfe abzuschneiden und ihre Filme zu modernisieren. Doch so weit her ist es mit dem Reformeifer der runderneuerten Redaktion nicht, wie ein aktuelles Beispiel vom 21. Januar belegt. Die NDR-Tochter Studio Hamburg mag die Reihe „Liebe im Fjord“ verloren haben, die Liebe zum Drehort Norwegen ist deswegen nicht erloschen. „Das Alter der Erde“ nach einem Buch von Silke Zertz sucht dem deutschen Heimatbedürfnis mit einem abenteuerlichen Spagat zwischen Problemfilm, Liebesfilm, Bergfilm und Melodram gerecht zu werden. Das geht dann so: Postkartenidylle am Fjord trifft auf Empty-Nest-Syndrom einer attraktiven, jüngeren Ehefrau und Mutter; beide treffen bei einer Gebirgstour auf den Abschied vom Leben eines todgeweihten Geologen und alles mündet in Schwangerschaft und neuem Leben.

So wie das Zusammenspiel von Held und Wetter nichts Neues ist im deutschen Drama, so gehört auch das Wiedersehen mit bekannten deutschen Schauspielgesichtern in dieser Art moderner Heimatfilme zum Standardrepertoire. Vom Drehbuch bis zur Regie, von der Produktionsfirma bis zur auftraggebenden Redaktion – alles deutsch. Die Protagonisten von „Das Alter der Erde“ heißen Birthe, Nils und Henrik, lauter gemäßigt nordische Namen. Vornamen, die auch in Deutschland geläufig sind. Dahinter verbergen sich Ann-Kathrin Kramer, Felix Vörtler und Klaus J. Behrendt. Laut Buch steckt das Mitvierziger-Paar Birthe und Nils nach dem Auszug der Tochter in einer Sinn- und Lebenskrise, und die Lösung kommt von außen. Die Arbeit im Outdoor-Laden, das Leben im Dorf – das gehört zur Kulisse. Erst der Fremde, der Geologe aus Oslo bringt Bewegung und Katharsis ins Spiel. Natürlich ist auch dieser Fremde ein alter deutscher Fernsehbekannter. Es ist wie im Reisekatalog, wo der Veranstalter mit dem Hinweis auf „deutsche Reiseleitung“ wirbt.

In Jörg Grünlers Skandinavien-Film kann die Kamera ungehemmt agieren. Sie fliegt förmlich über Berge und Höhen, konsumiert massenhaft unverbrauchte Natur: Bizarre Bergpanoramen, tiefblaue Fjorde, saftige Wiesen, abweisende Geröllwüsten. Menschenleere Landschaften, in denen die zwei Extrem-Bergwanderer wie die ersten ihrer Art wirken. Das Paar ist bei seiner Gipfeltour auf sich gestellt, nur den Launen des Wetters ausgeliefert. Natur macht sich mit Blitz und Donner als der große, unberechenbare Player bemerkbar. Ein Unwetter lässt das Paar zusammenrücken. Kaum noch unterdrückter Kinderwunsch und fatalistische Todesahnung fügen sich zum Wunsch nach intimer Nähe. Und das Schicksal nimmt auf beiden Seiten seinen absehbaren Lauf: Neues Leben hier, naher Tod dort. Birthes spätes Mutterschaftsglück wird allein durch eine dramaturgische Dopplung der Komplikationen und Gefühlsverwirrungen eine Zeitlang noch aufgehalten. Der für eine Nacht allein gebliebenen Ehemann hat die Zeit für einen Seitensprung mit dem offenbar einzigen anderen Gast im Hotel genutzt – mit der Frau des Geologen Jacobsen.

Die Bergwelt Mittel-Norwegens tritt in der Konnotation des klassischen deutschen Bergfilms auf: Ein Mann, der Geologe Jacobsen, will ein letztes Mal einen Berg bezwingen, will an den Ursprung von Welt und seine Wurzeln als Wissenschaftler zurückkehren. Er scheitert mit diesem Projekt, aber den typisch-weiten Gipfelblick genießt er auf andere Weise. Da es sich bei „Das Alter der Erde“ aber um einen keuschen Primetime-Fernsehfilm handelt, bleiben uns Beischlaf und Ekstase vorenthalten.

