Auf der  Webseite Edge stellen sich Wissenschaftler und Vordenker der Frage des Jahres  – was verbessert unsere Fähigkeit der Erkenntnis?

In der deutschen Kultur wird oft ein geradezu göttlicher Maßstab an die Wissenschaft gelegt: Man erwartet alles von ihr und gibt sich maßlos enttäuscht, wenn sie es nicht erreicht. Entweder wird sie deswegen im Geniekult verehrt, die zeitgenössische bildende Kunst liefert hierzu täglich die albernsten Beispiele, oder sie wird im Unverständnis abgestoßen wie ein Allergen, während man gleichzeitig gern Abseitiges wie Goethes Farbenlehre favorisiert.

In der angelsächsischen Kultur ist das anders, und ganz sicher hat ihre anhaltende weltweite Strahlkraft auch damit zu tun. So gründeten die frühmodernen Londoner Naturforscher um Humphry Davy ihren Ruf nicht nur auf spektakuläre Entdeckungen, sie bemühten sich genauso stark um ihre Vortragskunst. Das Ziel war der Transfer des Wissen ins Auditorium. Das ist klug, denn die Wissenschaft hat wie keine andere Bewegung seit der französischen Revolution das Leben auf dem Planeten verändert und diese Führungsrolle mitnichten eingebüßt. Im Gegenteil. Wenn heute immer mehr Menschen davon ausgehen, dass die Todesstrafe nicht abschreckend, sondern verheerend wirkt, so handelt es sich nicht um einen neuen Glauben an eine höhere Gerechtigkeit. Vielmehr ist es der Triumph jenes Denkens, das die Werkzeuge der Rationalität – hier sind es Sprachlogik und Statistik – nutzt, um eine Aussage zu machen, die der geläufigen Annahme komplett widerspricht.

Sprachlogik, Statistik und ähnliche Fertigkeiten sind jedoch nicht in Badelatschen an der Tanke zu haben. Man muss sie sich aneignen. Sich nicht als Besserwisser mit Herrschaftsanspruch zu geben, wie es im Glauben oft geschieht, sondern auch der Vermittler der Erkenntnis zu sein, ist daher nicht nur eine ehrenwerte Aufgabe. Sie sollte genau so selbstverständlich zum Profil des Forschers gehören, wie der Arzt seinen hippokratischen Eid leistet. Erkenntnisse sind lebenswichtig, und, schlimmer noch, sie können auch missbraucht werden: Die großen menschenfeindlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts gaben sich wissenschaftlich. Wissenschaft sollte sich besser kommunizieren.

Umso erfreulicher, dass die von Literaturagent John Brockman in New York gegründete Edge Foundation als Netzwerk prominenter Wissenschaftler und Denker seit 1988 der gegenseitigen Ignoranz von literarischer Kultur und Wissenschaft entgegenwirkt. Mit Erfolg. Nach dem von Larry Page und Sergej Brin entwickelten Algorithmus, der die Güte der Verlinkung misst, erreicht die Website von Egde (www.edge.org) auf der zehnteiligen Skala der weltweit meistverlinkten Webseiten den Rang sieben. Die New York Times liegt bei neun, ebay bei acht.

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Neue Fragen können neue Untersuchungen,

neue Methoden und sogar neue Theorien erfordern.

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Ein Höhepunkt der Edge-Aktivitäten sind jeden Januar die Antworten auf die Frage des Jahres. Gab es 2010 noch gut 130 Kurzessays zum Internet, und wie es das Denken verändert, so verlängert Edge diese Frage jetzt: Gesucht ist das  wissenschaftliche Konzept, das Jedermanns Erkenntnisapparat verbessert.

Harvard-Psychologe Howard Gardner erinnert zum Beispiel mit Karl Popper daran, dass man einen Standpunkt durch Gegenbeweis prüft. Kreationismus oder wachsende Skepsis am humanen Beitrag zum Klima sähe er gern so geprüft. Wenn der Gegenbeweis scheitert oder gelingt ist alles gut. Wenn es keinen gibt, handelt es sich um Religion oder Ideologie, wie die des freien Marktes.

Internetkritiker Nicholas Carr wirkt dagegen erstaunlich konservativ, indem er noch einmal erklärt, wieso zu viel Information den kleinen Arbeitsspeicher des menschlichen Hirns überfordert und einen nachdenkenden Menschen auf der Suche nach der Lösung eines Problems leicht in einen verwandelt, der vom Fernseher aufgestanden ist, jetzt in der Küche steht und sich fragt, was er denn gerade noch wollte. Beschränkung ist Carrs derzeit wohl konsensfähiges Konzept, das jedoch nicht für Steven Weinberg gelten kann. Der Physiknobelpreisträger hat einen großen Teil seiner Arbeit mit einem Kleinfernseher auf dem Schreibtisch gemacht, der ihn mit Seifenopern bei Laune hielt.

Auch der Direktor für das Center for Cognitive Studies der Tufts University Daniel C. Dennett hält nichts von Ablenkung. In der Wiederholung liegt für ihn ein Schlüssel zum Fortschritt: Unser Vorfahr wirkte stupide, als er endlose Stunden den Stein polierte, aber dann hatte er eine symmetrische glatte Axt in der Hand und die nächsten Stufe der Entwicklung erreicht. Überhaupt mache die Evolution nichts anderes: Wiederholung sei das Zauberwort der Natur vom Wasserkreislauf bis zum Zellstoffwechsel.

