Die Filme von John Cassavetes

Was John Cassavetes vor und hinter der Kamera getan hat, beschreibt man, fürchte ich, nur um den Preis des Missverständnisses als „Film“. Besser wäre es als magischer, cineastischer Event zu deuten, der sich, den Möglichkeiten des Materials scheinbar entgegengesetzt, dem Mythos der technischen Reproduzierbarkeit widersetzt. Man kann einen Cassavetes-Film nicht wirklich zweimal sehen, es ist jedesmal ein anderer, und jedesmal führt er uns noch tiefer in den Schmerz und in die Komödie dieses Schmerzes. Diese Unwiederholbarkeit der Cassavetes-Filme rührt wohl daher, dass sie immer am Rande spielen, zwischen der Tragödie und der Groteske, zwischen der Grausamkeit und dem Mitleid, zwischen Gewalt und Zärtlichkeit – eine kleine Stimmungsänderung, und man sieht einen gänzlich anderen Film, ein wenig so, wie man in einen Spiegel sieht. Wir glauben Gena Rowlands jede Einzelheit, wir sind stets ganz nah bei ihr und Meilen von ihr entfernt; wir trauen ihr genauso zu, mit einemmal aus ihrer Rolle zu treten wie uns in eine Identifikation zu locken, in der es zwischen „Film“ und „Wirklichkeit“ keinen Unterschied mehr gibt.

Cassavetes‘ Arbeitsweise, seine Beziehung zu den Schauspielern und zur vergehenden Zeit war, vereinfacht gesprochen, von einer Übertragung von Theater-Elementen auf den Film geprägt. Er schrieb neben dem Film auch für die Bühne; in Deutschland ist nur wenig gespielt worden, darunter „Messer“, die Geschichte eines schlechten Komikers, der seine Frau erstochen hat oder es sich auch nur einbildet. Auch A WOMAN UNDER THE INFLUENCE war zunächst als Theaterstück geplant, bis Cassavetes und seinen Mitarbeitern klarwurde, daß eine solche emotionale Parforce-Tour nicht Abend für Abend auf einer Bühne durchgestanden werden kann. Am ehesten sind Cassavetes‘ große persönliche Filme in ihrer durch und durch antimythischen Verdichtung als cineastische Dokumentationen nicht wiederholbarer Theater-Ereignisse zu verstehen. Aber gewiss greift auch dies zu kurz, denn so sehr Cassavetes es der Kamera untersagt hat, selber zu erzählen und die Menschen, die vor ihr die Magie einer augenblicklichen Wahrheit preisgeben, zu bewerten, so sehr schafft er doch auch, wie es nur dem Film möglich ist, den materiellen und sozialen Raum um den Menschen, dem widerfährt, was allen Cassavetes-Figuren geschieht: Sie fordern ein Stück Liebe ein und erhalten ein Stück Tod.

Cassavetes ist tatsächlich einer, der dem Tod bei der Arbeit zusieht, oder dem Leben, dessen ganze Wahrheit darin besteht, daß es ein langsames und grausames Sterben ist. In vielen seiner Filme, auch, wo er nur als Schauspieler mitgewirkt hat, ist er, schwarz und mit dem wissend-hoffnungslosen und zwischen Mitleid, Verachtung und todessüchtiger Lüsternheit zuckenden Grinsen, selber so etwas wie der Tod. Den haben wir uns ja fast immer als intellektuellen Tragiker mit einem Hauch von Geschmacklosigkeit vorgestellt.

Lexikoneintrag

Cassavetes wurde am 9. Dezember 1929 als Sohn griechischer Einwanderer geboren und wuchs in Manhattan auf. Sein Vater war ein Geschäftsmann, der gelernt hatte, mit Siegen und Niederlagen fertig zu werden (später wird man ihn auch in Cassavetes‘ Filmen sehen). John Cassavetes studierte zunächst an der Colgate University, dann an der New York Academy of Dramatic Arts, die er 1953 abschloss. Er arbeitete als Filmkomparse und als Hilfsinspizient am Broadway und erhielt seine erste bedeutende Rolle in Budd Schulbergs Fernsehfilm PASO DOBLE. In den nächsten Jahren erlebte er eine erfolgreiche TV-Karriere (über 80 Rollen in zwei Jahren) und erste Aufgaben im Film. Er war gewissermaßen die intellektuell gemäßigte und leicht ironisch zu fassende Version des „Rebellen ohne Grund“, aber seine Vielseitigkeit machte ihn auch zu einem guten Gebrauchsschauspieler. 1956 eröffnete Cassavetes einen Workshop für arbeitslose Schauspieler, nachdem er vergeblich versucht hatte, seine Freunde in TV- und Filmproduktionen unterzubringen. Hier wurde nach der Stanislawski-Methode gearbeitet, und man versuchte, Produzenten und Regisseure für die eigene Arbeit zu interessieren. Aus diesem Workshop entwickelte sich Cassavetes‘ Hinwendung zur Gruppenarbeit, die zunächst noch vom Gedanken an Improvisation geprägt war. Zwischen 1957 und 1959 entstand dann SHADOWS, ein mit kleinstem Budget produzierter 16-mm-Film, der später auf 35 mm „aufgeblasen“ wurde. In dieser Version erhielt er den Kritikerpreis der Mostra in Venedig 1960. Zwei Filme inszenierte er dann für Hollywood-Studios, doch waren sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Ergebnisse von TOO LATE BLUES (1961) und A CHILD IS WAITING (1962) für den Regisseur eher deprimierend. Mit der nun wieder unabhängigen Produktion FACES (1968) gelang Cassavetes so etwas wie eine Befreiung. Für A WOMAN UNDER THE INFLUENCE (1974) gründete er die Produktionsgesellschaft „Faces International“, der später „Faces Distribution Corp.“ folgte.

