Fleisch-Krisen im Kino

Wenn es einen Ort gibt, an dem die Wahrheiten seltsam sind, und das Seltsame wahrhaftig, dann ist es das Kino. Einerseits wird hier natürlich geträumt, was die Mitte der Gesellschaft gerade so träumt. Katastrophen und Liebesgeschichten, und am besten, wie bei „Titanic“, beides auf einmal. Aber andrerseits kann das Kino auch schon Einspruch erheben, das Gegenteil vom Konsens erproben. Im Jahr 1968, als man wenn nicht unbedingt von der Weltrevolution, so doch von erheblich mehr love, peace & happiness träumte, von einem neuerlichen aufklärerischen Schwung, da gehörten im Kino einige der defätistischesten und zynischsten Werke der Phantastik zu den Hits: „Rosemaries Baby“ von Roman Polanski und „Dawn of the Dead“ von George A. Romero. Der eine Film, in dem eine arme junge New Yorkerin dem Teufel ein Kind gebären musste, verleidete einem den Spaß an der Liebe, der andere, der die Toten aus ihren Gräbern steigen ließ, um als Zombie-Armee mit gesteigertem Appetit auf menschliches Gehirn umzugehen, den Spaß am Rest. Natürlich waren die freßsüchtigen, verrotteten Kannibalen ebenso „metaphorisch“ wie Polanskis Teufelsanbeter. Vor allem aber waren sie unappetitlich. Die Ära Nixon verabschiedete sich mit dem finsteren „Exorzist“, in dem ein junges Mädchen, wiederum vom Teufel besessen, den Kopf um hundertachtzig Grad drehte und eine sehr, sehr scheußliche Brühe (später durften wir erfahren, daß es sich um harmlose Erbsensuppe handelte, sehr zum Leidwesen der Erbsensuppenhersteller) in Richtung Publikum spie. Während sich in Marco Ferreris „Das große Fressen“ vier reife Herren buchstäblich und auch nicht viel dezenter zu Tode fraßen, erreichte die deutsche Wave-Gruppe The Wirtschaftswunder den Höhepunkt ihrer pop-musikalischen Gesellschaftskritik, wenn ihr Sänger (übrigens ein ehemaliger Pizza-Bäcker) zu dem Song „Ich hab‘ ein Völlegefühl“ auf der Bühne Toastbrotscheiben zermampfte und zerstampfte. Das Unheimliche und das Völlegefühl, die kulinarische Grenzüberschreitung und der Ekel vor den durchgeknallten Konsumparadiesen ließen in jenen Jahren die Phantasien der populären Kultur Blasen schlagen. Im Fernsehen durften Köche nicht mehr korpulent sein, und in den Comics und Komödien kam immer wieder derselbe Witz über die „asketische“ Nouvelle Cuisine: Jemand ist nach einem sündteuren Mal in einem vornehmen Nouvelle Cuisine-Restaurant noch so hungrig, dass er sich in die nächste Hamburger- oder Frittenbude stürzt. Ob man da in Ruhe seinen Cholesterinspiegel in die Höhe treiben durfte, blieb auch fraglich, denn Kerle wie „Dirty Harry“ liebten es, in „Diners“ oder „Burgers“ ein paar Schurken abzuknallen, um Blut und Ketchup spritzen zu lassen. Im Kino begegneten uns an Bullemie erkrankte Multimillionäre und wir taten, wie in Alfred Hitchcocks „Frenzy“ mit dem Polizisten, der durch eine Serie von Frauenmorden genug Ärger hat, einen angewiderten Blick in die Terrine mit der mehr oder weniger raffinierten Fischsuppe, die seine Frau zubereitet hatte. Noch ein Jahrzehnt später waren die Zombies endgültig unter die Kannibalen geraten, und im Bahnhofskino mußte schon zu sehen sein, wie Fleischbrocken aus dem lebendigen Körper gerissen wurden, um uns noch aus dem Halbschlaf zu reißen. Aber die Vorstellungen vom teuflischen, makabren Mal, vom ein für allemal verdorbenen Appetit, ließ uns nicht mehr los. In dem ewigen Skandalfilm „The Texas Chainsaw Massacre“ hatte eine debile Metzgerfamilie die Eignung für Menschenfleisch zur Wursterzeugung entdeckt. Grund genug für Christoph Schlingensief filmisch ein „Deutsches Kettensägen-Massaker“ anzurichten, daß die Wiedervereinigung als fröhliches Kannibalisieren und Verwursten der Schwestern und Brüder von drüben zeigte.

