1: Vom Atmen der Bilder

Atmosphäre. Das ist eines jener merkwürdigen Worte mit mehrfacher Bedeutung, die erst in einem merkwürdigen Medium wie dem Kino wieder ein Ganzes meinen. Es spricht, ganz materiell, von jenem Raum um die Erde, in dem wir atmen können, ganz ideell von der Aura eines Raumes, und schließlich von der Stimmung eines Kommunikationsvorgangs. (Übrigens war früher die Atmosphäre eines Gespräches vielleicht angenehm, während heute eher die „Chemie“ zwischen zwei Politikern nicht stimmt, und auch im Kino bewerten wir gern die Chemie zwischen Stars, wenn es nicht gleich darum geht, ob es zwischen ihnen „knistert“: Physik!) Atmosphäre ist zugleich nicht sichtbar und eine Voraussetzung der Sichtbarkeit. Man kann sagen: Atmosphäre ist das Kino der Wirklichkeit.

Es ist das Unsichtbare, das durch das Sichtbare ausgedrückt wird. Die Einstellung der Kamera und ihre Bewegung auf Objekte, Architekturen, Landschaften und Personen, die uns auf der einen Seite in einer bestimmten Form vertraut sind, auf der anderen Seite uns auch etwas zu sagen haben (die also in dem Versuch gezeigt werden, ihre Fremdheit zu überwinden). Für die Kamera werden die Dinge arrangiert, um einerseits Informationen zu übermitteln, wobei Zeichen und Bezeichnetes beinahe identisch sein sollen. Das kinematografische Zeichen für Haus ist ein Haus. Zum anderen soll ‚Atmosphäre’ geschaffen werden, was nichts anderes bedeuten kann als die Illusion eines Ortes, an dem wir atmen könnten, in dem wir eine Aura fühlen oder Kommunikationsvorgänge bestimmen können, Kurzum: das Kino muss für die Dauer seiner Bewegungsbilder einen ‚bewohnbaren’ Ort schaffen. Bewohnbar, insofern er genügend Vertrautes bietet, um eine innere Ordnung zu erschaffen, und insofern er einen Vorrat an Geheimnissen birgt, die mich in Bewegung halten. An einem geheimnislosen Ort ist niemand zu Hause.

Atmosphäre im Kino bedeutet das sichere Gefühl, dass die Figuren auf der Leinwand die selbe Luft atmen, und es bedeutet die Ahnung, dass die Figuren auf der Leinwand und die Menschen im Zuschauerraum die gleiche Luft atmen könnten. Wenn wir durch Zeichen entfernt sind (in der Geschichte, im Raum), dann sind wir durch Atmosphäre verbunden.

2: Der bewohnbare Raum

Die einfachste Art, einen solchen bewohnbaren Raum für die Kamera zu schaffen, ist die filmische Imitation eines bewohnten Raumes. Eine Küche, die ungefähr so aussieht, wie die Küche bei mir zu Hause. Eine Alpenlandschaft, die ungefähr so aussieht wie die Alpenlandschaft im Reiseprospekt. Afrika, das so aussieht wie das Afrika der Tarzan-Comics. Ein bewohnbarer Raum erzeugt, wie man sieht, den anderen bewohnbaren Raum der Imagination. Die filmische Rekonstruktion des bewohnbaren Raumes fungiert also über eine gewisse Illusions- und Abbildungskette. Afrika sieht in meinem Kinotraum aus wie das Afrika der Tarzan-Comics, weil es in meiner Küche so aussieht wie es in meiner Küche aussieht. Und wenn umgekehrt Afrika nicht mehr so aussehen kann, wie in meinen Träumen, dann sieht meine Küche aus wie die in der „Lindenstraße“ (und beginnt mir unheimlich zu werden).

Der „erfahrene“ Raum verhält sich zur ersten Imagination wie die erste Imagination zur zweiten.