Seit 1954 sind John Cassavetes und die Schauspielerin Gena Rowlands miteinander verheiratet; die Zusammenarbeit ist so intensiv (und setzt sich auch in den Filmen anderer Regisseure fort, wie beispielsweise bei Paul Mazurskys TEMPEST), dass man sie auch als gemeinsame Autoren einer Chronik einer Ehe, einer Familie, eines künstlerischen work in progress verstehen kann. Gena Rowlands spielte daneben etwa in der TV-Serie „87th Precinct“ nach den Romanen von Ed McBain und in Filmen wie LONELY ARE THE BRAVE (1962) von David Miller oder TONY ROME (1967) von Gordon Douglas.

Cassavetes setzt in seinen Filmen oft die gleichen Darsteller ein, neben Gena Rowlands Ben Gazzara, Peter Falk, Seymour Cassel, daneben Angehörige der Familien Cassavetes und Rowlands und Freunde und Kollegen wie zum Beispiel Peter Bogdanovich. Neben einer im Workshop und in den ersten Filmen entwickelten Methode der Inszenierung, dem Grundmotiv, der Schilderung des Lebens im amerikanischen Mittelstand, den autobiografischen Bezügen spricht auch dies für eine außergewöhnliche Kontinuität in der Arbeit des Regisseurs.

Die Hölle des Mittelstandes

Warum ist ausgerechnet die unglücklichste, die gefährdetste, die allerwidersprüchlichste aller Klassen im sozialen Sinne zur „erfolgreichsten“ geworden? Warum ist das Kleinbürgertum drauf und dran, zur Welt schlechthin zu werden? Eine Antwort geben die Filme von John Cassavetes: lm Kleinbürgertum erreicht das menschliche Unglück den höchsten Grad an Perfektion.

In keinem seiner Filme über diesen Mittelstand, der seine Verzweiflungsgesten aus der Diskrepanz zwischen dem verdurchschnittlichten Wertesystem und der Unverwechselbarkeit jedes einzelnen bezieht, denunziert Cassavetes ihn. Statt dessen scheint er immer wieder die Frage zu stellen, warum jeder Versuch, dem Leben Glück und Identität abzutrotzen, darin enden muss, dass man von Glück und Identität weiter entfernt ist als zuvor. Ganz anders als die bösartigen Moralisten des „Naturalismus“ sieht er den Menschen keineswegs zur Liebe unfähig; er beobachtet im Gegenteil das „Strömen“ der Liebe durch seine Männer und Frauen. Sie können sie nicht festhalten, nicht begreifen, nicht einmal sprechen. Aber sie können auch zu keinem Augenblick so leben, als gäbe es sie nicht. Sowenig seine HUSBANDS einen schnellen Fick mit ein paar Prostituierten hinkriegen, sondern erkennen, daß es gar keine menschlichen Berührungen ohne dieses verdammte Suchen nach Verstehen und Glück gibt, sowenig können seine Frauen auf ihre Liebe verzichten, nur weil Männer oder Kinder als „Gegenstände“ dieser Liebe zugleich die Ursachen allen Leides zu sein scheinen.

Dass die Männer in HUSBANDS nach dem Tod ihres Freundes nach London fliegen, nicht um sich bloß zu amüsieren, sondern um tatsächlich so etwas wie Liebe zu finden, ist in Amerika als Skandal empfunden worden. „Besonders in den USA fand man das unmoralisch“, sagte Cassavetes in einem Gespräch mit Georg Alexander, „einfach weggehen und jemanden suchen, der einen liebt. Mit jemandem ins Bett zu gehen ist in Ordnung. Man kann alles machen, nur nicht lieben. Deshalb war dieser Film auch so wenig erfolgreich beim Mittelstandspublikum – also bei den Leuten, die der Film zeigt. Ich gehöre selbst zum Mittelstand, und ich bin stolz darauf.“

Wie kann man stolz darauf sein, dem Mittelstand anzugehören? Oder ist jemand, der sich überhaupt bewußt ist, diesem mittleren Stand anzugehören, überhaupt noch ein Mittelstands-Mensch? Cassavetes erforscht diesen Stand in den Gestalten, die seine Schauspieler und Freunde aus sich herausarbeiten. Aber in gewisser Weise erfindet er diesen Mittelstand auch, gleichsam um eine „ideale“ Schnittstelle zwischen Mensch und Gesellschaft, zwischen Lieben und Macht zu erzeugen.