Und nun, da alle Welt (wenngleich auch nicht mit gleicher Lautstärke und Hysterie) vom kranken Fleisch der Rinder spricht, wo alte Phantasien vom verbotenen Genuss des Fleisches wiederauftauchen, wird eine Figur zum größten Kino-Helden, der ein gutes Stück menschlicher Leber zu schätzen weiß und zu menschlichem Gehirn den richtigen Wein ausgesucht: Hannibal, der Kannibale. Ein durchaus nicht unsympathischer, mit Selbstironie begabter Kerl.

Die Sünden des Fleisches, jenseits der nackten Brüste und ekstatischen Umarmungen, führte auch das Kino immer wieder an den Rand. Das Kino überfrißt sich an seinen kannibalischen Gelüsten und kotzt darauf immer wieder einmal in schöner Regelmäßigkeit. In den siebziger Jahren, nach der Erfahrung von Vietnam und Ghetto-Aufständen, nach dem terroristischen Herbst in Europa, die Zombies unter Kannibalen, die finstersten Degenerationen der Fleischfresser, und in „Man Eater“ sahen wir einem Kerl zu, der seine eigenen Gedärme auffrisst. Es ist wohl allzu euphemistisch, in diesem Zusammenhang von schlechtem Geschmack zu sprechen. Aber es waren ausbeuterische Filme über das ausbeuterische Wesen des Kapitalismus und daher zwar furchtbar hässlich, aber nicht wirklich gelogen.

Schocks, was unsere Nahrungsmittel anbelangt, begleiten ansonsten unsere Kinogeschichte. Nicht einmal die Tortenschlachten der Slapstick-Zeit sind tabumäßig so ohne: Mit dem Essen spielt man nicht! sagten die Eltern, und Laurel & Hardy warfen sich dennoch in der Kindervorstellung Sahnetorten und Spaghetti ins Gesicht oder schmierten bedächtig den Bart eines Kontrahenten mit Senf ein. Die Fütterungsmaschine für die effizienten Arbeiter der Zukunft, die in Charlie Chaplins „Modern Times“ ausprobiert wurde, funktionierte glücklicher- und komischerweise nicht. Aber ihr Durchdrehen war auch für uns Kinder ein lustvolles (und ganz tief drinnen auch ein wenig peinigendes) Aufbegehren gegen den Freß-Code, der uns als „Erziehung“ mehr oder minder wohlmeinend vermittelt wurde. Schon die allerersten Kinoerlebnisse also waren, neben der Suche nach dem Abenteuer und der Liebe, eine nach dem, was am Essen nicht stimmte. Es stimmte eine Menge nicht: Die Geschichten vom Mangel und die Erfahrung des Überflusses. Die leeren Tabus und die strengen Tischsitten. Das Essen als Belohnung und Strafe. So wie uns eine Kartoffel, die wir zuhause lustlos auf dem Teller hin- und hergeschoben hätten, am Abendfeuer als kulinarische Offenbarung erschien, so waren die Essens-Bilder des Kinos und später des Fernsehens oft genug Ausdruck von Unmut und Unbehagen, die wir bei Tisch nicht zu äußern wagten. Im Prinzip ging es um zwei Dinge: das prekäre Ritual, mit dem ein so intimes Geschehen wie die Nahrungsaufnahme öffentlich möglich gemacht ist auf der einen Seite (Luis Bunuel zeigte im „Diskreten Charme der Bourgeoisie“ die Möglichkeit, die Sache umzudrehen: Da ißt man einzeln und im verborgenen und trifft sich dann zu gemeinschaftlicher Entleerung), und auf der anderen Seite: das Fleisch, das immer am Rande zum Sündhaften war. Lustig war das vielleicht, wenn der kauzige Hadschi Halef Omar in den Karl May-Filmen immer wieder einen wässrigen Mund bekam, wenn andere Menschen den für ihn verboten Schinken zu sich nehmen. Wenn sich Bud Spencer dann ein paar Jahre später in die Lammkeule oder das Hühnerfleisch frißt, so staubig, wie er eben aus der Prärie kommt, ist da wieder das alte Charlie Chaplin-Gefühl. Weg mit dem Anstand! Weg mit den guten Manieren! Aber wo ist da die Grenze? Wo kippt dieses Rückfall in ein kindliches, barbarisches Verhältnis zur Nahrung wieder in das schiere Grauen um? Im Kino sind wir ja immer Grenzgänger. Wir experimentieren mit den Grenzen zur kindischen Vor-Zivilisierung des Essens und mit denen zur kulinarischen Dekadenz. Manchmal freilich erwischen einen die Bilder fast unvorbereitet und hinterlassen tiefe Spuren im kulinarischen Diskurs.  Und ein einziger Film, wie, sagen wir, Georges Franjus „Le Sang des Betes“, der nichts als die äußere Wahrheit eines Schlachthofes zeigt, kann eine Zuschauerin oder einen Zuschauer für das Leben zeichnen. Mir selbst ist später, als ich mit Filmen professionell und daher cool umzugehen hatte, immer wieder aufgefallen, daß Dokumentarfilme umso ausgedehntere Schlachtungs-Szenen aufwiesen, je weiter entfernt die Länder, von denen sie berichteten. Das Exotische und Barbarische konstruiert sich auf diese Weise, aber zur gleichen Zeit scheint das Bewegungsbild des Kinos in der direkten Nähe zum Töten, Zerlegen und Zubereitung eines „Opfertieres“ seinen größtmöglichen Vorrat an „Authentizität“ zu finden.

