Zwischen Vorhölle und Pantheon

Wolfgang Matz nimmt sich Nobelpreisträger Patrick Modiano als Vorbild für seine literaturhistorische Untersuchung „Frankreich gegen Frankreich“. Dabei kommt er zu interessanten Neubewertungen berühmter Schriftsteller.

„In der Literatur, so wie überall, bedeutet Talent einen Anspruch auf Verantwortlichkeit.“ Mit diesem Satz rechtfertigte Charles de Gaulle in seinen Lebenserinnerungen, als Staatspräsident Frankreichs ausgerechnet bei Robert Brasillach keinen Gebrauch von seinem Recht auf einen Gnadenerlass gemacht zu haben. Der Schriftsteller und Journalist Brasillach bezahlte seinen fanatischen Einsatz für Nazi-Deutschland während der Besatzungszeit mit der Hinrichtung noch vor Kriegsende.

Stellen wir die Frage nach der Rolle einer aufgeputschten, französischen Öffentlichkeit, die 1945 das Blut von Kollaborateuren sehen wollte beiseite. Fragen wir uns auch nicht weiter, ob Brasillach in einem Anfall von eitler Selbstverkennung seiner Rolle in Paris blieb, als die meisten anderen Vichy-Kompromittierten wohlweislich das Weite suchten. Dass er also selbst das Schicksal herausforderte. Betrachten wir stattdessen die Essenz von de Gaulles Satz über Schriftsteller, literarische Werke und politische Verantwortung. Im Umkehrschluss kann man daraus folgern, dass der General als prominenter Vertreter der Macht akzeptiert, ja verlangt, dass Schriftsteller die Pflicht und Schuldigkeit haben, öffentlich das Wort zu erheben, sich einzumischen, sich für eine Sache zu engagieren. Die französische Geschichte beweist: Man hörte ihnen zu, hörte auf sie. Auch wenn diese Aufmerksamkeit für die Urheber häufig mit Risiken behaftet war.

De Gaulle stammt aus einer konservativ-katholischen, gleichzeitig aber aufgeklärt-fortschrittlichen Familie und kam mit wichtigen Werken seiner Zeit frühzeitig in Berührung. Seine vielbändigen „Memoires“, die übrigens seit 2000 zum Kanon der französischen literarischen Hochkultur zählen, lassen sich als letzter Ausdruck seiner Hochachtung vor dem geschriebenen Wort werten. Anders als viele andere Konservative nahm de Gaulles Familie während der Dreyfus-Affäre Partei für den Angeklagten. Den Stein ins Rollen brachte im Fall des unglücklichen jüdischen Hauptmanns nicht etwa die Justiz oder ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Diese Arbeit übernahm der berühmte Romancier und Journalist Emile Zola. Sein „J’accuse“ war ein ganzseitiger Offener Brief in einer Tageszeitung und der Adressat war kein geringerer als an der damalige Staatspräsident. Der Schriftsteller Zola war sich nicht zu schade dafür, sich in die Niederungen der Politik zu begeben und sich mit den höchsten Mächten im Staat anzulegen. Er suchte keinen Stoff für einen neuen Spionageroman, sondern hatte einen viel aufregenderen Verdacht. Er entdeckte einen tiefsitzenden gesellschaftlichen Antisemitismus als Quell einer Verschwörung. Ein Komplott gegen einen jüdischen Außenseiter, um einen militärischen Geheimnisverrat zu verdecken. Zolas Parteinahme für Dreyfus sollte ungeahnte Wirkungsmacht haben. Seine Enthüllungen brachte den deportierten Hauptmann zurück von der Teufelsinsel. Sie führten qualvoll langsam auch zu Dreyfus‘ Rehabilitierung. Und: die Affäre spaltete das Land auf Jahrzehnte in zwei ideologisch verfeindete Lager. Die France profonde und das aufgeklärte Bürgertum standen sich voller Ressentiments gegenüber. Es waren Schriftsteller auf der extremen Rechten wie der radikalen Linken, die die wortmächtigen Anführer im weiteren Richtungsstreit stellten.