Cassavetes‘ Menschen sind mit ihrem Leben überfordert; sie können nicht werden, wer geboren zu sein sie glauben, und sie können nicht bleiben, wozu verdammt zu sein sie denken müssen. So ist ihr Leben eine Abfolge von immer kleineren und immer grausamer scheiternden Revolten, und die Bilder, die sie der Liebe geben wollen, die durch sie hindurchströmt, werden immer grotesker und schließlich immer genauere Bilder der Unmöglichkeit der Liebe.

Das Leben wird stets durch den Tod erfahren. HUSBANDS beginnt mit einem Tod, den niemand recht versteht. Um ihn zu verdrängen, unternehmen die drei Ehemänner Gus, Archie und Harry zuerst eine Sauftour, und weil die nicht bewerkstelligen kann, daß es wieder so ist, wie es einmal war, weil es nie so war, wie es hätte sein sollen, fliehen sie weiter, aus Amerika nach London. So weit weg, müssen sie erkennen, daß sie sich nicht entfliehen können, und kehren zurück. Da kaufen sie Geschenke am Flughafen; zuerst sieht das aus wie eine hilflose Geste der Entschuldigung oder auch der „Normalisierung“. Aber mit solchen Dingen drücken sie auch noch aus, daß sie Liebe brauchen, und töten sie zugleich in der Austauschbarkeit der schäbigen Zeichen dafür ab.

Mabel Longhetti in A WOMAN UNDER THE INFLUENCE begeht dieselbe ebenso unverzeihliche wie unabwendbare Sünde. Immer wieder sagt sie, wie sehr sie die Menschen liebe, und verrät damit doch, dass sie nicht weiß, wie das geht. Um ihrem Mann zu zeigen, daß sie ihn liebt, drückt sie sich in so allgemeinen (und dabei „übertriebenen“) Zeichen von Freundlichkeit, Glück und Wohlbefinden aus, dass ihre „Krankheit“ nur umso deutlicher werden muss. Auch hier ist die Mitte des Geschehens ein Zeichen des Todes: Mabel unternimmt einen symbolischen Selbsttötungsversuch; danach, sollte man meinen, müsste doch alles ganz anders werden. Aber es kommt nur eine erschöpfte Ruhe über die beiden Menschen, deren Liebe aneinander vorbeiströmt. Man macht den Abwasch, man räumt auf, man wird zu Bett gehen: All diese kleinen, unerträglichen Dinge des Alltags erscheinen plötzlich auch wie ein kleiner Trost. Es gibt etwas, was noch schlimmer ist als das Leben, das ist der Tod.

Die „Anpassung“, jene scheinbar so gewöhnliche Lösung des Konfliktes zwischen Individuum und Gesellschaft, zeigt Cassavetes in seinen Filmen gewissermaßen in Großaufnahme. Und es wird klar: Anpassung als Lebenslinie kann imgrunde so wenig funktionieren wie die Revolte. Denn die Gesellschaft befiehlt nicht noch ist sie für den einzelnen so etwas wie ein fairer Handelspartner: sie fließt durch die Menschen, so wie sie von der Liebe durchströmt werden.

„Es ist mir scheißegal, ob du spinnst!“ sagt Nick zu Mabel, und was der Versuch ist, sich irgendwie zu einem geliebten Menschen zu bekennen, ist zugleich ein soziales Todesurteil. Cassavetes beschreibt in seinen Filmen Menschen in einer aussichtslosen Double-Bind-Situation. Was sie tun, wird falsch sein und bestraft werden; die Gesellschaft und der Mensch beginnen einander auszuschließen. Die Figuren seiner Filme wollen haben und können nicht loslassen: so beginnt die lange Liebesgeschichte, die Cassavetes in allen seinen Filmen erzählt, so beginnt sie, in SHADOWS ( 1960), wo ein Mann seine Zuneigung zu einer Frau mit der Furcht vergiftet, eine andere zu verlieren, und so endet sie, in LOVE STREAMS (1984), für das nun schon geschwisterlich gewordene Paar, tödlich.

In seinen Figuren beschreibt Cassavetes eine Gesellschaft, die nicht einmal mehr die Tragödie zuläßt oder die, genauer gesagt, die Tragödie zum Alltag gemacht hat. Der Regisseur benutzt dazu das Mittel einer besonderen Art der Autobiografie. Seine Helden sind immer ebenso alt wie er selber und seine Frau, und sie befinden sich in derselben Lebenssituation.

Die unwiederholbaren theatralischen Ereignisse, die Cassavetes zu etwas macht, das wir in Ermangelung anderer Worte Filme nennen, scheinen mir der vollendete ästhetische Ausdruck der nun schon wieder fast vergessenen „Anti-Psychiatrie“, und selbst wo Cassavetes sich dem Genre-Kino wieder annähert, wirken seine Drehbücher, als hätte sie ein Ronald D. Laing geschrieben, der endgültig die Grenzen zwischen Therapie, Leben und Kunst, aber auch die zwischen dem Wort und dem Bild niedergerissen hat. Dabei helfen ihm Darsteller wie Ben Gazzara, Peter Falk, Gena Rowlands oder Seymour Cassel, deren Aura die „schizoide Persönlichkeit“ transzendiert: Sie alle sind, wenn man so will, im Freudianischen Universum als „Verrückte“ beschreibbar; im Universum der Antipsychiatrie hingegen beschreiben sie die Verrücktheit der Welt, in der sie leben.