Das andere Tabu indes betrifft das fast noch unheimlichere Erscheinen eines heftigen Zusammentreffen von Sexualität und Essen. In unseren deutschen Filmen war, was das anbelangt, die Welt ziemlich lange in Ordnung. Der dicke Heinz Erhardt sehnte sich nach einem Eisbein mit Sauerkraut und empfand dabei die Anwesenheit einer Frau als eher störend. Bei der nächsten Generation dagegen ging es um die Liebesspiele, die sich sehr entschlossen von solch schweren kulinarischen Diskursen entfernen. Verliebte schauen nicht auf ihren Teller. (Und streitende Paare lieben es, sich gegenseitig allein am Tisch sitzen zu lassen: wer den anderen mit einem gefüllten Teller zurückläßt, hat gewonnen.) Im Antikfilm gibt es immer zwei Arten von Römern, die einen sind fett, essen im Liegen, lassen sich von Tänzerinnen Trauben in den Mund schieben, ohne sich um deren sex appeal zu kümmern. Diese Römer rülpsen gerne und sind immer mit einer Intrige beschäftigt. Die andern Römer sind schlank, asketisch, soldatisch und haben eine schön geschwungene Locke auf der Stirn. Von Völlerei kriegt man keine so schön geschwungenen Stirnlocken! Frauen in Komödien lieben es, zudringlichen Männern einen heißen Teller entweder über den Kopf zu stülpen oder dorthin zu schütten, wo es erstens mehr weh tut und zweitens symbolisch treffender scheint. Ein dating im Kino, jedenfalls, macht den Zusammenhang zwischen dem Essen und der Sexualität zugleich deutlich und verschleiert ihn, auch deswegen ist das Happy End höchstens so nahe wie eine Katastrophe.

