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Das 66. Filmfestival von Locarno zeigt eine Retrospektive mit dem Werk von George Cukor.
Kein anderer Hollywoodregisseur inszenierte Frauen so schön und so stark

Man nannte sie «Seafood». Die jungen, muskulösen Matrosen von Long Beach, die George Cukor (1899–1983) so gerne vernaschte. Gegen Geld. Weil er privat an Romantik und festen Bindungen bis auf ein einziges Mal in seinem Leben nicht interessiert war. Wenn sie sehr schön waren, setzte er sie als Statisten in seinen Filmen ein. An Sonntagabenden veranstaltete er mondäne Schwulenpartys in seiner üppig verkitschten Villa in den Hollywood Hills, sein grösster Konkurrent war dabei der Komponist Cole Porter. An Cukors Partys war das Essen besser, bei Porter die Musik.

Abgesehen davon gehörte George Cukors Leben und sein lustvolles, turbulentes, charmantes Werk ganz und gar den Frauen. Es gehörte zuallererst Katharine Hepburn, seiner lebenslangen besten Freundin, die er für Hollywood entdeckte und mit blendenden Gesellschaftskomödien wie «The Philadelphia Story» (1940, eine Frau muss sich zwischen drei Männern entscheiden) oder «Adam’s Rib» (1949, ein Anwalt und eine Anwältin scheiden sich) ganz gross zu machen verstand. Dabei hatte die schmale, athletische, brüske und nicht klassisch schöne Schauspielerin zuerst als Kassengift gegolten.

Sein Herz gehörte aber auch der rätselhaften und ebenfalls nicht sehr weiblichen Schwedin Greta Garbo, mit der er unter dem Titel «Camille» (1936) Alexandre Dumas’ Tragödie von der schwindsüchtigen Pariser Kultkurtisane, der «Kameliendame», verfilmte. Es schmolz dahin für eine andere Schwedin, Ingrid Bergman, die er im Kostüm-Psychothriller «Gaslight» (1944) als kostbare, dem Wahnsinn ihres Mannes ausgelieferte Schönheit inszenierte. Es gehörte für kurze Zeit, am Ende ihres Lebens, der Monroe, mit der er die belanglose Showgirl-Romanze «Let’s Make Love» (1960) drehte – das gemeinsame «Something’s Got to Give» (1962) musste unvollendet bleiben. Er liebte die lustige und hyperintelligente Judy Holliday mit ihrem IQ von 172, die später Madonnas grosses Vorbild wurde. In Filmen wie «Born Yesterday» (1950, eine Gangsterbraut wird gesellschaftsfähig) oder «It Should Happen to You» (1954, ein Mädchen mausert sich zum It-Girl) zeigte er sie als süsse, schlaue, schlagfertige Göre.

Auch Meg Ryan entdeckte er

George Cukor war der Mann, der Frauen machte, ein Bruder des Professor Higgins aus «My Fair Lady» quasi, der dem Blumenmädchen Eliza Doolittle zum Aufstieg verhilft. Wie bei Higgins lernten die Frauen auch bei Cukor zu sprechen, sie waren frisch, geistreich, scharfsinnig und enorm schnell auf der Leinwand – und sind es heute noch. Er ermöglichte und erzog und zog sie an – auch modisch: Wochenlang konnte er sich mit seinen Leading Ladys über Kostüm- und Frisurfragen unterhalten. «My Fair Lady» (1964) mit Audrey Hepburn liebte er von all seinen Filmen allerdings am wenigsten. «Ich darf nicht daran denken, dass es sich dabei um ein Musical handelt, ich stell mir einfach vor, es sei ein Film mit Musik», sagte er einmal. Ausgerechnet dafür gewann er seinen einzigen Regie-Oscar.