Diese Welt ist vor allem Amerika. Aber Cassavetes vergrößert dieses Amerika auf die unterschiedlichste Weise. Denn in jedem Amerikaner steckt ja ein verschütteter Europäer, ein verschütteter Asiate, ein verschütteter Afrikaner mit einem verschütteten kulturellen Erbe. Cassavetes, der in Paul Mazurskys schöner Shakespeare-Variation TEMPEST den verschütteten Griechen in sich zum Vorschein bringt, spricht von Menschen, die jenseits ihres Amerikanertums eine zweite Identität haben. Es ist nicht unwichtig, dass Nick und Mabel noch ein paar Rudimente einer italienischen Kultur aufbewahren, und sei es eine Verpflichtung zum Spaghetti-Kochen; es ist nicht unwichtig, daß Gloria einen Latinojungen adoptieren und für ihn zur Killerin werden muss; es ist nicht unwichtig, dass Mini ,jemanden wie Moskowitz treffen muss; es ist nicht unwichtig, daß Cosmo Vitelli einen chinesischen Buchmacher ermorden muss. Es ist nicht einmal Zufall, dass das Mädchen, an das sich Peter Falk in HUSBANDS heranmacht, Noelle Kao, eine Asiatin, ist.

Was nutzt es Cassavetes‘ Figuren, daß sie noch eine verschüttete kulturelle Identität haben? Fast nichts. Es ist noch einmal eine Last der Entfremdung, ein Teil der individuellen Geschichte, dem man das Scheitern der Anpassung anlasten könnte. Es erhöht vor allein auf merkwürdige Weise die Gewissheit ihres Seins: Cassavetes‘ Menschen überkommt periodisch die panische Erkenntnis, dass sie wirklich existieren. Ihr so exemplarisches Scheitern, die Unabänderlichkeit der Tatsache, daß es tausend andere Menschen wie sie selbst gibt, korrespondiert mit der Erkenntnis, dass jeder Mensch ein unwiederholbares historisches Ereignis ist. So mag man sich also zu Tode anpassen und ist doch immer noch einsam.

Cassavetes‘ Methode

Daß Cassavetes‘ Filme die Umsetzung der Ideen einer revoltierenden Wissenschaft der Seele sind (jedenfalls insofern sie, wie es gelegentlich heißt, die Filme eines „Intellektuellen“ sind), hat seine Entsprechung in seiner ästhetischen Technik. Er erarbeitet seine Filme mit den Schauspielern, sie sind zu einem nicht unbedeutenden Teil Autoren ihrer Rollen. Damit werden sie zugleich etwas anderes als „Stars“, sie nehmen „Gestalt“ an. Das heißt, sie sind weder ganz das Instrument eines Autors noch ganz die Apotheose von Genres noch sind sie, wie die klassischen Stars, Mittelpunkt eines eigenen Universums.

Wollte man Cassavetes‘ Karriere als Regisseur beschreiben, ließe sie sich, ganz grob, in drei Phasen einteilen. Am Beginn standen die Filme, die sich radikal von Hollywood abwandten, und vergebliche Versuche, sich, wie in A CHILD IS WAITING, zu arrangieren. Die radikalsten Versuche wie FACES und, auf ganz andere Weise, SHADOWS, gewissermaßen als „Familienunternehmen“ entstanden, begründeten ein armes, intensives, naturalistisches Menschen-Kino, dem kaum jemand folgen konnte und das auch heute relativ schwer zugänglich wirkt, weil die Annäherung selbst alle unsere Kraft benötigt. Woran wir uns annähern, erlebt uns bereits erschöpft. Dabei erscheint FACES zugleich so etwas wie eine apokalyptische Vorahnung und ein letzter Versuch, gleichsam einen Rest von Distanz zu wahren. Die Menschen in FACES, die sich betrügen und sich hassen, die dann so leer und trostlos auf den Stufen ihres Hauses sitzen, das sie verbinden sollte und nun beide ausstößt, zum Beispiel, können noch als Mahnung herhalten; man kann sie sogar hassen.

Die Produktionsweise der Off-Hollywood-Filme verbrauchte unüblich viel Zeit-, sie hatten ein gewissermaßen wissenschaftliches Maß zwischen der Zeit des Beobachteten und der Beobachtung. FACES ist die Geschichte einer Nacht; die Dreharbeiten dauerten sieben Monate und die Fertigstellung vier Jahre. Erzwungen durch ökonomisches Außenseitertum war das Mikroskop vielleicht ein wenig zu scharf gezogen.