Manchmal aber wird die Grenze auch im Kino überschritten. Erinnern wir uns an die Geste, mit der Michel Piccoli einen Schweinskopf zur Zubereitung der entsprechenden Sülze und dann den Hintern von Andrea Ferrol küßt in „Das große Fressen“. Den Augenblick, in dem ein Rasiermesser durch ein Auge fährt in „Ein andalusischer Hund“ von Luis Bunuel, das übrigens das einer Kuh war. Ein Kulminationspunkt von „Apocalpyse Now“ ist die parallele Montage des Bildes von einem Stier, der rituell geschlachtet wird und der Tötung des verrückt-bösen Kurtz alias Marlon Brando. Die Orgie, das Essen, der Tod – in einer Montage miteinander verbunden. Mittlerweile gehören Schießereien in Schlachthäusern zum Repertoire der „Tatort“-Krimis. Und gerne „umarmen“ sterbende Gangster dann einen hängenden Kuh-Kadaver. Das offene, tote Fleisch der Rinder ist so sehr zur Metapher für die Berührung zwischen dem archaischen und dem bürgerlich-industriellen Teil des Verbrechens geworden, dass keine heilige Johanna diese Schlachthöfe mehr dramatisieren kann. Sie sind, im Gegenteil, Bilder der Trivialität des Grausamen und der Grausamkeit der Trivialität geworden.

Denn da haben unsere Fleischfresser-Monster ja alle höchst prophetische Züge angenommen. Wenn BSE als „letzte“ Metapher auf den Kannibalismus wirkt (das Fleisch der Tiere vergiftet uns, weil wir sie dazu gezwungen haben, ihresgleichen zu fressen), der das „eigentliche“ Wesen der freien Marktwirtschaft ist, dann ist der cinematographische Kannibale, der kindlich-barbarische Ignorant des Freß-Codes, und der dekadente Inszenator kulinarischer Todesmetaphern ein Prophet unserer nicht nur organischen, sondern vor allem auch kulturellen Nahrungsmittelkrisen.

Kannibalismus ist erzwungen wie in der Legende des Mountain Man Rober Redford in „Jeremiah Johnsohn“ oder in der „Donner Gruppe“, die ihren langen Schatten noch über den verrückten Schriftsteller in Kubricks Verfilmung von Stephen Kings „The Shining“ warf. Wenn Jack Nicholson mit der Axt die Tür zum Zimmer seines Sohnes zertrümmert, zitiert er sich als den großen bösen Wolf, der die kleinen Schweinchen fressen will. Unsere erste Märchenbegegnung mit dem schrecklichen Fleischfresser wird als paranoider Schriftsteller-Vater wieder lebendig. Genauer kann man es nicht sagen: Der Mensch ist ein Wesen, das töten muß, um zu leben. Er glaubt, er hat sich zivilisiert oder sich von seinen Göttern zivilisieren lassen, die samt und sonders erst einmal ein paar Nahrungs-Tabus aufstellen, bevor sie in ihren Geboten zu ein paar anderen Einzelheiten des Zusammenlebens kommen. Was war eigentlich unsere, der armen Eva „Erbsünde“: Das Essen der verbotenen Frucht? Der Apfel also? Die Erkenntnis? Oder doch Sex? Vermutlich alles zusammen, weshalb dieser „Skandal“ des sexualisierten Essens, das zugleich „Erkenntnis“ ermöglicht und einen ein für allemal aus dem Paradies vertreibt – vor allem: die schweißtreibende Arbeit notwendig macht  – dieses frevelhafte Vereinigen der Sinne in einem einzigen kulinarischen Akt, tatsächlich nie genügend bearbeitet wird. Zum Beispiel im Kino. Indiana Jones hat zwar eine entsetzliche Angst vor Schlangen, aber merkwürdig: Als, irgendwo im Inneren von Traum-Indien, der kindliche Maharadscha ein delikates Mal zubereiten lässt – es gibt gegrillte Käfer, Maden und geeistes Affenhirn – scheint er, in ein Gespräch über archäologische Schätze vertieft, gar nicht zu bemerken, daß „serpent sruprise“ nichts anderes als lebende junge Schlangen aus einem großen Schlangenleib sind. Dafür fällt seine Begleiterin verständlicherweise in Ohnmacht, als sie zum Zulangen aufgefordert wird. Und was rettet sie dann vor dem Verhungern? Was macht aus ihr und Indiana Jones ein Liebespaar? Richtig, ein Apfel. Soll niemand sagen, unser Kino reiche nicht in mythologische Tiefen!

