Christina von Hodenberg erinnert an die Aktivistinnen der Studentenbewegung, aber darüber verwässert sie die Ereignisse und nachhaltigen Wirkungen jener Zeit – Gretchen Dutschke spricht hingegen vom Stolz auf 1968

Die Stunde der Frauen von 68

Zwischen dem bierseligen „Gaudeamus igitur“ eines singenden Fackelzugs von 200 Studenten und Doktoranden vor der Villa ihres verehrten Psychologie-Professors Hans Thomae in Rönsdorf und dem massiven Polizeieinsatz im Rektorat der Bonner Universität liegen ganze acht Monate. Und doch scheint zwischen Juni 1967 und Februar 1968 eine dramatische Klimaveränderung eingetreten zu sein. Die romantische Studentenwelt ist nach dem Besuch des Schahs in Deutschland endgültig aus den Fugen geraten. Die Studentenrevolte von 1968 hat auch das beschauliche „Bundesdorf“ Bonn erreicht. Eine Gruppe von Aktivisten besetzt das Rektorat und verewigt sich im Ehrenbuch der Universität bei der Unterschrift des damaligen Bundespräsidenten Lübke mit dem perfiden Zusatz „KZ-Baumeister“. Den Rädelsführern droht hochnotpeinlich die Exmatrikulation, doch zum eigentlichen Disziplinarverfahren kommt es nicht, weil der Ankläger der Universität von seiner wenig rühmlichen Vergangenheit als NS-Jurist eingeholt wird und demissioniert.

Diese ausführliche Schilderung von fast gleichzeitiger Ungleichzeitigkeit studentischem Verhaltens findet sich eingangs eines neuen Buchs über 1968. „Das andere Achtundsechzig“ hat die in London lehrende Historikerin Christina von Hodenberg als provokanten Titel gewählt. Obwohl ihr Text eine Reihe steiler Thesen bereithält – auf dieses auffällige Nebeneinander von Kontinuität und Bruch hebt sie nicht weiter ab. Stattdessen müht sie sich nachzuweisen, dass Achtundsechzig nicht die Stunde der großen Abrechnung mit den Nazi-Vätern war und dass die Rolle der männlichen Alphatiere von Legendenbildung überwuchert und auch von der vorherrschenden, männerdominierten Geschichtsschreibung weiter maßlos überschätzt werde.

Statt sich auf die Selbstzeugnisse der Heroen von Damals zu berufen, will Hodenberg die Untersuchung auf eine empirisch breitere und repräsentative Auswahl stellen. Sie greift wesentlich zurück auf einen schon in Vergessenheit geratenen Bestand von 3600 Stunden Tonband-Gesprächen. Diese Bolsa (Bonner Längsschnittstudie des Alters) sind ein Stück „oral history“, das von Mitarbeitern des Bonner Psychologischen Instituts mit sogenannten einfachen Leuten über Jahre hinweg geführt wurde. Wie altert man und geht Alter nur mit Verlust einher?, lauteten die zentralen Fragestellungen der Gerontologen – eines Fachs, das Ende der 1960er Jahre selbst noch in den Kinderschuhen steckte.

Der Stolz über ihren eigenen Fund im Archiv ist der Autorin deutlich anzumerken, und er hindert sie bisweilen darin, sich angemessen quellenkritisch zu ihrem Material zu verhalten. Die Interviews weisen mindestens zwei methodologische Schwachstellen auf. Die Interviewer vermieden bei ihren Fragen heikle Gebiete: Die Zeit zwischen 1933 und 1945 wurde nicht explizit angesprochen und Fragen nach Sexualität waren ebenfalls tabu. Wenn sich ungefragt doch jede Menge Auskünfte zu beiden Themenbereichen finden, dann lässt das tief blicken. Das Verdrängte ist nicht so tief ins Unbewusste abgesunken, dass es sich nicht leicht Bahn bricht. Ihren Interviewern gegenüber erzählen die Männer von Erlebnissen an der Front, von NS-Parteimitgliedschaften und anderen Bruchstellen in ihrer Biographie. Die Einzelinterviews sind für diese Männer und Frauen der Täter-Generation eine Art säkularer Beichtstuhl. Doch diese Beichtväter setzen nicht nach, sie wollen ihre Probanden schonen, verspüren Mitleid mit den Alten und lassen sie in ihrer Opferhaltung letztlich unberührt.