Die zweite Phase sind die „klassischen“ Cassavetes-Filirie von HUSBANDS bis GLORIA, in der die Kritik einhellig positiv und sogar ein relativer Publikumserfolg zu verzeichnen war: Cassavetes‘ Filme in den 70er Jahren mochten gewiß kein Millionenpublikum erreichen, aber sie waren, wie sagt man: vermittelbar, in einer Zeit, in der der Aufruhr noch leichten Widerhall fand. Nun erzählte Cassavetes sozusagen von innen, die magische Gruppenarbeit erreichte einen Höhepunkt an Energie und Geschlossenheit. Die Liebe und die Macht flossen so spürbar durch mehr oder minder alltägliche Situationen, dass zwar die Pein des Zusehens beinahe der der Darsteller entsprechen mochte, doch Cassavetes läßt nun keine Möglichkeiten von Flucht und Distanzierung mehr zu. Das Unglück der Menschen wird zwar noch unerträglicher, aber es zu erleben wird einfacher, weil die Liebe nun auch durch den Zuschauer fließt.

Es sind diese Filme, die Cassavetes Preise und Reputation brachten; im deutschsprachigen Raum liefen einige von ihnen sogar im Kino, wie A WOMAN UNDER THE INFLUENCE als EINE FRAU UNTER EINFLUSS oder GLORIA.

Dann gab es, als sich auch Cassavetes‘ physische Kraft erschöpfte, so etwas wie ein „Spätwerk“, zwei Filme, reichlich grausam, über das Paar und den Mythos Gena Rowlands und John Cassavetes, OPENING NIGHT und (ein für mich in seiner zerfahrenen Ehrlichkeit überaus bedeutsames Werk) LOVE STREAMS, und schließlich jenes sarkastische Genre-Spiel, das die Kritiker auf die Palme, die Zuschauer aber deswegen noch lange nicht ins Kino trieb: BIG TROUBLE. Für diese seltsame Komödie über den Tod hat Cassavetes mehr kämpfen müssen als für manche seiner „echten“ Cassavetes-Filrne. Es war, denke ich, eine letzte Alberei mit dem Tod und der erste Film von Cassavetes, wo die Furcht vor dem Tod nicht mehr einen Rest von Ordnung und Kraft in ein Leben bringen kann. Der Tod ist nicht mehr der Meister des Lebens, sondern nur noch ein idiotischer Kontrakt; und weil Cassavetes, behaupte ich, zu diesem Zeitpunkt schon etwas über den eigenen Tod gewusst hat, hat er auch einen Film gedreht, der mehr und weniger zugleich tut, als DOUBLE INDEMNITY noch um ein paar Umdrehungen mehr in den Bereich von Farce und Wahnsinn zu drehen. In BIG TROUBLE hat Cassavetes gezeigt, dass der Traum vom Tod, der gar kein Tod ist, nur zum Leben zurückführt, das gar kein Leben ist. Und er hat ein paar seiner Freunde noch einmal Hallo gesagt, mit diesen zuckenden Mundwinkeln, die wir von ihm kennen, während er sich vorzustellen versucht, wie es ist, tot zu sein. Er hat es nicht gekonnt, nebenbei.

Also the Gestalter has a Gestalt

Gewiss ist es vergleichsweise einfach, Cassavetes nachzuweisen, daß er als Schauspieler keineswegs nur das Geld verdient hat, das er als Film-Autor (oder Leiter cinematografischer Events) brauchte, sondern auch das Böse (und auch das Unschuldige) aus sich herausgearbeitet hat, das in seinen „eigenen“ Filmen gestört hätte. (Das nimmt natürlich eine Reihe von Routine-Filmen und Fernseharbeiten wie seine TV-Serie „Johnny Staccato“ eher aus.) Daß er selbst die Gestalt des Todes ist, lebte er aus in der passiven Form wie in ROSEMARY’S BABY und in der aktiven Form wie in De Palmas THE FURY. Als Filmschauspieler ist er sozusagen ein geborener Todesengel, und nichts wäre verkehrter, als den „gotischen“ Schauspieler Cassavetes trennen zu wollen vom „realistischen“ Regisseur Cassavetes. Zu dem passt gerade sein „irrer“ Vitalismus, wie bei Aldrichs THE DIRTY DOZEN. Er sieht uns von der Leinwand so intensiv und zugleich so abweisend an, wie man nur unter dem Vulkan sein kann: Alkoholismus (und andere Formen kontrollierten Wahns) ist nicht sein Problem, sondern eine Methode der Wahrnehmung (die, zugegebenermaßen, stets mit dem eigenen Tod kokettieren muss), der letzte Trost, eine Welt am genauesten zu sehen, in der man sowieso keinen Platz hat.

In keinem Film, den ich kenne, spielt John Cassavetes eine „positive Rolle- (ich kenne aber nicht alle, in denen er gespielt hat), nie aber auch scheint er von jener Art des Bösen, die man bloß aus der Welt schaffen muss, und schon ist alles in Ordnung. Cassavetes eignet sich zum Heavy, zu dem Bösewicht des Gebrauchskinos, in den ein paar Ängste der jeweiligen Zeit gepackt sind, kein bisschen. Wie in TEMPEST entfesselt er Stürme, ohne seine Kraft ganz zu verstehen (und manchmal denke ich, er hat auch seine Filme so gemacht).