Es gibt das falsche Essen (das kindische, barbarische, unkultivierte, maßlose), durch das sich der Essende nicht allein aus der Mühsal der erwachsenen Kultur in die selige Kindheit zurückfrißt, wo das mit dem kulinarischen Trost noch so einfach zu haben war. Und es gibt das falsche zu essen, das fremde, das verdorbene (Homer Simpson, der sich an einem vergammelten Riesensandwich todkrank frisst), das de-codierte und das verbotene. Daß das Kino dabei so manisch am Kannibalistischen als dem absolut Verbotenen festhält, ist nicht nur seiner Sensationsgier zu verdanken. Manchmal ist es ja so verborgen wie die kannibalischen Kekse in „Jahr 2022…die überleben wollen“ (die eine verdächtige Ähnlichkeit mit dem Kraft- und Tiermehlfutter in unseren Kuhställen aufweisen). Was wäre denn furchtbarer: ein Essen, das endgültig nichts mehr mit authentischer „Natur“ zu tun hat (Astronauten in Science Fiction-Filmen beschweren sich immer über ihr synthetisches Essen und freuen sich immer auf ein „saftiges Steak“), oder ein Essen, das nur als Schließen der Nahrungskette zu begreifen ist – nicht einmal die Grenzen zwischen Fressen und Verdauen sind da mehr eindeutig. Weil wir im Kino immer auch Kinder sind, stellen wir uns diesen Problemen nicht in Diskursen, sondern in Bildern.

Und wenn es uns immer auch gehörig Angst einjagt vor den Grenzen unserer kulinarischen Welten, so bietet es sich doch auch als „Lösung“ an. Unseren Blutdurst, Fleischhunger, unser natürliches Verbrechen zu zivilisieren ist dabei Aufgabe des Mythos. Den barbarischen Genuss und die zivilisatorische Kraft zugleich und in einem Bild zu bewahren. Was liegt da näher, als das man die Erzeugung und Vermarktung der Nahrung in heroische Bilder kleidet. Was ist der Cowboy, vor noch nicht so langer Zeit unser aller Lieblingsheld, anderes als einer, der die Rinder für die Fleischfabriken durch das Land der Indianer und Outlaws treibt. Und er selber? Ißt offensichtlich hauptsächlich Bohnen und trinkt Unmengen von Kaffe und Whisky dazu. Eine Kuh, mindestens, hat noch die ärmste Pionierfamilie. Und wie genau wußten wir, daß es aus und vorbei mit dem Western war, als wir jemand wie Clint Eastwood in der Eingangsszene von „Unforgiven“ im Schweinetrog hinter seinen unheilbar kranken Tieren im Dreck herlaufen sahen. Wenn wir an das Rindfleisch nicht mehr glauben, dann glauben wir auch nicht mehr an Helden. Vielleicht funktioniert das aber auch umgekehrt.

Der Cowboy war nicht nur insofern der perfekte zivilisatorische Antwort auf den Stierkämpfer, als er sehr pragmatisch das Tier nicht tötete sondern es im Gegenteil unter Einsatz des eigenen Lebens durch das Land der Feinde führt und, sehr symbolisch, immer wieder durch den Fluss. Der Cowboy „taufte“ unsere Lieblingsnahrung. Und wenn es dann ans Schlachten ging, dann war der Cowboy schon wieder fort. Beinahe hätte er sogar, wie Buster Keaton in „Go West“, eine Kuh lieber geheiratet, als die dem Schlachthof zu überantworten. (Zur gleichen Zeit aber schießt dieser Cowboy, im Kino eher seltener als in der Wirklichkeit, dem Indianer seine Nahrungsgrundlage, den Bison, erbarmungslos und in wahrem Blutrausch weg. Er vergeudet das Fleisch der Natur (behält allenfalls die Felle für den Profit) um sein eigenes Fleisch, das gezüchtete, durch die Prärie zu treiben um es in den Städten zu verbreiten. Kein Wunder, daß dem Cowboy das selber produzierte Fleisch nicht schmeckt. Kein Wunder auch, dass er singen musste: „Don’t fence me in“. Damit ihm nicht geschehe, was seinem Schlacht- und Opfertier widerfährt.