Doch zuerst war Cukor nicht als Frauensachverständiger nach Hollywood gekommen, sondern als Sprachtrainer für Stummfilmstars, die sich an den Tonfilm gewöhnen mussten. Zu denen, die nie zu einer Leinwandstimme fanden, gehörte ein gewisser Bill Haines; er wurde schliesslich Innedekorateur und gestaltete Cukors Villa. Ihre Freundschaft kostete Cukor einen der grössten Jobs der Filmgeschichte, die Regie von «Gone with the Wind» (1939). Haines hatte nämlich einmal einen Stricher gekauft, und ausgerechnet der sollte nun der Star des Films werden – er war inzwischen homophob und judenfeindlich und hiess Clark Gable. Cukor hatte da bereits zwei Jahre seines Lebens mit dem Casten von Schauspielern und als Location Scout für «Gone with the Wind» vertrödelt. Doch Gable weigerte sich, «mit Schwuchteln» zu arbeiten, Cukor wurde entlassen, der homophobe und antisemitische Victor Fleming übernahm.

George Cukor wurde 1899 als Sohn eines aus Ungarn eingewanderten jüdischen Anwaltsassistenten in Lower Manhattan geboren. Er war schon als Jugendlicher fasziniert vom Broadway und vom Kino, er liebte das Licht, das sich so gnädig über alles legte und die Fehlerhaftigkeit der Menschen auflöste in seinem Schimmer: Er, der pummelige Junge, verschmolz mit den schönen Frauen, es war eine zutiefst glückliche Überidentifikation. «Reich und berühmt» war schon bald sein Lebensziel, «Rich and Famous» (1981, siehe Piazza-Programm) heisst auch sein letzter Film mit Jacqueline Bisset und Candice Bergen. Die beiden spielen beste Freundinnen, die eine eine intellektuelle Schriftstellerin, die andere eine trashige Bestsellerautorin. Aber Cukors wahrer Verdienst besteht in diesem 80er-Jahre-Schulterpolster-Drama in der Entdeckung einer blutjungen Begabung namens Meg Ryan.

Cukor hatte selbst als Teenager Theater gespielt, war bald zum Regisseur eines Sommertourneebetriebs aufgestiegen, kam von da zum Broadway und schliesslich nach Hollywood. Die leisen intellektuellen Zweifel, die ihn als Theaterregisseur der Ostküste gegenüber den Unterhaltungsgiganten der Westküste geplagt hatten, legte er schnell ab, die einzigen Probleme, die er mit seinen Vorgesetzten hatte, waren seine zeitraubende Gründlichkeit und Detailversessenheit, die oft ein Budget sprengten. Er war Hollywoods Partyliebling und Tratschtante, und er war grosszügig zu seinen Gästen – an einer Weihnachtsparty verschenkte er an alle Zeichnungen von Picasso. Und sein Leben lang finanzierte er seine unglückliche Schwester mit ihrer behinderten Tochter.

111 Frauen, kein Mann

Er beschäftigte mehr Drehbuchautorinnen als jeder andere Hollywoodregisseur, nämlich für 60 Prozent seiner Filme, und er legte jedes einzelne Drehbuch einer besonders feministischen Freundin vor, die noch einmal scharf prüfte, ob seine Diven auch auf ein weibliches Publikum so unabhängig und stark wirkten, wie er sich das vorstellte. Sein grosszügigstes Denkmal setzte er den Frauen mit «The Women» (1939), einem «Sex and the City» der 30er-Jahre über Leben, Lieben und Leiden von New Yorker Playgirls: Es spielen darin 111 Frauen – und kein einziger Mann.

Am 23. Juni 1983, nach fast 70 Filmen und wenige Stunden nach einem letzten Abendessen unter Freunden, starb George Cukor. Sein Haus vererbte er dem einzigen Mann, den er je geliebt hatte, auch der hiess George. All sein Geld vermachte er: Frauen.

 

Simone Meier, Tages-Anzeiger 04.08.2013

 

My Fair Lady (1964) – George Cukor

Festival del film Locarno
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MEHR INFORMATION:

RETROSPEKTIVE | GEORGE CUKOR

Das Festival präsentiert das integrale filmische Werk des Regisseurs: rund 50 Titel, die während der elftägigen Veranstaltung in den besten zur Verfügung stehenden Kopien gezeigt werden, so ist auch der Film «Let’s Make Love» mit Marilyn Monroe in der Hauptrolle (siehe Trailer) programmiert, mit ihr war Cukor durch mehrere Filmarbeiten verbunden. Begleitet werden die Vorführungen von Diskussionen über das Filmschaffen George Cukors.