Wie Cassavetes selbst, so ist auch Gena Rowlands stets in einer Situation der äußersten Gefährdung zu sehen, doch wo der vom Tode gezeichnete Cassavetes vor allem für andere gefährlich wird, da zerstört sie sich in erster Linie selbst. Es sind fast alle Filme von John Cassavetes Darstellungen einer Ehe, die zugleich die von Cassavetes und Rowlands, von zwei gefährdeten Mittelständlern und von zwei intelligenten, besessenen Schauspielern ist. Die filmische Monografie einer Beziehung: vom Kennenlernen und von den schon in einem Sumpf von Beziehungen und Abhängigkeiten erstickenden Liebesgeschichten in FACES über die Erfahrung des Alltags, der Trennungen und der Verzweitlung in HUSBANDS und A WOMAN UNDER THE INFLUENCE, von den Phantasien des Mannes, ganz Mann im Ritual zu sein (und Frauen daher als Symbole zu „besitzen“) in THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE, über die Situation der Mobilisierung der (künstlerischen) Kraft und der Macht in OPENING NIGHT, eine Abschiedsphantasie in GLORIA, schließlich zum letzten, intensivsten und hoffnungslosesten Versuch, einander zu begegnen, in LOVE STREAMS – diese lebenslange Beschreibung einer Ehe (mit einem ganzen sozialen, familiären und künstlerischen Umfeld) ist als Therapieversuch ebenfalls „antipsychiatrisch“, man könnte sagen: anti-psychologisch. Denn im Gegensatz zu den Regeln des Melodrams folgen die Filme keiner Dramaturgie des Leidens und der Erlösung, und im Gegensatz zu den Beziehungsfilmen (im Gegensatz auch zu Ingmar Bergman und Woody Allen) lässt hier kritische Ironie immer den Blick hinter das Unverwechselbare auf das Gewöhnliche zum ohne damit zugleich eine Distanz vorgeblicher „Menschlichkeit“ zu erlauben. „Ich glaube wirklich, ich bin wie der Rest des Publikums auch. Wenn das nicht so wäre, würde ich keine Filme machen“, hat er einmal gesagt. Cassavetes‘ und Rowlands‘ Liebesfilme sind zugleich eine kritische Beschreibung der Liebe in unseren Gesellschaften: Das magische, antipsychiatrische Spiel wird auch zur GeselIschaftstheorie in Bildern.

Zu den ästhetischen Grundlagen dafür gehört Cassavetes‘ Methode. Jeder in seinem Film vorkommende Mensch hat den umfassenden Anspruch darauf, ernst genommen zu werden. Und mehr noch: „Für mich ist jede kleine Geschichte eines Menschen wichtig“- sagt Cassavetes, und das bedeutet auch: Alle Geschichten sind gIeich wichtig. Wenn aber alle Menschen, alle Geschichten. alle Gesichter gleich wichtig sind, dann hat der Regisseur und Autor jenes diktatorische Maß an Macht verloren, das einen Film zu einem solch statischen (und zugegeben autarken) Werk macht. Cassavetes‘ Filme beginnen zu fließen, wenn man sie häufiger sieht. Ihre Entstehung verdankt sich weder der Macht des Autors noch der Kunst der Improvisation in erster Linie: sie sind vielmehr das Ergebnis harter Gruppenarbeit, in der das Nicht-Hierarchische stets aufs neue erkämpft werden muß. Schon in der Produktion eines Cassavetes-Films wird der Kampf geführt, den die Helden des Films in ihrer Welt zu führen haben, der Kampf zwischen Macht und Liebe.

Dazu gehört auch, dass Cassavetes uns nie den Eindruck vermittelt, er wisse „alles“ über seine Figuren, er macht sie nicht allein durch abrupte Übergänge (durch eine Diskontinuität des Lichtes beispielsweise) und durch harsche Schnitte fremd, sondern führt uns mit Bedacht in Fallen: Seine Figuren tun gewiss eher selten das Außergewöhnliche, aber sie tun auch fast nie das Vorhergesehene. In ihrer Normalität werden sie immer fremder; die Teilnahme am „Normalen“ wird immer packender; das Normale steckt voller Rätsel; je weiter Cassavetes seine Mittelstands-Menschen erforscht, desto unergründlicher erscheinen sie. Das ist nun wirklich ein sehr weites Feld.