Nach einem ähnlichen Eingemeindungsschema, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, sind auch die Altvorderen im deutschen Kinofilm vorgegangen. Auf eine Prise Exotik bei ansonsten heimischer Hausmannskost setzte bereits Horst Wendlandts Rialto-Film, als sie Anfang der 60er Jahre die Exklusivrechte für fast alle Romane des Edgar Wallace erwarb. Außer dem Namen des englischen Krimiautors war nichts wirklich authentisch. Selbst die Establishing Shots für den Haupthandlungsort London waren Fake, kamen aus der Konserve. Die restlichen Außenaufnahmen spielten auf den Straßen Hamburgs und Berlins. Die Namen der vielen Villen, Herrensitze, Schlösser klangen zwar so englisch wie im Original, tatsächlich waren das Jagdschloss Glienicke, das Hamburger Rathaus oder die Berliner Pfaueninsel die Drehorte. Die Etats waren gering, der Produzent knausrig, die Reisemöglichkeiten zu jener Zeit noch eingeschränkt – dem Erfolg beim Publikum tat diese bloß symbolische Aneignung eines Stoffs keinen Abbruch.

Das aufkommende Fernsehen jener Jahre war nicht viel besser. „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ nahmen sich zwar explizit den legendären englischen Postraub zum Vorbild, doch der quasi-dokumentarische Anspruch bei der Rekonstruktion des Verbrechens hinderte die NDR-Produktion nicht, beinahe alle Szenen für den Dreiteiler in Deutschland zu drehen. Objektive Schwierigkeiten – fehlende Drehgenehmigung für England – erleichterten diese Entscheidung, stellten das Projekt aber auch nicht ernsthaft in Frage.

Die später so typisch gewordene Mischung von importierten Schauplätzen bei gleichzeitigem Export von Stab und Besetzung war bei den „Tim Frazer“-Produktionen des WDR noch gang und gäbe, in anderen Fällen war dem Sender eine Reiseproduktion zu teuer. „Das Halstuch“ nach Francis Durbridge entstand in der Bundesrepublik und der kleine Ort mit dem wunderbar anglophil klingenden Namen Littleshaw bei London lag in Wahrheit in Wülfrath im Bergischen Land. Dem Erfolg tat’s keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Auch dieser Mehrteiler nach Francis Durbridge wurde zum „Straßenfeger“ und Tagesereignis in der Republik.

Die Filmgeschichte durchzieht in Fällen wie diesen ein groteskes Missverständnis: Was wir und unsere Bewusstseinsdirigenten für typisch englisch halten, identifizieren die so dargestellten Engländer, Italiener etc. mühelos als deutsche Wunschvorstellung: Filme, nicht weiter von historischem Belang, und in aller Regel nicht lukrativ exportfähig außerhalb des deutschen Sprachraums.

Bleibt die Frage: Woher rührt dieser Hunger nach Pseudo-Fremdem? Eine filmsoziologische Erklärung für dieses Phänomen könnte so lauten: Deutschland ist seit dem Zweiten Weltkrieg so industrialisiert und kommerzialisiert, ist mit gegenwärtig 82,8 Millionen Menschen noch nie so eng besiedelt und bis fast zum letzten Quadratmeter in Gewerbe- und andere Neubaugebiete parzelliert, dass sich innerhalb der nationalen Grenzen Traum-Landschaften und/oder mythologisch aufgeladene Orte nicht mehr finden lassen. In einer Gegenwart, da sich von schöner Rhein-Landschaft, geheimnisvollem Schwarzwald oder unberührten Alpen nur noch bei größter Anstrengung sprechen lässt, werden stattdessen fernab der Grenzen lauter neue Naturwunderlandschaften entdeckt. Deutschland ist immer noch Export-Weltmeister, die Reiselust der Deutschen ist durch Nachrichten von Bürgerkriegen, Völkermorden und der ständigen Furcht vor Attentaten und Entführungen nur unwesentlich berührt. Die Karte mit den No-Go-Areas wächst zwar von Jahr zu Jahr und das südliche Mittelmeer ist zu einer großen Zone voller Warntafeln geworden, aber immer noch gilt es, Entdeckungen zu machen.

Die ZDF-Anlegestellen von „Kreuzfahrt ins Glück“ legen über die Jahre hinweg gesehen Zeugnis davon ab, was geht und was dem Zuschauer nicht zugemutet werden kann. Von 2007 bis 2017 gesehen, sollte allein die „Hochzeitsreise in die Türkei“ (2014/15) derzeit auf dem Index stehen. Dafür sind Länder wie Montenegro und Kroatien wieder auf der fernsehtouristischen Karte vertreten. Will sagen: Nicht alles wird schlechter, es gibt auch Aufhellungen.