 

Filmprogramm der Retrospektive George Cukor

GRUMPY – Stati Uniti – 1930

THE ROYAL FAMILY OF BROADWAY (La famiglia reale di Broadway) – Stati Uniti – 1930

THE VIRTUOUS SIN (Peccato Virtuoso) – Stati Uniti – 1930

GIRLS ABOUT TOWN (Ragazze per la città) – Stati Uniti – 1931

TARNISHED LADY (Il marito ricco) – Stati Uniti – 1931

A BILL OF DIVORCEMENT (Febbre di vivere) – Stati Uniti – 1932

ROCKABYE (Labbra proibite) – Stati Uniti – 1932

WHAT PRICE HOLLYWOOD? (A che prezzo Hollywood?) – Stati Uniti – 1932

DINNER AT EIGHT (Pranzo alle otto) – Stati Uniti – 1933

LITTLE WOMEN (Piccole donne) – Stati Uniti – 1933

OUR BETTERS (I nostri superiori) – Stati Uniti – 1933

DAVID COPPERFIELD – Stati Uniti – 1935

SYLVIA SCARLETT (Il diavolo è femmina) – Stati Uniti – 1935

CAMILLE (Margherita Gauthier) – Stati Uniti – 1936

ROMEO AND JULIET (Giulietta e Romeo) – Stati Uniti – 1936

HOLIDAY (Incantesimo) – Stati Uniti – 1938

THE WOMEN (Donne) – Stati Uniti – 1939

THE PHILADELPHIA STORY (Scandalo a Filadelfia) – Stati Uniti – 1940

A WOMAN’S FACE (Volto di donna) – Stati Uniti – 1941

TWO-FACED WOMAN (Non tradirmi con me) – Stati Uniti – 1941

HER CARDBOARD LOVER (Avventura all’Avana) – Stati Uniti – 1942

KEEPER OF THE FLAME (Prigioniera di un segreto) – Stati Uniti – 1942

SUSAN AND GOD (Peccatrici folli) – Stati Uniti – 1942

GASLIGHT (Angoscia) – Stati Uniti – 1944

WINGED VICTORY (Vittoria Alata) – Stati Uniti – 1944

A DOUBLE LIFE (Doppia Vita) – Stati Uniti – 1947

EDWARD, MY SON (Edoardo, mio figlio) – Stati Uniti – 1948

ADAM’S RIB (La costola di Adamo) – Stati Uniti – 1949

A LIFE OF HER OWN (L’indossatrice) – Stati Uniti – 1950

BORN YESTERDAY (Nata ieri) – Stati Uniti – 1950

THE MODEL AND THE MARRIAGE BROKER (Mariti su misura) – Stati Uniti – 1951

PAT AND MIKE (Lui e lei) – Stati Uniti – 1952

THE MARRYING KIND (Vivere insieme) – Stati Uniti – 1952

THE ACTRESS (L’attrice) – Stati Uniti – 1953

A STAR IS BORN (È nata una stella) – Stati Uniti – 1954

IT SHOULD HAPPEN TO YOU (La ragazza del secolo) – Stati Uniti – 1954

BHOWANI JUNCTION (Sangue misto) – Stati Uniti – 1956

LES GIRLS – Stati Uniti – 1957

WILD IS THE WIND (Selvaggio è il vento) – Stati Uniti – 1957

HELLER IN PINK TIGHTS (Il diavolo in calzoncini rosa) – Stati Uniti – 1960

LET’S MAKE LOVE (Facciamo l’amore) – Stati Uniti – 1960

THE CHAPMAN REPORT (Sessualità) – Stati Uniti – 1962

MY FAIR LADY – Stati Uniti – 1964

JUSTINE (Rapporto a quattro) – Stati Uniti – 1969

TRAVELS WITH MY AUNT (In viaggio con la zia) – Stati Uniti – 1972

LOVE AMONG THE RUINS (Amore fra le rovine) – Regno Unito – 1975

THE BLUE BIRD (Il giardino della felicità) – Stati Uniti – 1976

THE CORN IS GREEN – Stati Uniti – 1979

RICH AND FAMOUS (Ricche e famose) – Stati Uniti – 1981

 

QUELLE via festivalonline.ch