Cassavetes‘ Filme sind immer auch Filme über Räume, Städte und Gewänder. GLORIA erklärt auch die Funktionsweise einer Stadt wie New York: Sie besteht aus Straßen und Korridoren, die sachte, aber bestimmt an Orte führen, an denen man nicht mehr umkehren kann. Aber Cassavetes‘ New York ist auch eine Stadt voller Poesie, voller Natur sogar noch; sehr viel komplizierter als das Trash-New-York der Actionfilme, in dem man wirklich nur noch mit Autos herumrasen, Drogen nehmen und Leute umbringen kann. Und auch seine Gangster sind letztlich Kleinbürger. Und wenn man bedenkt, daß sie ja die ehemaligen Freunde Glorias sind, die sie jetzt ohne Bedauern umbringen würden, würde Gloria sie nicht selbst zuerst töten, kann man sich gut vorstellen, welche Funktion GLORIA im antipsychiatrischen Familienroman der Cassavetes‘ spielt. Es ist gleichzeitig eine der konzentriertesten „Erzählungen“ in Cassavetes‘ Werk und der Beginn von Auflösung. Der Familienroman nähert sich dem Ende. Zweimal hat Cassavetes seine beiden Mittelstands-Menschen als Gangster portraitiert, einmal sich selbst (Ben Gazzara hat für ihn gespielt) in THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE, einmal Gena Rowlands in GLORIA. Cosmo Vitelli aus THE KILLING OF A CHINESE BOOKIE hat seine Arbeit, die Inszenierung einer Show-Welt, zu seinem Leben gemacht. In seinem Nachtklub, der ihm allerdings nicht wirklich gehört, arrangiert er die Frauen zu Szenen wie „The Gunfight at O.K. Corral“ oder „An Evening in Paris“. Er sieht als Hauptsache für ein gutes Leben den „Stil“ an, und er glaubt, ihn zu haben, weil er sich in einer selbstinszenierten Welt so bewegen kann, wie er es braucht, um selber an seine Rolle zu glauben. Im Grunde verhält er sich dabei wie ein Künstler, wie der Künstler Cassavetes etwa, dessen Inszenierung von Leben und Kunst freilich komplexer ist. Aber dann verspielt Cosmo ganz schnell die materielle Grundlage für diesen Stil. Er wird zum Mörder, ein wenig so wie Gloria zur Mörderin wird, ein wenig wie jeder Künstler und ein wenig wie jeder Mensch, der an einen Lebensentwurf glaubt. Es ist nur bezeichnend, dass es für Cosmo (und „Vitelli“ lässt zugleich an das Leben und an den Flaneur darin denken) das „Werk“ und für Gloria (was wiederum an eine Preisung, diesmal vielleicht eher religiöser Art, denken läßt) der Mensch ist, was sie jeweils zu Mördern macht. Die Männer in den Cassavetes-Filmen vermögen es, in die Macht zu fliehen, auch wenn sie wissen, daß ihre Gesten der Macht doch immer ihre Ohnmacht offenbaren. Man schreit sich an, man zeigt seine Muskeln, man rechnet auf Hierarchien. Ihre Gewalt weiß sich im Einklang mit der Macht, nicht mehr und nicht weniger. „Sag, daß du mich liebst!“ schreit Harry seine Frau in HUSBANDS an; „Sei du selber!“ schreit Nick Longhetti zu Mabel. In diesen absurden Befehlsschreien kommt es zum Kollaps zwischen der Liebe und der Macht. Die Gewalt kann den Verlust nicht verhindern, sie macht nur nachträglich aus diesem Verlust etwas, das mit Macht zu tun hat.

Die Frauen dagegen müssen, wo sie gewalttätig werden (und das müssen sie doch, wenn ihre Versuche, alles „richtig“ zu machen, zu nichts geführt haben), gegen diese Macht ankämpfen. Daher sind sie „verrückt“. GLORIA zum Beispiel ist die Geschichte einer Frau mit einer Pistole, und Gena Rowlands hat erzählt, wie sie im Verlauf der Dreharbeiten immer stärker spürte, wie gut es tut, so eine Pistole in der Hand zu haben und sie auch zu benutzen. Die Verteidigung des Kindes gegen die Familie, gegen die männliche Gewalt, das magische Spiel mit einem Trauma im Gewande eines Genrefilms, führt zu einer tödlichen Liebesaffäre mit dem Symbol männlicher Macht schlechthin.

Was zu Cassavetes‘ Methode neben der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Figuren und Geschichten und neben der Beschreibung des sozialen Raumes gehört, ist die vollständige Abwesenheit von Selbstverständlichkeit. Es sind angestrengte Filme über angestrengte Menschen. Ben Gazzara vollführt ständig Gesten der Selbstzufriedenheit in Momenten, in denen er wissen muß, daß es zu nichts so wenig Grund wie zu Selbstzufriedenheit gibt; Peter Falk versucht in einem fort, die Welt mit den Händen zu greifen, ihre Formen zu umreißen, und genau in diesen Gesten liegt auch die Erkenntnis, dass diese Welt sich weder greifen noch in ihren Formen erklären lässt. Cassavetes selbst ist stets ein Mann, der neugierig und verwirrt seine Umgebung, die Menschen, die Frauen zu durchbohren versucht, mit Blicken, mit einem Ausbleiben von Ausweichbewegungen, mit einem Mangel an Dezenz in Blicken und Bewegungen, und zugleich ist er durchdrungen von Furcht vor Nähe. Gena Rowlands, die prototypische weiße, angelsächsische Amerikanerin des Mittelstands und zugleich der lebende Beweis dafür, dass es so etwas wie eine prototypische weiße, angelsächsische Amerikanerin des Mittelstands nicht gibt, ist nie einfach korrekt oder auch nur „passend“ angezogen, in ihren Filmen nicht und im Leben auch nicht. Sie scheint sich mit einem Zuviel an Zeichen, an Mode, Kosmetik und allerlei Krimskrams, gegen eine im Beruf und im Leben erworbene Neigung zur Ehrlichkeit, zu einer Art sozialer Nacktheit zu wappnen. Dass sie so overdressed ist, zeigt uns einmal mehr, dass man es den anderen, der Gesellschaft, den Menschen, durch die Liebe und Macht fließen, niemals recht machen kann, wenn man einmal erkannt hat, dass man es ihnen recht machen soll. Anders gesagt: „Richtiges Verhalten“ kann man nicht lernen und gleichzeitig am Leben bleiben. So ist Gena Rowlands‘ Weg der in die Ironie. Sie hat aufgehört, sich Gedanken über ihr Aussehen zu machen, als sie erkannte, daß es immer Leute gibt, die besser aussehen als man selber. Und Leute, die schlechter aussehen als man selber. Sie weiß, dass sie ein Monster ist, und es amüsiert sie. In OPENING NIGHT rettet sie das Stück, von dem sie weiß, dass es schlecht ist, in GLORIA das Kind, obwohl sie Kinder nicht ausstehen kann, in LOVE STREAMS versucht sie vergeblich, den Mann zu retten, der es nicht einmal verdient haben will, dass man in seine Nähe gelangt.

