BÜCHERBRIEF AN HAZEL

liebe hazel,

du kennst doch diese wirren mit zahlen versehenen punkte, meist in den wochenendebeilagen der zeitungen, auf den rätsel- oder kinderseiten: und wenn du die punkte in der richtigen reihenfolge miteinander verbindest, hast du am ende einen schubkarren gezeichnet oder rapunzel. und weil’s vorhin eine schildkröte geworden ist (mußte mal ein bißchen luft holen im denken: da kam mir so’n abseitiges rumgekritzel sehr zupaß), kriegste jetzt sowas wie einen brief, dem ich das zahlentier, ausgeschnitten, für deine sammlung beilege. außerdem – und weil der zufall immer hübsch mit von der partie ist – steht gerade in dem roman von verena lueken (der keiner ist, sondern: traumaverarbeitung, essay, erinnerungsgestöber) auch noch ein gruß an dich: „hey hazel, how a’ya“, ruft einer auf seite 19 über die straße. lesen wollte ich das buch seit längerem: da überlebt eine zum dritten mal den lungenkrebs, an dem ein alter, enger freund so jämmerlich krepiert ist: und lueken kannte ihn, sie hat über die filme geschrieben, die er produziert hat. lesen wollte ich, natürlich, in diesem fall nicht so sehr das vorgeblich literarische, sondern suchte nach, keine ahnung, was genau: verbindungen, zusammenhängen, anknüpfungspunkten? was treibt einen bei solchen büchern: die hoffnung, in fremden leben auf vertrautes zu stoßen? die toten in den worten anderer zu finden, selbst wenn von ihnen mit keinem wort die rede ist?
das, was mich bei patti smith getroffen hat, wie ein schlag aufs herz: daß sie, wie sie in ‚m train‘ schreibt, auf einem flug nach tokio jahre nach dem tod ihres mannes weinend dachte, „komm endlich zurück. du warst lange genug fort“: das taucht in luekens buch, sehr ähnlich, über ihre verstorbene mutter auf: und es liest sich nicht mehr wie eine wahre empfindung. sondern wie ein abgewandeltes zitat. kann trotzdem sein, sie hat genau so gefühlt. denn da ist eine aufrichtigkeit in luekens zeilen, ein bemühen um genauigkeit: und gleichzeitig etwas fahles, wie winterlicht, das durch das kahle geäst der bäume fällt: und man sieht diese skelettartigen schatten auf dem boden. fischgräten, ist ein anderes wort, das mir einfällt. das hat mit den sätzen der vielen schriftsteller zu tun, nach denen lueken greift, immer wieder, und die immer wieder dastehen: und durch ihre ständige anwesenheit sind diese sätze der anderen wie piranas, sie fressen die substanz des buches an. und das foto von ihr, hinten auf der umschlagklappe: die gelben lindenblüten fliehen ihr gesicht: der satz war, wie der anfang eines gedichts, sofort in meinem kopf. und etwas über ihren blick, der auf dem grund eines baggersees ruht und trotz der trübe, durch die er aufsteigt, gewißheit zeigt: nicht zuversicht, aber ein deutliches einverstandensein mit dem, was ist.
und der ganze sermon nur, weil die zahlen auf dein lieblingstier gezeigt haben.
einen schönen abend, hazel

ingrid

© 2018  ingrid mylo

Verena Lueken: Alles zählt
Roman. Kiepenheuer & Witsch 2015
205 Seiten | € 18,99

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