Kein Wunder, dass Wolfgang Matz, Autor, Übersetzer und Verlagslektor, seine Querschnittanalyse „Frankreich gegen Frankreich“ mit der Affäre Dreyfus beginnen lässt. Wie ein roter Faden zieht sich der damals aufscheinende Gegensatz durchs 20. Jahrhundert. Matz stellt seinem Buch einen Satz des Literatur-Nobelpreisträgers Patrick Modiano voran. „Was ist das für eine komische Idee, ja wirklich, all diese toten Dinge aufzurühren. Der französische Schriftsteller verfolgt ‚fast obsessionell die Spuren der dunklen Jahre‘ von Kolloboration und Antisemitismus. Spuren, die viel älter sind und tiefer sitzen, als die wenigen Jahre einer Vichy-Herrschaft von Hitlers Gnade vermuten lassen. Als Literaturwissenschaftler fühlt sich Matz Modianos Kampf gegen Vergessen und Legendenbildung verpflichtet. Er bringt scharenweise Namen von Berühmtheiten von gestern und vorgestern in Erinnerung. Er überprüft die Qualität und Gültigkeit ihrer literarischen Werke ebenso wie die Aussagekraft ihrer politischen Meinungen und öffentlichen Parteinahmen. Matz ackert sich durch eine lange Liste, konfrontiert die Wortführer von damals mit ihren ideologischen Antipoden und/oder Wegbegleitern. Auf diese Weise schreitet er Stück für Stück durch die französische Literaturgeschichte der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Das Ergebnis ist eine literarisch-politische Spurenlese, die zu neuen Befunden und Einsichten führt.

Mit dem Juristen Léon Blum hatte die Dritte Republik 1936 ihren ersten jüdischen Ministerpräsidenten, der einer fragilen, von anfänglicher Begeisterung getragenen Volksfrontregierung vorstand. Frankreich machte einen Juden zum Regierungschef, da in Deutschland Juden unerwünschte Personen geworden waren. Sie sollten laut Nazi-Ideologie aus dem deutschen Volkskörper entfernt werden. Noch nicht durch eine „Endlösung“. Soweit sind wir noch nicht. Dafür waren Diskriminierung und Vertreibung an der Tagesordnung. Aber auch im republikanischen Frankreich wucherte alter wie neuer Antisemitismus – und zwar auf allen Seiten. Wolfgang Matz treibt mit zwei Zitaten ein verwirrendes Spiel. Dem Politiker Blum, der übrigens auch einen Ruf als Schriftsteller hatte, galten zwei Tiraden. Einmal: „Das ist ein Mann zum Niederschießen, aber in den Rücken.“ Die andere geht – in Auszügen – so: „Feuer frei auf Léon Blum, Feuer frei auf die gelehrten Bären der Sozialdemokratie.“ Wer war‘s? Der Name des ersten Heckenschützen überrascht nicht weiter. Es handelt sich um Charles Maurras, der als Ahnherr der faschistischen Action francaise zu Recht in der Vorhölle schmort. Der zweite verbale Attentäter ist Louis Aragon, der heute im Pantheon der großen Poeten thront, ungeachtet aller politischem Verrenkungen. Sie machten den frühen Surrealisten zu einem glühenden Verehrer Stalins. Als kommunistischer Parteigänger hat Aragon Abweichungen von der sowjetischen Generallinie mit Hass und Verachtung vergolten.

Matz gelangt zu keiner posthumen Ehrenrettung für Maurras oder gar Céline. Wie so viele seiner Zeitgenossen hat auch den Mediziner Louis-Ferdinand Céline eine politische Reise hinter sich, die ihn innerhalb weniger Jahre von links an den äußersten rechten Rand führte. Dabei ist der Literat Céline auf der Strecke geblieben. Zum Vorschein kommt der rassistische Pamphletist. Was mit seinen frühen Romanen versprechend begann mit der Anprangerung einer Gewaltmoderne, verrät Céline in seinem Nachkriegswerk endgültig. Matz: „Er hat als Schriftsteller nicht gewagt, dem Schrecken bis zum Ende ins Auge zu sehen.“ Stattdessen erschöpft Céline sich in geiferndem Hass auf den Juden als dem Inbegriff von Schuld und Verhängnis. Der in den Feuilletons immer wieder behandelte „Fall Céline“ ist für Matz der medialen Lust an Skandalisierung und der Wiederholung des Immergleichen geschuldet.

