Die Geschichte des Computerfilms ist bisher keineswegs glanzvoll verlaufen. Alle Versuche, mit digital erzeugten Bildern die große Leinwand zu erobern, erwiesen sich an der Kinokasse als ungeheure Flops – von Disneys „Tron“ (1982), einem Film, in dem Menschen in ein Computerspiel geraten, bis hin zu dem technisch durchaus beeindruckenden „Last Starfighter“ von 1994.

Der Fehler dieser Filme war es wohl, dass sie die beiden großen Vorurteile gegenüber der Computeranimation zu bestätigen schienen: nämlich dass sie nur kalte, konstruierte Bilder erzeuge und daß sie nie wirklich den Bereich verlassen könne, in dem sie sich am stärksten entwickelt hatte, den von Rüstungstechnologie und Krieg.

Die erste Generation der Computeranimation war in der Tat sehr technisch orientiert. Bis in die achtziger Jahre hinein arbeiteten vor allem Programmierer als Animatoren. Sie mussten in der Regel noch für jeden Bewegungsvorgang eigene Software entwickeln; im Vordergrund stand die Überwindung rechnerischer Probleme.

Diese Zeit ist vorbei. Neue Software kam auf den Markt: weitgehend standardisiert, billig und immer einfacher zu bedienen; sie verbreitete sich rasch. Schon Ende der achtziger Jahre wurde die Computeranimation geradezu inflationär bei der Werbung, bei Musikclips und im Fernsehen eingesetzt, und genau dies entwertete ihre Effekte so schnell, wie sie entstanden.

Die digitale Bildbearbeitung entwickelte rasch ihre eigenen Konventionen, und all die wegklappenden Bilder, die explodierenden Schriftzüge und die virtuellen Kamerafahrten durch mehr oder weniger geheimnisvolle Objekte und Zeichen vermochten bald niemanden mehr zu begeistern. Zwar war nun die digitale Technik in gewisser Weise demokratisiert; jeder Videoamateur konnte sich ihrer bedienen. Das Image der Kälte, ja Destruktivität verlor sie aber damit noch lange nicht. Nun kam auch noch der Makel des Billigen hinzu.

Die große Kunst der mythischen Bilderzählung, das Kino, scheute lange vor dem Gebrauch solcher Effekte zurück, abgesehen vielleicht von der Gestaltung des Firmenlogos vor dem Beginn des Films, wo man sich gegenseitig mit Wow-Effekten zu übertreffen suchte. 1985 schätzte die amerikanische National Computer Graphics Association, dass die ihr angeschlossenen Firmen gerade einmal ein Prozent des Umsatzes im Bereich des Kinofilms erzielt hatten.

Von da an stieg jedoch der Anteil digitaler Technik stetig, ohne daß es groß aufgefallen wäre. Sie erleichterte einfach die Arbeit, und sie half, Kosten zu sparen. Am Ende der achtziger Jahre war Computeranimation für den Spielfilm entweder in billigen Produktionen sichtbar oder in teuren Produktionen unsichtbar – und sei es, daß Kevin Costner in „Waterworld“ nachträglich eine fülligere Haarpracht verliehen bekam, als es vorher die Maskenbildner vermocht hatten. Ohne Computeranimation kam kaum noch eine Filmproduktion aus, von der Entwicklung des Drehplans bis hin zur Nachbearbeitung des Materials, aber man machte möglichst wenig davon her.

Und doch wartete im Grunde alles – nicht ganz ohne Bangnis – auf den Film, der Computer und Mainstream-Ästhetik, technischen Fortschritt und soziale Beharrung miteinander versöhnen könnte. Dieser Schritt war wohl kaum denkbar ohne das Signum der großen, kindlichen Welterklärung: Walt Disney.

1987 hatte man auch bei Disney nach langem Zögern die Zeichen der Zeit erkannt. Da die Herstellung von Zeichentrickfilmen immer teurer wurde, setzte man sozusagen klammheimlich auf die Unterstützung durch den Computer und vereinbarte ein Joint-venture mit einer Firma, die damals noch kaum jemand kannte: Pixar.