Allein die Fernsehkrimis fallen aus jedem Sprach- und Herkunfts-Muster. Hier geht alles. Der Hunger der zivilisierten Welt nach fiktiven Leichen zu jeder Tageszeit wetteifert mit dem wachsenden globalen Grauen, wie wir es in den Nachrichten erleben. In 2015 kam allein das ZDF auf 437 Erstausstrahlungen und bestätigte damit eindrucksvoll seinen Ruf als Krimi-Hochburg im deutschen Fernsehen. Wurstig gesagt: Bei so viel Nachfrage kann man nicht nur auf heimische Erzeugnisse setzen. Was Stieg Larssons „Millenium“-Projekt dem ZDF war, das war Henning Mankells Kommissar Wallander der ARD. Die Verfilmung lag beide Male in den Händen schwedischer Produzenten, die deutschen Sender waren nur Ko-Produzenten, waren geldgebende Juniorpartner.

Beim Krimi scheuen auch die klassischen deutschen Sender mittlerweile nicht mehr vor der Ausstrahlung von entlegenen britischen Krimi-Miniserien wie „Dr. Quirke“ (Der Pathologe, ARD) oder „Broadchurch“ (ZDF) zurück. Natürlich deutsch synchronisiert. Die Faszination des Krimis mag zwar universell sein, aber die sprachliche Eingangshürde für den deutschen Markt bleibt erhalten. Einzig eine hippe Schwarmintelligenz, für die nichts als der Konsum von Filmen und Serien in englischer Originalfassung in Frage kommt, gibt vor, selbst mit Dialekten und Slangsprache keine Probleme zu haben. Seriensehen in OV wird zum Distinktionsgewinn gegenüber einer sprachtumben, älteren Generation. Neue Kanäle im Internet oder beim Pay TV setzen nicht zufällig auf diese junge Zielgruppe.

Was den deutsche Krimi-Konfektionsladen aber nicht hindert, derweil ein bizarres Mischsystem von Kulissen-Import bei gleichzeitigem Darsteller- und Techniker-Export auszubauen. Die föderale ARD bietet ein Musterbeispiel für televisionären Expansionismus. Am Anfang war der bereits erwähnte Commissario Brunetti in Venedig, es folgten die „Mordkommission Istanbul“, der „Bozen-Krimi“ und zwischenzeitlich auch „Kommissar LaBréa“ in Paris. So wie die Europäische Union sich über den Kontinent verbreitet hat, wächst auch die Internationalität des Tatort-Krimis über Österreich und die Schweiz. Wohlgemerkt unter deutschen Vorzeichen, nur notdürftig versteckt unter ausländischen Uniformen, Rangabzeichen und Drehorten. Wobei die Weltgeschichte gerade dabei ist, den erfundenen Auslandsgeschichten ernsthaft im Weg zu stehen. Eine „Mordkommission Istanbul“ im neuen Erdogan-Sultanat agieren zu lassen, kann nicht ohne politische Kompromisse und dramaturgische Verrenkungen abgehen.

Gleich ob die Zukunft noch einen „Polizeiruf Mallorca“ oder ein „Tatort Teneriffa“ bereithält – all diese Filme sind Versuche, aus der kleinen, eigenen Insel auszubrechen, Weltläufigkeit zu mimen, Wunsch- oder auch Schauerwelten zu kreieren und doch bei sich zu bleiben. Diese deutschen Auslands-Filme sind aber immer unbefriedigend, weil sie das Fremde der jeweils anderen Sprache und Kultur ausschließen und einen nur schrecklich vereinfachten, scheinbar barrierefreien Blick auf eine globalisierte Welt eröffnen. Und ein Ausgang aus dieser verordneten Unmündigkeit ist nicht in Sicht.

Auch wenn „Das Alter der Erde“ eine Quoten-Enttäuschung (10,3 Prozent Marktanteil) am Samstagabend war, wird deswegen keiner in der ARD ferne Schauplätze für deutsche Filme ernsthaft in Frage stellen. Allenfalls wird das Drehbuch bei interner Analyse als zu problemfilm-orientiert angesehen werden. Schöner Film, aber falscher Sendeplatz, wäre eine andere, bequeme Ausrede. Aber zu der Einsicht, dass die Menschen in Skandinavien in aller Regel nicht deutsch sprechen und dass der Film mit seinem verengten Blick deswegen eine Fälschung ist, wird man nicht gelangen. Stattdessen: mehr kulinarische Bilder, mehr Drama und weniger Ausflüge in Naturwissenschaften und Lebensphilosophie. Die televisionären Romanzen und Krimis aus aller Welt werden weitergehen. Man ist versucht zu sagen: Die Deutschen wollen sich den Kinderglauben nicht nehmen lassen, die Welt füge sich nach ihrem Willen und Vorstellung.

Michael André

Bild ganz oben: Liebe am Fjord: Das Ende der Eiszeit (2011) | © ARD Degeto / Hardy Spitz