Der Computervisionär an der Yale University David Gelernter schwört ebenfalls auf rekursive Strukturen. Bei einem kleinen Rundgang durch die mittelalterliche Architektur sieht er die Spiegelung der großen Form im Kleinen als gemeinsame Größe von Kunst und Technologie. Ohne den Begriff der rekursiven Struktur bliebe die Beschreibung aber ebenso wie das Verständnis des Gesehenen chaotisch, wohl wie man es vom Himmelszelt vor Kopernikus kennt. Es wäre, so der Computerspezialist, ein Verlust für neue Technologien.

Wie ein glatter Widerspruch liest sich da zum Glück Lisa Randall. Sie nennt schlicht Wissenschaft als Konzept, und was sie erklärt, wäre auch für Thilo Sarrazin hilfreich. Die Physikerin aus Harvard betont, dass zu einer robusten wissenschaftlichen Aussage die Kenntnis um ihren Anwendungsbereich gehört, also auch die Grenze der Gültigkeit. Außerhalb des Kontextes und ohne wissenschaftliche Untersuchung läuft man schnell in den Irrtum. Die ,,Effektive Theorie‘‘ ist Randalls Erkenntnisbegriff und das Zaubermittel  gegen Verkalkung: Neue Fragen können neue Untersuchungen, neue Methoden und sogar neue Theorien erfordern. Das ist einfach, richtig und wichtig.

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Ein dichtes Netz einzelner Normalintelligenzen

ist fruchtbar genug für die Schönheit der Welt.

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Mit der Warnung vor nutzloser Sicherheit nimmt Carlo Rovelli nur scheinbar eine Gegenposition ein. Der in Südfrankreich lebende und lehrende Physiker meint, das der Begriff vom wissenschaftlich Bewiesenen schon beinahe ein Oxymoron sei, schließlich sei das Fundament der Wissenschaft der Zweifel.

Der Informatiker Jaron Lanier würde Rovelli sicher zustimmen, obwohl er von derselben Geschichte quasi die Rückseite erzählt. Lanier erinnert sich an seine Kindheit, in der man Flüsterpost spielte: Ein Satz wird dem Nachbarn ins  Ohr geflüstert und erst wieder laut gesprochen, wenn er einmal durch die Runde gelaufen ist. Lanier hat jetzt mit dem Google-Übersetzer gespielt. Man übersetze zum Beispiel mehrfach den Satz ,,Das begrenzte Wissen erzeugt faszinierende Online-Diskussionen‘‘. Nach Hebräisch, Chinesisch und Englisch wieder ins Deutsche geholt lautet er: Begrenztes Wissen zu schaffen, eine  faszinierende Online-Diskussion. Wie im kindlichen Telefonspiel wird hier die Illusion der reinen Information zerstört. Nach endlich vielen Schritten mag der Satz noch einen Sinn ergeben, aber er hat mit der Ausgangssituation nichts mehr zu tun: Wir stehen, so Lanier, einem kumulierten Fehler gegenüber.

So geschah es in der Finanzkrise. Was an sich der Finanzierung eines Hauses dienen sollte, wurde Schritt für Schritt etwas anderes und vom Haus restlos unabhängig. Lanier warnt vor den starken Illusionen, die die Informationstechnologie erzeugen kann. Vom Nutzer des sozialen Netzwerkes bis zum Käufer der Information, der sein Produktdesign nach ihm richten will, oder zum politischen Gremium, das seine Entscheidung mit der Mehrheit konform fällen möchte, sind zu viele Fehler möglich, die sich kumulieren. Jeder einzelne Schritt sieht einigermaßen sinnvoll aus, während das ganze System sich mit einem steigenden Grad an Unsinn infiziert.

Produzent und Rockstar Brian Eno, der bei Edge schon mal seine maoistische Jugend entsorgte, begeistert sich für Ökologie. Charmant macht Eno Kopernikus und Darwin zu ihren Begründern: Durch sie haben wir verstanden, nicht die Allergrößten schlechthin zu sein, sondern Teil eines Ganzen. Wir brauchen nicht mehr die überlegene Superintelligenz da oben draußen. Ein dichtes Netz einzelner Normalintelligenzen ist fruchtbar genug für die Schönheit der Welt. Übrigens: Stephen Hawking soll sich beim Lesen von Enos Beitrag in der Kunst des Lächelns und Schweigens geübt haben.

Überhaupt: die Kunst. Der in London tätige Kurator Hans Ulrich Obrist bemerkt, dass es neben den Schüben der Globalisierung immer auch den Rückzug ins Lokale gibt. Lokales entsteht überall und jederzeit neu. Erst der Kontext macht die Kunst, das Objekt selbst hat keine Bedeutung. Das klingt schon ziemlich marxistisch. Wenn der Mangel als treibende Größe auch noch von der Überproduktion abgelöst wird, kommen der Auswahl, Präsentation und Bewahrung aber tatsächlich wichtige Rollen bei der Erzeugung von und dem Handel mit Werten zu. Kuratiert wird dann immer und überall, es ist das Wichtigste, das dem Menschen zur Verfügung steht: Die Wahl. Sie bleibt auch in der Frage nach dem besten Konzept der Welterkennung gewiss unsere Qual. Schließlich irrt der Mensch, solang er strebt.

Text: Ralf Bönt

Mehr von und über Ralf Bönt  finden Sie auf seiner website ralf-boent.de

Text erschienen in Süddeutsche Zeitung

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