In den 1930er Jahre hatte die französischen Schriftsteller das große Reisefieber ergriffen. Bevorzugtes Ziel war die nachrevolutionäre Sowjetunion. Der berühmte André Gide kam ernüchtert wieder, Er mühte sich in seinem Reisebuch „Retour de l’U.R.S.S.“ um ein abgewogenes Bild, sieht aber neben gesellschaftlichen Fortschritten auch eine neue Nomenklatura entstehen, erblickt Armut und Hässlichkeit und entdeckt eine repressive Sexualmoral. Fortan war Gide für die Linken in Frankreich ein Nestbeschmutzer. Am Verkaufserfolg seines Buchs änderte das aber nichts.

Louis Aragon hingegen schob seine eigenen, verstörenden Reiseerfahrungen beiseite. Er verhöhnte in seinem Aufsatz „Vérités élémentaires“ (Grundwahrheiten) die Angeklagten der Moskauer Prozesse als „Mörder, Verräter und Kanaillen“. Für ihn stand etwas anderes, wichtigeres als literarische Wahrhaftigkeit auf dem Spiel: Die Einheit der Linken in Frankreich und ihr Glaube an das Vorbild Sowjetunion. Der marxistische Zweifel blieb da auf der Strecke. Ein Sieg der Ideologie über die Literatur.

Der Bannstrahl von Aragons Verachtung traf auch den Kollegen Pierre Drieu la Rochelle: Ihm wurde öffentlich hinterhergerufen: „Du hast es so gewollt, Schatten, verschwinde, Adieu“. Damit war das Tischtuch zwischen zwei alten Freunden und Weggefährten aus surrealistischer Zeit zerschnitten, unwiderruflich. Wenn diese Generation bei allem Talent eines konnte, dann war es hassen, bedingungslos und abgrundtief.

Matz zeigt in geduldiger Kleinarbeit, dass Drieu trotz seiner politisch hoch fragwürdigen Rolle während der Vichy-Zeit mehr war als ein von morbider Todessehnsucht getriebener Dandy, Romancier, Politiker, der übrigens in allen drei Fächern nur mäßig erfolgreich war. Drieus „Komödie von Charleroi“ machte ihn bekannt als einen jener Überlebenden des großen Weltkriegs-Gemetzels, der seine Erlebnisse in Romanform verarbeitete. Anders als ein Ernst Jünger in Deutschland verklärt Drieu soldatisches Heldentum nicht dergestalt, dass er dessen dunkle Seite unterschlägt. Zum Heroismus gehören für ihn untrennbar auch Depression, Schmerz, Resignation. Drieu teilte mit vielen rechten wie linken Schriftstellern die Überzeugung, die letzten Tage einer bürgerlichen Gesellschaft zu erleben. Er war ein antikapitalistischer Zivilisationskritiker. Das hatte er mit vielen Intellektuellen gemeinsam. Sein „Sonderweg“ bestand darin, nicht an eine epochale Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Kommunismus zu glauben. Für ihn lief alles auf die Konfrontation von USA und UdSSR als den kommenden Weltmächten hinaus. Das alte, zersplitterte Europa mit seinen müden Kulturnationen würde dazwischen unweigerlich zerrieben. Das machte ihn – obwohl er kein Antisemit war – zu einem Parteigänger von Nazi-Deutschland. Diese fatale politische Option kostete ihn 1945 das Leben, standesgemäß durch Freitod.