Erst ein Jahr zuvor hatte Steven Jobs, wohlbekannt als Mitbegründer von Apple Computers, für zehn Millionen Dollar die Computerabteilung von Lucas Film Ltd. gekauft und unter dem Namen Pixar zu einer selbständigen Firma geformt. Ihr erklärtes Ziel war es, den ersten vollständig computergenerierten Spielfilm zu schaffen.

Mit „Luxo jr.“ war ihr noch im selben Jahr ein mit Preisen überhäufter Einstand in der Welt der kommerziellen Computerfilme gelungen. Die Geschichte einer lebenden Nachttischlampe zeigte schon sehr genau, worum es ging: eine Computeranimation mit Seele und innerer Wärme zu schaffen, die nicht mehr erkennen ließ, daß sie im Rechner entstanden war, und die nicht futuristische Technik, sondern sanft leuchtende Nostalgie zu ihrem Thema machte.

Das erste Ergebnis der Zusammenarbeit mit Disney war das zweidimensionale Animationsprogramm Caps (Computer Animated Production System), das vor allem die Nachbearbeitung der großen Disney-Filme seit „The Little Mermaid“ (1989) erleichterte.

Im selben Jahr produzierte Pixar mit „Tin Toy“ einen computeranimierten Kurzfilm, der im wesentlichen schon alles enthielt, was „Toy Story“ so erfolgreich werden ließ: die warme Licht- und Farbdramaturgie, die kindlich betonte Räumlichkeit, die perfekte Imitation von Kamerabewegungen, den nostalgischen Blick auf Spielzeugwelten. Daß „Tin Toy“ mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, hat dem großen Projekt der Firmen gewiss Auftrieb gegeben.

Der technische Aufwand für „Toy Story“ übersteigt alles bisher Bekannte: Fast hundert 3-D-Computer von Sun Microsystems und Silicon Graphics waren im Einsatz. Sie brauchten insgesamt 800 000 Stunden, bis sie die mehr als 110 000 Einzelbilder aus 1536 mal 922 Pixeln durchgerechnet hatten. Ein jedes dieser Bilder benötigt nun fünf Megabyte Speicherplatz; wollte man alle Bilder, Bewegungsabläufe und 3-D-Effekte zusammenfügen, ergäbe das eine Datenmenge, die 3000 CD-ROMs füllt.

Klar, wir sind beeindruckt und stellen die Hoffnung, unsere eigene „Toy Story“ auf dem PC zu realisieren, erst einmal hintan. Es ist aber nur nebenbei das Ziel des Films, seine technische Überlegenheit auszustellen. Die Faszination besteht vor allem in der Botschaft, die er überbringt: Computeranimation ist weder kalt noch analytisch, sie steht, ganz gemäß der Disney-Tradition, im Dienst der Beseelung (und ein wenig der Pädagogisierung) von Zeichenwelten.

Dazu galt es zunächst einmal, die richtige Geschichte zu finden, eine warmherzige, märchenhafte Geschichte, die aber zumindest ein wenig auch die Vorbehalte der Mainstream-Kultur gegenüber dem Leben in der Multimediawelt reflektiert.

Sie beginnt im Kinderzimmer eines Sechsjährigen. Die Spielfiguren dort erwachen stets zum Leben, wenn keine Menschen sie sehen können. So weit, so bekannt aus vielerlei Märchen. Diese Spielsachen unterscheiden sich von ihren literarischen und filmischen Vorgängern aber in einem wesentlichen Punkt: Sie wissen, daß sie Spielsachen sind, und dieses Wissen bestimmt die Moral ihres Handelns, vom grantigen „Mr. Naseweis“ bis hin zu dem von neurotischen Ängsten geplagten Plastikdinosaurier.

Nun aber erhält der Junge zum Geburtstag neues Spielzeug, und die alten Figuren, allen voran sein derzeitiger Favorit, der Gummicowboy Woody, fürchten die Konkurrenz. In der Tat droht der Weltraumfahrer Buzz Lightyear das Kinderzimmer zu erobern, unterstützt durch Fernsehspots, komplett mit Karatearm, Laserkanone und intergalaktischem Sprechfunk.

