„Kinofreie“ Regionen gibt es viele auf der Welt, auch hierzulande. Allein 2009 mußten bei uns 170 Lichtspieltheater  schließen. Doch nicht nur die Kinos in der Provinz und die Programm- und Arthouse Kinos, die keiner kapitalstarken Kinokette angehören, stehen unter Druck, sondern zunehmend auch Häuser in großen Städten. Hohe Mieten der häufig attraktiv gelegenen Immobilien und steigende Ausgaben für neue digitale Techniken machen den Kinos ebenso zu schaffen wie demografische Veränderungen.

Vor allem das ältere, zahlungskräftige Publikum bleibt den Lichtspieltheatern immer ferner. Hinzu kommen die Konkurrenz anderer medialer Plattformen, Marketing Konzepte, die vielfach ein homogenes/einseitiges Filmangebot generieren, und ein Verleih- und Vertriebssystem mit eingefahrenen Strukturen.

Ein Blick zurück in die Anfänge des Mediums zeigt wie sehr die Präsentationsformen und die Standardisierung der Ware Film mit dem Sesshaftwerden der Bilder in ortsfesten Institutionen verbunden sind. Lange bevor es erste an Theatern- und Opernhäusern orientierte Kinosäle gab existierten so genannte Wanderkinos. Diese hatten sich aus Varietes herausgebildet und gehörten zur Jahrmarktskultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Schausteller mit mobilen Projektions- bzw. Vorführtechniken zogen umher und versorgten sowohl ländliche als auch städtische Regionen mit ihrem Filmangebot. Als Vorführraum diente ein Zelt oder aber es wurden vorhandene Einrichtungen wie Schulen oder größere Gasträume genutzt. Das Programm der „ambulanten Kinematographie“ – so nennt die Filmwissenschaft diesen Abschnitt Kinogeschichte – umfasste ein breit gestreutes Repertoire. Reisereportagen, Wissenschaftliches, Derb-Komisches, Erotisches aber auch Dramen und Trickfilme, jedoch alles als Kurzfilm. Nicht selten hatten die Filmvorführer ein Kontingent von bis zu 100 Filmen zur Verfügung, die sich alle im Besitz der Wanderkino-Inhaber befanden und je nach Stimmung und Publikum unterschiedlich zusammengestellt wurden. Auch die Eintrittspreise waren flexibel, so dass Menschen aller sozialer Schichten angesprochen wurden. Rund 500 Wanderkinounternehmen erreichten in Deutschland 1904 pro Woche etwa eine Million Zuschauer.

Wenige Jahre später ergab sich dann aber mit einer abfallenden Konjunktur eine veränderte Situation. Leerstehende Geschäfte wurden in Kinosäle umgewandelt, das Wanderkino mutierte zum Ladenkino. Stationär geworden konnte das Filmerlebnis stärker in den modernen Alltag integriert werden. Man konnte erstmalig spontan und fast jederzeit ins Kino gehen. Doch erst nach dem 1. Weltkrieg bildeten sich die Rezeptionsformen heraus, die wir heute kennen: der Langfilm, der im wesentlichen eine Geschichte erzählt, ein Kinoraum mit weitgehendem Sprechverbot und festen Sitzen, und ein Verleihsystem, welches bis heute für die Verteilung der Kinofilme bestimmend ist. Vor allem letzteres führte zum endgültigen „Aus“ der Wanderkinos.

Doch in vielen Ländern außerhalb Europas sah und sieht die Sache anders aus. So etwa in Indien, wo Zeltkinos die einzige Unterhaltung für Millionen von Menschen darstellen ­– wenngleich auch hier mittlerweile DVD und Internet die „road movie“ Kultur bedrohen – oder in Argentinien. Wie in Zeiten des frühen europäischen Wanderkinos ziehen hier so genannte „Cine Móviles“ über das riesige Land und bringen ein anspruchsvolles Filmprogramm noch in die entlegendsten Gegenden. Schulen, soziokulturelle Einrichtungen, Altenheime, aber auch Gefängnisse werden bespielt.

Die Tradition des argentinischen Wanderkinos bringt nun ein von der Bundeszentrale für politische Bildung unterstütztes Projekt auch nach Deutschland. Argentinische Filme, die sich mit der politischen und sozialen Realität des Landes auseinandersetzen, werden in insgesamt 16 Bundesländern an den unterschiedlichsten Lokalitäten abgespielt, unter anderem in Kirchen, Kneipen und Knästen.

Vielleicht kann dieses Modell Schule machen, um Filme jenseits des Kommerzmainstreams an ein Publikum zu bringen, welches weder die Möglichkeit noch den Impuls hat (andere) Filme zu sehen. Ambulante Kinos könnten den Blick für ungewöhnliche/fremde Filmformen und -Kulturen schärfen, und auch für Kinogeschichte. Denn letztendlich scheint es doch so, als würde mit dem Seßhaftwerden nicht nur der Mensch, sondern auch das Kino (als Vertriebssystem) an Beweglichkeit einbüßen.

Text: Daniela Kloock


Die Tour der „Cine Móviles“ startete am Samstag, den 28.8. 2010 im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin im Rahmen der langen Nacht der Museen mit der Aufführung von „Die verschwundene Umarmung“ (El Abrazo Partido, Regie: Daniel Burman, Argentinien 2003)

Am 02.09. 2010 gibt es in Berlin ein weiteres Programm der „Cine Móviles“ in der Justizvollzugsanstalt Charlottenburg.

Zum Abschluss wird das Cine Móvil vom 6. bis zum 10. Oktober 2010 bei der Buchmesse in Frankfurt am Main vor Ort sein, wo sich in diesem Jahr Argentinien als Gastland präsentiert.

Das Projekt bringt die Tradition des argentinischen Wanderkinos nach Deutschland. Diese öffentlichen und kostenlosen Kinoveranstaltungen versorgen die „kinofreien“ Zonen Argentiniens, die mittlerweile etwa 80 Prozent des Landes ausmachen, mit – zumeist – argentinischer Filmkunst. Daran anlehnend reist Cine Móviles in Deutschland durch alle 16 Bundesländer und besucht dabei sowohl „kinoarme“ Regionen als auch große Städte wie Hamburg, Leipzig und München. Wie in Argentinien sind die Kinovorstellungen gratis. Die Filme sind deutsch untertitelt, werden aber auf Wunsch des Publikums auch Deutsch eingesprochen.

Weitere Infos unter: Cine Móviles – Argentinisches Wanderkino