R/B1 = B1/B2

Die Erfahrung verhält sich zur Erwartung wie die Erwartung zur Konvention

Erf/Erw = Erw/K

Hat meine Küche eigentlich Atmosphäre? Natürlich, insofern meine Küche jene Atmosphäre imitiert, die als innere und äußere Sonnenduchflutung im Möbelprospekt inszeniert war. Und natürlich, weil ich in dieser Küche lebe und mein Leben in ihr Spuren hinterließ – mögen sie auch der Sonnendurchflutung und gelegentlich der Funktionalität widersprechen, für die ich sie eingerichtet habe. Ersetzt also jener Textilstoff die nicht vorhandene Sonne, und kommentieren die Flecken darauf ihr Fehlen, zum Beispiel?

Zweifellos gibt es also sowohl ein Zuwenig als ein Zuviel an Atmosphäre, im Leben wie im Kino. Zuviel Atmosphäre, zum Beispiel, wird ein Problem für das Drama.

3. Zeichen

Das Zeichen, sagt der Set-Designer (und der hat so seine Erfahrungen), muss eine gewisse Klarheit behalten. Die Zuschauer beklagen sich immer wieder darüber, dass die Möbel und die Kleider im Film so aussehen, als wären sie gerade neu gekauft und würden nie Flecken bekommen. (So wie Frauen im Film drei Tage durch die Wüste wanken und danach aussehen als kämen sie aus dem Frisiersalon.) Flecken, sagen die Zuschauer, machen Atmosphäre. Spuren des gelebten Lebens. In Wirklichkeit hassen sie Filme, in denen Möbel und Kostüme zu viele Flecken haben. Ausgenommen Blutflecken. Blutflecken sind reine Zeichen. (Und Frauen, die nach drei Tagen Wüste aussehen wie nach drei Tagen Wüste sehen im Kino vor allem nach dem Ehrgeiz der Maske aus.)

Wir werden Atmosphäre im Film-Bild nach mehreren Kriterien beurteilen:

1. Das Gegebene. Die Aura eines vorgefundenen Ortes

2. Das Gewordene. Die Spuren der Geschichte und der Geschichten.

3. Das Gemachte. Der Versuch des Menschen, sich einen Raum/eine Situation „mit Atmosphäre“ zu erzeugen.

4. Das Geträumte. Die Verlängerung der Atmosphäre (von einem geschlossenen zu einem offenen Raum).

Atmosphärisch ist das Zeichen, wenn es nach einer Verbindung mit anderen zu einem System sucht. Es muss daher nicht nur anschlussfähig, sondern in gewisser Weise offen sein.

Jedes Syntagma eines Films (Bild-Element, Bild, Einstellung, Sequenz etc.) mag auf seine „Bedeutung“ hin befragt werden, ebenso aber auch auf seine Beziehung zur Atmosphäre.

Wir haben damit gewiss noch keine Theorie der kinematografischen Atmosphäre, wohl aber erste Kriterien für die Erzeugung bzw. für die Kritik des Atmosphärischen (oder seines Fehlens).

4: Spuren

Das Ding vor der Kamera dient der Atmosphäre, wenn es glaubhaft macht, dass es nicht für die Einstellung erzeugt wurde, sondern eine Geschichte hat. Natürlich ist das in aller Regel durch die Konvention zu bewerkstelligen: Ein Revolver in einem Western hat die Gebrauchsspuren der Revolver aus anderen Western. (Aber: Da wir gerade dabei sind: Große Western-Stars wussten sehr genau, warum sie Lederwämse, Revolvergürtel oder Hüte mehrfach verwendeten, nicht um sich zu uniformieren wie Tom Mix, der immer das gleiche immer neu anhatte, sondern um zwischen dem eigenen Körper und dem Requisit eine Vertrautheit zu erzeugen, die beidem die Dimension der gemeinsamen Raum-Zeit überträgt. – Also Atmosphäre.)

To be continued

Bilder: getidan

Text erschienen:  Das Schönste an Deutschland ist die Autobahn – Das Georg-Seeßlen-Blog