Buzz will nur nicht wahrhaben, daß er ein Spielzeug ist. Er hält sich für einen wirklichen Weltraumfahrer, der in einer sonderbaren Welt gelandet ist. Daraus erwächst Gefahr und höchste Not. Bald aber werden die Konkurrenten Woody und Buzz zu Freunden, die nun, wie es sich gehört, allerlei Abenteuer zu bestehen haben.

Der Film lebt nicht nur von der Sehnsucht nach der symbiotischen Freude am beseelten Spielzeug, sondern auch davon, wie immer wieder die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit überschritten und gleich darauf restauriert werden. Ein postmodernes Märchen voller Spiegelungen zwischen Realität und Warentraum, und von einer beinahe überbordenden Emotionalität. Das verdankt sich vor allem seiner Machart.

Bei der Produktion griff man immer wieder auf die vom Realfilm und von der optischen Animation bekannten Verfahren zurück; „Toy Story“ wirkt, als sei er in einem nach materiellen Gesetzen funktionierenden Studio entstanden.

Das Produktionsteam ging Schritt für Schritt wie in einem wirklichen Film vor: vom storyboard, dem ersten comicartigen Skizzenbuch für den Dreh, über die Entwürfe für die Schauplätze, die Bewegungsproben vor der virtuellen Kamera und das Ausleuchten der Szenen bis hin zum rendering, der eigentlichen Rechenphase, in der alle Vorarbeiten zum fertigen Bild zusammengefügt werden.

In jeder Phase waren Computerfachleute und Vertreter traditioneller Technik gemeinsam am Werk. Um mit der virtuellen Kamera die Sehgewohnheiten des Publikums nicht zu strapazieren, ahmte man ausschließlich Kamerabewegungen aus bereits gedrehten Realfilmen nach. Es waltete eine fast schon rituelle Vorsicht: Jede Einstellung wurde daraufhin geprüft, ob sie auch in einem Realfilm auf dieselbe Weise eingerichtet worden wäre.

Bei einer solchen Produktionsweise ist es eher ein Vorteil, wenn die meisten der Beteiligten von Computern nicht die geringste Ahnung haben. Der Production Designer, so war zu hören, weigerte sich beharrlich, näher als drei Meter an eine Eingabetastatur zu kommen; er entwarf die Architekturen genau so, als wären sie für einen wirklichen Film geplant.

Das virtuelle Studio, so die Botschaft, ist von jedem zu benutzen. Auch die Animation der einzelnen Figuren wurde nach einem einfachen, nachvollziehbaren Verfahren bewerkstelligt. Erst machte man Modelle, manche sogar aus Lehm, um eine besonders organische Wirkung zu erzielen. Dann übertrug man sie in den Computer, und dort erhielten die Figuren schließlich eine Anzahl von „Avars“ (Articulated Variables) zugeordnet, die bestimmte Bewegungsfelder definieren, etwa die Bewegung eines Armmuskels oder das Krümmen der Augenbraue.

Eine jede Figur im Film ist durch die Gesamtheit ihrer Avars definiert, und zwar bis in die charakteristischen Eigenheiten, beispielsweise die eckigen Bewegungen des Raumfahrers Buzz Lightyear im Verhältnis zu den schlingernden, runden des Gummicowboys. Der Cowboy Woody hat 700 solcher Avars, 212 davon für sein Gesicht. Er ist damit gewiß ausdrucksstärker als ein durchschnittlicher Schauspieler.

Die 27 Animationstechniker von Pixar konnten ihre Figuren mit den Avars mehr oder weniger so bewegen, wie das ein Puppenspieler tut. Aber das eigentliche Leben bekamen Woody und die Seinen durch das rendering, den Rechenakt, in dem die bewegten Figuren dreidimensional modelliert, mit Oberflächen versehen und schließlich dem Spiel der verschiedensten Lichtquellen ausgesetzt werden – vielfältiger, als es einer Puppe in der wirklichen Welt widerfahren kann.