Der Cowboy war, was seine Beziehung zum Fleisch anbelangt, nicht weniger Auf der anderen Seite sind die Nahrungsmittel selber süß geworden, im übertragenen Sinn wie die drei kleinen Schweinchen oder ganz direkt wie eine gewisse lila Kuh, die sich bevorzugt auf alpinen Pisten herumtreibt. Ein lachendes Rind, das ihren eigenen Käse anpreist. Das Süße, so scheint es, ist eine weitere Möglichkeit, den Grauen des kulinarischen Diskurses zu entgehen. (Weshalb bei uns ein sekundäres Nahrungs-Tabu entstand, der Abscheu vor „süßem Fleisch“.) Freilich: Ungefährlich ist auch der Diskurs der süßen Nahrung nicht. Denn nirgendwo läßt sich Gift so perfekt verbergen. Das macht sich nicht nur Isabelle Huppert in Claude Chabrols „Süßes Gift“ zu nutze, die praktischerweise gleich eine Schokoladenfabrik besitzt. Das süße verleitet zur Tücke, es entwertet das Männliche, wie bei Totò, der sich stets so viel Zucker in seine Espresso-Tasse schaufelt, daß er am Ende drauf und dran ist, seine Stimme zu verlieren. In „Red River“ von Howard Hawks geht beinahe der große Lebendfleischtransport quer durch den Westen schief, weil ein besonders kindisch-weibischer Cowboy dem Koch immer wieder Zucker zu stehlen versucht.

Das ist also auch keine Lösung. Aber die Sache ist ja auch gar nicht wirklich zu lösen. Es gibt nur vorübergehend Bilder, die einen kulturellen Frieden mit dem Essen schließen. In der Kunst des liebenden Paares, gemeinsam einen Spaghetto zu verzehren, die, meines Wissens nach, Susi und Strolch bei Disney entwickelten. In der Eistüte, die einem auf die Straße fällt, wenn man, wie vom Donner gerührt, den oder die genau Richtige sieht. Bei Liebe auf den ersten Blick läßt man immer eine Eistüte fallen (jedenfalls, wenn man gerade eine in der Hand hat). Im Gastmahl alter Freunde (Mein Essen mit André), in dem Zipfel Salami und dem Stück Brot, die Luis Trenker tränenden Auges in sich hineinstopft, nachdem er das Matterhorn erklommen hat. In der Banane, die Tarzan für Jane schält. Nur so zum Beispiel. Aber natürlich bricht dieser Friede an allen Ecken wieder zusammen. Wenn uns ein Showmaster und sein Bruder ausgerechnet in einer Sushi-Bar gelbe Aktien verkaufen. Wenn an jedem Wohngemeinschaftstisch in deutschen Soap Operas à la „Lindenstraße“ ein gemeinsames Essen nie zu etwas anderem da ist, als daß man sich ein paar Katastrophen, ein paar Gemeinheiten, ein paar Schicksalsschläge zugabelt. Leute, die in Soap Operas kochen sind immer die Dummen. Natürlich die netten Dummen, aber immerhin. Diese Infektion der kulinarischen Inszenierung durch die nach Mitteilung drängenden Lebenskrisen reicht auch über die mediale Wohngemeinschaft hinaus. Beim „Griechen“ in der „Lindenstraße“ quatscht man sich an und aus, in Helmut Dietls „Rossini“ geht es eigentlich nur noch um „die mörderische Frage, wer mit wem schlief“. Unabhängig davon, ob uns diese Frage überhaupt interessiert oder: das Essen ist jedenfalls mal verdorben. (Und auch die Joachim Kròl- Lösung, nämlich sich die Gnocchi allein von der Köchin ins Hinterzimmer bringen zu lassen, bewahrt weder vor dem einen noch vor dem anderen.) Vielleicht sollte man, ich rede vom Kino, das italienische Essen sowieso komischen deutschen Touristen („Man spricht deutsh“) oder Mafiosi überlassen. Mafiosi essen immer Spaghetti. Und manchmal schwärmen sie dabei von „Mama“.