Einen direkten Vergleich des unterschiedlichen Stellenwerts von Schriftstellern in Frankreich und Deutschland findet man bei Wolfgang Matz nicht. Wohl aus Gründen der Übersichtlichkeit der Themenstellung und der Materialfülle. Doch wesentliche Unterschiede fallen auch so auf. Für einen Jean Giraudoux oder einen Paul Claudel findet sich keine Rollen-Entsprechung im Personal der Weimarer Republik. Unvorstellbar für deutsche Verhältnisse, dass ein ranghoher Diplomat aus der Berliner Wilhelmstrasse eine Parabel wie „Der Trojanische Krieg findet nicht statt“ geschrieben hätte. Unvorstellbar, dass ein deutscher Schriftsteller sein Land im Ausland repräsentiert, wie Claudel es tat. Unvorstellbar schließlich, dass André Malraux, Zeit seines Lebens ein Reisender zwischen Kontinenten und Weltanschauungen, in Deutschland jemals Kulturminister einer konservativen Regierung geworden wäre

Die Dritte Republik, deren Dauer von 1870 bis 1940 währte, war nicht nur eine Republik der Advokaten sondern auch eine der Literaten. Das hat wesentlich mit zwei Dingen zu tun. Anders als ihre deutschen Kollegen führten viele Schriftsteller in Frankreich ein sozialökonomisch gesichertes Leben. Sie konnte sich ihre Subsistenz erwirtschaften oder hatten einen bürgerlichen Beruf, als die Poeten im restfeudalen Deutschland noch von Mäzenen lebten und den zweifelhaften Ruf von ausgehaltenen Gestalten und windigen Genies hatten. Daher rührt die – zuweilen arrogante – französische Überzeugung, dass am Anfang aller Dinge das Wort war, und dass Schriftsteller die berufenen Propheten der modernen Gesellschaft seien. Eine Selbsteinschätzung, die wie sich am Beispiel des Romain Rolland zeigt, keiner Realität standhält.

Dieses Buch gibt farbig und detailkundig die innere Zerrissenheit und Erschöpfung eines zentraleuropäischen Landes wieder und zeichnet gleichzeitig verwirrende Konversionen nach. Etwa die Frage, ob die Interessen der Nation / Republik besser bei den Rechten oder Linken aufgehoben sind. Oder: Ist der provencalische Einzelgänger Jean Giono mit seinem magischen Realismus wie in „Bleibe, mein Freund“ (1935) und seinem politisch-radikalen Pazifismus eher der einen oder der anderen politischen Seite zuzuordnen?

Allerdings: Was sich Matz in geduldiger Arbeit über 200 Seiten lang an Gegensätzen und Übereinstimmungen rekonstruiert, möchte er auf den allerletzten Seiten in die Sphäre von abgelebter Geschichte verweisen. Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts haben abgewirtschaftet und ihre Strahlkraft verloren. So weit, so gut. Aber Matz will nur zu gern glauben, dass Emmanuel Macron mit seinem präsidialen Leitspruch „ni gauche, ni droite“ die große nationale Versöhnung bringt. Nur übersieht er dabei, dass mit dem gleichen Elan einer Sammlungsbewegung schon nach dem Zweiten Weltkrieg der klassische Gaullismus antrat – und sich verbraucht hat. Warum soll es Macron anders ergehen? Die Frontstellungen mögen mittlerweile verschoben haben, aber die Extreme sind weiter vorhanden. Sie berühren sich, überschneiden sich. Das Zeitalter der Globalisierung bedeutet kein Ende der Gegensätze, ganz im Gegenteil. Das Einzige, was fehlt, sind Schriftsteller, die wie noch Sartre zu seiner Zeit mit ihrem Engagement als Leitbilder taugen. Die Aufregung, die ein Houellebecq regelmäßig erzeugt, reicht da nicht.

Michael André

Bild: Retour d’écrivains français de voyage en Allemagne, Pariser Gare, 

Photographie Parie dans le quotidien „Paris-Soir“ am 3. November 1941.

Datum 3. November 1941 | Quelle Quotidien „Paris-Soir“, 3. November 1941.

Autor „Paris-Soir“

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Cover © Wallstein Verlag

Wolfgang Matz: Frankreich gegen Frankreich.

Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie.

Wallstein-Verlag, Göttingen 2107

240 Seiten. 22 Euro

Auch als E-Book erhältlich.