Der politische Dokumentarfilm muss sich nach Michael Moore neu erfinden, um seine Würde zu bewahren

Auf dem Münchener Dokumentarfilmfestival bekam, gewiss nicht wirklich verdient, ein Film die meiste Medien-Aufmerksamkeit, der ein Unbehagen mitten im neuen ökonomischen und kulturellen Selbstbewusstsein des Genres spiegelte. Manufacturing Dissent der beiden kanadischen Filmemacher Debbie Melnyk und Rick Caine rückt dem großen Zampano des rüde-populären cineastischen Widerspruchs mit eben jenen Mitteln zu Leibe, die man im „Moorismus“ fragwürdig finden mag: Provokation und Guerilla Shooting, aber ebenso auch Manipulation, eine Montage, die man vom gnadenlosen Entertainment des Fernsehens gewohnt ist (einschließlich Wiederholung, running gag und vom Filmemacher selber hergestellte Pointe), die Vermischung von gefundener und dargestellter Wirklichkeit, Beobachtung und Inszenierung, das gezielte Aus-dem-Zusammenhang-reißen, die polemische Zuspitzung und das Erschlagen des Zuschauers mit Bildern und Meinungen bei gleichzeitiger Erzeugung des bedingungslosen „Wir“-Gefühls. Mit dem mooristischen Dokumentarfilm heiligt nicht nur der mehr oder weniger gute Zweck alle erdenkbaren Mittel – darunter tückischerweise gerade jene, mit denen der „rechte“, „kapitalistische“ und „Bush-istische“ Gegner zu operieren pflegt -, mit dem Moorismus verwandelt sich auch das Dokumentarfilm-Publikum, das sich vordem möglicherweise als eine kleine avantgardistische Minderheit der cineastischen Aufklärung empfinden durfte, in eine Gemeinde der moralischen Rechthaberei, die in Selbstbestätigung badet.

Der Moorismus funktioniert zunächst nach sehr einfachen Prinzipien: Es hilft nur Entertainment wo Entertainment herrscht. Auf grobe Verhältnisse muss mit groben Mitteln reagiert werden. Und die satirische Polemik darf mehr oder weniger alles. Eine Zeit lang konnte man sich das durchaus gefallen lassen, schließlich traf das filmische Rabaukentum die Richtigen, schließlich waren Moores Filme, ihr Eigenwert hin oder her, bis zum Auftritt des Regisseurs bei der Oscar-Verleihung Signale der Dissidenz, die, anders als die klügsten Analysen, in der ziemlich breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. und schließlich: Mit Michael Moore erlebte der politische Dokumentarfilm eine unerwartete Renaissance. Über gnadenlosen Turbo-Kapitalismus, über den Waffenfetischismus in den USA, über die verlogene Propaganda im Krieg gegen den Terror, über das marode Gesundheitssystem wäre wohl nicht so debattiert worden, bis in die Mitte der Gesellschaft hinein, und von den jungen Leuten, wenn es die Filme von Michael Moore nicht gegeben hätte.

Langsam aber wird es Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, welcher Preis dafür entrichtet wurde. Der abgewandelte Moorismus führt unter anderem zu Filmen wie Supersize Me, einem spektakulären Selbstversuch mit Fast Food, der freilich keiner medizinischen Nachprüfung standhält, zur filmischen Dokumentation der ökologischen Erweckungspredigten des Al Gore, An Inconvenient Truth und am Ende ist Borat der mooristische Mega-Hit, ein Film, bei dem man sich selber dabei zusehen kann, wie man sich zu Tode amüsiert.

Gewiss hat der Moorismus auch anderen Dokumentarfilmen geholfen, erst einmal überhaupt Abspielstellen und dann ein Publikum zu finden, wie es sich die Mehrzahl der Spielfilme nur erträumen könnte. Auch We Feed the World oder Working Man´s Death, die jeden allzu heftigen Moorismus vermeiden, nutzten die „neue Welle“. Dennoch prägt der Moorismus ein ganzes Medium, nämlich den politischen Dokumentarfilm, der nicht im Fernsehen versenkt werden will und sich sein Publikum als Verbündete in der sozialen Praxis sucht, mehr als dass es mit der Auseinandersetzung mit einem Autor abgetan wäre.

Offensichtlich ist nicht nur in den Feuilletons die Stimmung umgeschlagen. Das Michael Moore-Bashing wird Mode, so wie vordem der Moorismus Mode war. Schlechtes Kulturgewissen spielt da eine Rolle. Denn natürlich kann niemand behaupten, er habe nicht recht gewusst, mit welchen Mitteln dieser Dokumentarist arbeitet. Der Moorismus verbirgt sich nicht, und der Autor bekennt sich freimütig zu seinen Holzhammer-Methoden. Nicht umsonst entstand das in einer Phase, da der Begriff des Dokumentarischen selbst auf den Prüfstand gestellt wurde, und kaum jemand glaubte weiter an „Objektivität“ oder auch nur Offenheit der Methoden. „Film ist Schnitt, ist Manipulation“ erklärt Moore, der Weltmeister der Vereinfachung, und statt, wie so viele Dokumentarfilmer vor ihm, daraus eine Verpflichtung zu Selbstreflexion, zur Methodendiskussion, zur ästhetischen Arbeit am politischen Material abzuleiten, setzt der Moorismus das in einem „Wenn schon, dann aber richtig“ fort.

Den Moorismus gegen sich selbst anzuwenden wie in Manufactoring Dissent (ein vermessener Titel, nebenbei) – mit der konsequenten Pointe, dass die Filmemacher ihrerseits von jungen Mooristen gegen den Moorismus dabei erwischt werden, wie sie Kritik mit Ignoranz begegnen – ist eher bedingt produktiv, und ihn sich in Borat gleichsam überschlagen zu lassen auch nur eine Episode in der ewigen Verzahnung von Politik und Pop. Man wird wohl, in der Szene des dokumentarischen Films wie in den Feuilletons, nicht um einen Diskurs herumkommen: Michael Moore und seine Epigonen haben den Dokumentarfilm für den Mainstream neu erfunden. Sie haben ihn aber auch auf einen Stand gebracht, bei dem er alle Glaubwürdigkeit und alle Würde verloren hat. Vom Instrument der Aufklärung ist er zuerst zu einem Instrument der Konfrontation und dann zu einem der Manipulation geworden: Die Dissidenz formuliert sich so konsequent mit den Mitteln der Mainstream-Kultur, dass am Ende der politische Dokumentarfilm von Reality TV nicht mehr zu unterscheiden ist, und man nicht mehr recht weiß, ob Borat die Fortsetzung von Jackass ist oder umgekehrt.

Es gilt, dem Dokumentarischen im Film die verlorene Würde wieder zu geben, ohne in alte Dogmen von Wirklichkeit und ihrer Wiedergabe zu verfallen. Wenn Film ein Mittel sein (oder werden) soll, gegen die herrschenden Formen und die Formen der Herrschaft das Recht des Menschen zu setzen, dann muss der Filmemacher auch die Herstellung seines Filmes als Modellversuch für human rights verstehen lassen: Das gilt für die Art, wie man mit Menschen umgeht, vor der Kamera und hinter ihr, das gilt dafür, wie man mit ihren Bildern umgeht, das gilt für das Verhältnis zwischen Filmemacher und Zuschauer, und das gilt am Ende für die Würde der Idee. Eine Idee, die sich mooristisch vermitteln will, gewinnt vielleicht Aufmerksamkeit. Aber sie wird sich selbst verlieren im angerührten Bilderbrei.

Autor: Georg Seesslen