Gewiß, der neue Diskurs „Fast Food“ gegen „Slow Food“ ist auch am Kino nicht spurlos vorübergegangen. In einem Fast Food-Laden zu arbeiten ist so ziemlich das untere Ende der sozialen Hierarchie, was allerdings den Vorteil hat, daß man mit jemandem, der in einem Fast Food-Laden arbeitet, auf Anhieb Mitleid hat. „Alice lebt hier nicht mehr“, vielmehr arbeitet sie in Martin Scorseses Film in einem Schnellrestaurant und hat die Technik entwickelt, sich das Serviertablett so hinzuhalten, daß es sie vor den Klapsen auf den Hintern durch die männlichen Gäste schützt. „Fast Food, Fast Women“ von Amos Kollek zeigt, wie man auch dort „Familie“ werden kann. Fast Food ist immer etwas für rührende Verlierer, wie im deutschen „Absolute Giganten“. Jungs, die nicht ins Gefängnis oder auf See kommen, landen als Schnellköche auf dem Kiez. Im mittleren westen dagegen bekommt man in Fast Food Restaurants häufig einen Billardstock über den Kopf gehauen, wenn man etwas unrechtes sagt. Auch Serienmörder trifft man hier häufig an, wie Mickey und Mallory in „Natural Born Killers“ oder Anthony Perkins in der Fortsetzung zu „Psycho“. Das Anbraten von Hackfleisch und das Schneiden von Tomaten – wir wissen Bescheid!  Nein, die cinematografischen Katatstrophen in den gleich erkennbaren „Nobelrestaurants“ sind da doch anderer Natur. Sie sind die idealen Treffpunkte von Sex, Geld und Macht. Jemand wie Al Pacino (tolle Krawatte!) wirft hier als Bürgermeister seine korrumpierenden Fäden aus („City Hall“), und wenn man ein Paar zum zweiten mal in einem Restaurant dinieren sieht, weiß man: das geht schief. Yuppie-Paare trennen sich immer in Nobelrestaurants. Dort kann sich allerdings auch ein Restaurantkritiker herumtreiben, der aussieht wie Louis de Funès und sich heimlich Wein- und Essensproben unters Jacket praktiziert. Aber ein Restaurant ist auch „Die Mitte der Welt“. In „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ von Peter Greenaway ist umgekehrt die Welt ein Feinschmeckerrestaurant, in dem am Ende der Dieb den toten Liebhaber, vom Koch zubereitet, verspeisen muß.

Da sind wir wieder beim Thema. Nun also Hannibal der Kannibale. Von den Zombie-Kannibalen der achtziger Jahre unterscheidet er sich entschieden durch die Raffinesse seines kulinarischen Diskurses, ja überhaupt durch den Genuss des freien Willens. Denn bei seinen Vorläufern gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder es waren durch irgendwelche Dinge selber tödlich kontaminierte Wesen, die sich von den Gehirnen anderer Menschen ernährten, ohne dabei allzu viel Vergnügen außer dem eigenen Überleben zu erkennen. Der Kannibalismus war also die radikalste Form des Rückfalls, vor die Zivilisation, vor die Kultur, vor das Menschsein. Und andererseits waren es irgendwelchen „Naturvölker“, die es nicht anders kannten als einem Gast erst einmal das Herz aus der Brust zu reißen und es dann zu verspeisen. Vor-Menschen, die, vielleicht, unschuldig an ihrer Grausamkeit sind. Aber Hannibal ist natürlich anders. Er ist im Gegenteil der Kannibale von höchster Kultur, der Übermensch als Menschenfresser. Der Nach-BSE-Kannibale. Bei seinem ersten Auftreten, in „Das Schweigen der Lämmer“, hat ihm das Fleisch seiner menschlichen Opfer noch roh gemundet, jetzt bereitet er das Gehirn seines (lebenden) Human-Gerichts so zu, als wäre er gerade zu Gast bei Alfred Biolek. Und am Ende, natürlich ist er wieder einmal allen Polizisten und Gangstern entkommen, bietet er im Flugzeug bereitwillig einem kleinen Jungen Gehirnnahrung aus seiner Lunchbox. Die Bordverpflegung ist ja auch wirklich zu langweilig. Wie der dazugehörige Film im Bordkino. Da geht zwar gerade eine Stadt in Flammen auf. Aber niemand isst etwas Falsches, Fremdes oder Böses.

Autor: Georg Seesslen