Alles an dieser Produktion ist beeindruckend, aber nichts davon ist geheimnisvoll. Hinter dem Erfolg von „Toy Story“ steht nicht zuletzt eine kulturgeschichtliche Metapher: die endgültige Versöhnung von digitaler Technologie und Populärkultur. Das computergenerierte Bild führt den Blick nicht notwendig in eine unübersichtliche, kalte Zukunft, sondern auch in die Paradiese der Kindheit zurück und in eine Welt, in der das Revolverhalfter des Helden leer ist und Soldaten allenfalls das Öffnen von Geschenkpaketen ausspähen.

Nun bringt „Toy Story“ zunächst einmal eine gigantische Merchandising- Welle ins Rollen. T-Shirts, Kakaotassen, Popcorntüten, Sammelbilder, Puppen, Comics und Computerspiele sind bereits im Handel. Und eine Werbekampagne im Umfang von 100 Millionen Dollar wird das Erscheinen des Films auf Video vorbereiten. Im Oktober ist es soweit; die Kassette soll unter die fünf meistverkauften aller Zeiten kommen.

Vor allem aber stößt dieser Film endgültig die Tür auf für das computergenerierte Kino. Pixar steht bereits mit drei weiteren Computerfilmen bei Disney unter Vertrag, während man dort in Windeseile ein eigenes Computerstudio eingerichtet hat, um noch mehr Filme des Genres zu fertigen. Warner Brothers und 20th Century gaben bekannt, an abendfüllenden Computerfilmen zu arbeiten. Und Jeffrey Katzenberg, der den Deal zwischen Disney und Pixar organisiert hatte, tüftelt zusammen mit Steven Spielberg in der gemeinsamen Firma Dreamworks an ganz neuen Anwendungen von Computeranimation im Spielfilm.

Mag man sich bei „Toy Story“ noch fragen, worin genau die Vorteile des Arbeitens im virtuellen Filmstudio liegen, so gibt ein Blick in die Zukunft genaueren Aufschluß. Mit Disneys letztem großen Animationserfolg, dem „König der Löwen“, waren noch 800 Mitarbeiter beschäftigt, bei „Toy Story“ waren es knapp 100. Der Preis für die Computeranimation hat sich, trotz enorm fortgeschrittener Methoden, in den letzten zwölf Jahren nur verdoppelt, während sich im gleichen Zeitraum der Preis für Realfilme etwa versechsfacht hat. Außerdem werden Computergeschöpfe niemals krank, gehören keiner Gewerkschaft an, kriegen niemals persönlichen Krach mit dem Regisseur und stellen keine größenwahnsinnigen Gagenforderungen.

In Frankreich arbeitet man an einer vollkommen computergenerierten Filmversion von „20 000 Meilen unter dem Meer“, die, so ist zu hören, sich mehr dem Real- als dem Animationsfilm annähern soll. Auch hier hat man darauf geachtet, ein nostalgisches Sujet zu wählen. Der Computer soll Bilder einer vergangenen Welt generieren, in der man an die Zukunft noch geglaubt hat.

Daß der nächste Schritt ein Realfilm mit digitalisierten Bildern wirklicher Schauspieler in einem virtuellen Studio sein wird, steht im Grunde seit langem fest. Es kommt nur darauf an, dass dieser Schritt weder zur falschen Zeit noch in die falsche Richtung getan wird.

Das hartnäckige Gerücht, es werde bereits an „neuen“ Computerfilmen mit Marilyn Monroe oder Humphrey Bogart gearbeitet, scheint eher abschreckend zu wirken. Ganz offensichtlich steht die Computeranimation unter dem Verdacht der technologischen Seelenräuberei. Sie droht an einem der allerletzten Tabus der bürgerlichen Gesellschaft zu rühren, an der unverwechselbaren Identität der Person.

Worum es im kommerziellen Sektor also gehen muss, ist die Entwicklung der Technologie bei gleichzeitiger Wahrung oder doch sehr vorsichtiger Umgehung dieses Tabus. Der Siegeszug des computeranimierten Films beginnt nicht zufällig mit einem Film, der in seiner Ästhetik, seinem Tempo, seiner Botschaft durch und durch konservativem Mainstream entspricht. Ihm werden auch Filme folgen, die auf unsere Angst vor Wahrnehmungsveränderungen nicht soviel Rücksicht nehmen.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 22.03.1996 Nr. 13