Sprechen und verstummen

In Cassavetes‘ Filmen wird immens viel geredet. Aber es sind dennoch alles andere als Dialog-Filme. Wenn etwas geschieht, dann geschieht es außerhalb der Sprache. Auch die Sprache ist ein Fluss, dem seine Helden vergeblich versuchen, Einhalt zu gebieten. Sie verdeckt so viel, reißt die Gefühlspartikel, die man gerade noch wie mit Händen greifen zu können glaubte, davon. Mit Worten ist weder die Liebe noch die Macht zu beschreiben. Dabei warten doch alle auf nichts anderes als darauf, dass jemand einmal das Richtige sagt.

Und immer wieder gibt es das gleichsam schockartige Erwachen, immer will jemand für eine Sekunde aus seiner Rolle heraustreten. „Wir machen uns alle zu Narren“, erkennt Seymour Cassel in FACES mit einem Schlag, und da ist auch die lärmende, falsche Fröhlichkeit vorbei. Doch was sollte an ihre Stelle treten? Das Lärmen, das so falsche fröhliche Spiel, die vorgetäuschte Betriebsamkeit, die Aggressivität, das Trinken – das alles sind die Ausweichbewegungen von Cassavetes‘ Helden vor den Anforderungen eines Alltags, der perfekt harmonisch sein soll und doch so katastrophal ist. Und Cassavetes gönnt seinen Figuren in den Augenblicken dieses Lärmens paradoxerweise ein wenig mehr Ruhe als in denen der tödlichen Harmonie. Aber das Lärmen kann nicht andauern, immer wieder kommt der Moment, wo eine schreckliche Stille eintritt. Selbst die Schauspielerei ist so eine Art des Lärmens – in OPENING NIGHT ist die Sucht nach Kommunikation mit dem Publikum bei Gena Rowlands so groß, dass sie ihre Freunde, den Regisseur, den Autor, den Produzenten plötzlich als Widersacher empfinden muss, ja das Theater selbst nur noch als lästige Disziplinierung sieht; all dieses Lärmen sucht nach einer unbedingten Form der Kommunikation (Cassavetes selbst spricht von der Suche nach einer „Superantwort“), die sich zumeist als für die Beziehung zum Allernächsten, der seine Möglichkeiten schon verbraucht hat, „Superantworten“ zu wagen, in höchstem Maß gefährlich erweist. Und in allen Filmen, gleichsam naturgemäß von Film zu Film noch mehr, ist das Lärmen eine Raserei gegen die Erfahrung des Alters.

Alle Figuren von John Cassavetes, egal welches Alter sie haben, sind gerade dabei, erwachsen zu werden. Das bedeutet unter anderem, die Double-Bind-Situationen zu erkennen, zu wissen, dass man gerade das Falsche tut, ohne jemals das Richtige mehr lernen zu können.

Das kann, unter anderem, geschehen, wenn jemand zur falschen Zeit glaubt, ehrlich sein zu müssen. Cassavetes erkennt in dem Impuls zur Ehrlichkeit das Destruktive; Ehrlichkeit mag zugleich Ausdruck von Liebe sein und sie vernichten. Lebenslügen brechen in Cassavetes‘ Filmen zusammen, der Alltag verliert alle Sicherheit, wenn er je welche gegeben hat. Aber Cassavetes beweist, dass dieses Zusammenbrechen der Lebenslüge, dieser Verlust alltäglicher Sicherheit, selber schon alltäglich ist. Es gibt keinen Neubeginn: die Lebenslüge war das Leben selber, und es bleibt nur, sie, noch kümmerlicher womöglich, ein wenig bescheidener bestenfalls, wieder aufzubauen. Sonst bleibt nur der Tod. Cassavetes hat den Familienroman des amerikanischen Mittelstandes nicht kontinuierlich, sondern gleichsam spiegelverkehrt gezeigt. Vor dem Entstehen der Ehe hat er ihre Auflösung gezeigt und vor der Anstrengung von Aufrechterhaltung und Rekonstruktion den Ausbruch. Der Tod steht in seiner Geschichte der Liebe und der Macht im amerikanischen Mittelstand nicht am Ende, sondern in der Mitte.

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 6/89