Christina von Hodenberg wird nicht müde zu betonen, der Generationenkonflikt sei nicht ausschlaggebend für das Verständnis für die Revolte von 1968 gewesen. Statt die Auseinandersetzung mit ihren realen Vätern zu suchen, hätten sich die Söhne – von prominenten Einzelfällen mal abgesehen – nur an abstrakten Vätern symbolisch abgearbeitet, Diese These ist allen positivistischen Zeugnissen zum Trotz nicht haltbar. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Väter haben sich dem Dialog entzogen. Um den äußeren Schein zu wahren, sind viele Dinge in der Familie unausgesprochen geblieben. Zum anderen: Hodenberg ignoriert, dass 1968 nicht nur die Entthronung von Vätern war, sondern gleichzeitig auch diktiert war von einer Suche nach neuen, überlebensgroßen Vätern. Nur so lässt sich die fast kultische Verehrung eines Herbert Marcuse oder auch eines Ernst Bloch erklären. Männer, die vor den Nazis aus dem Land geflohen waren und im Großvateralter ein überragendes Comeback erlebten. Hodenberg wirft den Akteuren von 1968 vor, bei der Enttarnung von NS-Tätern sehr selektiv, oft ungerecht und unsystematisch gewesen zu sein. Sie verwechselt da etwas: 1968 war nicht die Stunde der großen Aufarbeitung von NS-Geschichte. Dieses Kapitel folgte erst später, als die fluide Bewegung von 1968 in neue Erstarrung und neuen Dogmatismus übergegangen war.

Hodenberg ist auf der Höhe der Zeit, wenn sie die lange Zeit unterschätzte Rolle der Frauen in der 68er Bewegung herausarbeitet und in der Neudefinierung der Geschlechterrollen einen anhaltenden gesellschaftlichen Fortschritt erkennt. Ähnlich wie unlängst Christiane Peitz im „Tagesspiegel“ erinnert sie mit Zuneigung an Aktivistinnen der ersten Stunde und an ihre Mühen, sich gegenüber den dominanten Männern Gehör zu verschaffen, sowie die kaum überwindbaren Schwierigkeiten, Kleinfamilie, Politik und Karriere unter einen Hut zu bringen. Doch Hodenbergs Versuch einer Kategorisierung in die Flügel von „Mütterfraktion“ und „Schulungsfraktion“ erscheint zu grobmaschig, weil er zum Beispiel die vielen Frauen unberücksichtigt lässt, die zugunsten einer akademisch-feministischen Laufbahn in eine Art Gebärstreik traten und sich so der immer noch fortbestehenden Quadratur des Kreises von Frausein in der Moderne entzogen.

1968 war ein Moment der Geschichte, der wie ein Brandbeschleuniger wirkte. Er brachte nicht die große Weltrevolution, aber er brachte zum Einsturz, was nicht mehr haltbar war, zum Beispiel eine anachronistisch- patriarchalische Haushaltsordnung und Strafgesetze, die Minderheiten krass benachteiligten. Und dann folgte auch die systematische Aufarbeitung von NS-Herrschaft. 1968 schlug sich auf politischem Gebiet auch banal nieder in Willy Brandts Wahlversprechen „Mehr Demokratie wagen“. Vom langen „Marsch durch die Institutionen“, den die Achtundsechziger nach dem Scheitern des ersten utopischen Elans pragmatisch ausgerufen hatten, ganz zu schweigen. An einen Gerhard Schröder oder einen Joschka Fischer an der Spitze der Republik hatten dabei wohl die wenigsten gedacht, aber Geschichte nimmt eben oft ungewöhnliche Wege.

Von diesen Langzeitwirkungen ist bei Christina von Hodenberg wenig zu lesen. Sie beteuert im Epilog ihres Buchs zwar: „Es geht hier nicht darum, die Ikone Achtundsechzig … bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern.“ Aber genau das hat sie letzten Endes gemacht. Bei ihr schnurrt das Ereignis 1968 zu einer Politisierung des Privaten und der Neubestimmung von Geschlechterrollen zusammen. Das wird der Sache dann doch nicht gerecht. Hier spricht zwar viel Volkes Stimme, Volk allen Alters, aber trotzdem fehlt eine interpretierende wie kontextualisierende Analyse.

Michael André

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Christina von Hodenberg- Das andere Achtundsechzig, Gesellschaftsgeschichte einer Revolte. 200

Christina von Hodenberg:

Das andere Achtundsechzig, Gesellschaftsgeschichte einer Revolte.

C.H. Beck Verlag, München 2018

250 Seiten, 24,95 Euro, e-Book 19,99 Euro

ISBN 9783406719714

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Gretchen Dutschke- 1968. Worauf wir stolz sein dürfen. 320

Gretchen Dutschke: 1968. Worauf wir stolz sein dürfen.

Kursbuch Kulturstiftung gGmbH, Hamburg 2018

224 Seiten 22 Euro

ISBN 978-3-961-96006-4

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Bild ganz oben: Ludwig Binder: Studentenrevolte 1967/68, West-Berlin; veröffentlicht vom Haus der Geschichte

Quelle : 2001_03_0275.0011 | Autor: Stiftung Haus der Geschichte | Diese Datei ist unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Allgemein- Lizenz lizenziert.